Hagen. Die Düppenbeckerstraße ist die sündige Meile Hagens. Warum befindet sich das Bordell hier? Hier wurde erotische Geschichte geschrieben.
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Die meisten, die in Hagen wissen, dass sich die offizielle Bordellstraße in der Düppenbeckerstraße befindet, werden die Lage nicht weiter hinterfragen. Die Einmündung der Volmestraße gegenüber des Närrischen Reichstags ist eben die sündige Meile der Stadt mit ihren quietschrot oder knallorange gestrichenen Häusern.
Die Gasse liegt an normaler Wohnbebauung, grenzt an eine Möbelspedition und befindet sich am Fuße des Kratzkopfes. Mitten in der Stadt und doch irgendwie baulich verborgen. Ganz so, wie es mancher Freier, der vorbeikommt, möglicherweise bevorzugt.
Warum liegt das Bordell eigentlich hier? Und was hat es damit auf sich, dass hier erotische Geschichte geschrieben wurde?
Mit Daumen und Zeigefinger fährt sich der Mittsechziger durch den rauschigen Bart. „Kein Name“, murmelt er. Soll heißen, er will nicht genannt werden. Er ist zunächst sehr wortkarg unterwegs, spricht höchstens Dreiwort-Sätze. „Schon lange“, ist die Antwort auf die Frage, wie lange er so nah an der Düppenbeckerstraße wohne.
„Nichts Besonderes“, entgegnet er auf die Frage, wie das so neben einem Bordell sei. Redseliger wird er aber beim Thema Müll. „Die machen nämlich jede Menge Dreck.“ Er meint die Besucher der Straße. „Ansonsten alles normal.“
Eine Wahrnehmung, die man auch in einem Hinterhof hat, der an die Düppenbeckerstraße grenzt. Man sieht den Eingang der Bordellstraße von hier. Ein Mann liegt unter seinem Auto und werkelt am Motor herum. Eine Gruppe Kinder kickt und eine Dame hängt Wäsche auf.
Sprechen möchte keiner. Nur die Kinder sind argwöhnisch, was ein Reporter hier will. Das empfinden sie wohl als merkwürdiger als den Betrieb nebenan. Gleiches Bild in der Buschhofstraße und in der Oberen Wasserstraße, die im hinteren Bereich an die Bordellstraße grenzen, die dazu mit einer Mauer abgegrenzt ist. Keiner möchte seinen Namen nennen. Allgemeiner Tenor: „Das Ding war doch schon immer hier.“
Zügig wird klar, dass nicht die Nähe zum Bordell erwähnenswert ist, sondern die Lage des Bordells. Spurensuche in politischen Protokollen. Man findet nichts Offizielles über eine Ansiedlung der Häuser.
Im Stadtarchiv wird man etwas fündiger. Archivar Andreas Korthals meldet nach interner Recherche zurück: „Einen Beschluss zur Prostitution bzw. zu Bordellen habe ich nicht gefunden. Gefunden habe ich eine Klage gegen die Errichtung der allseits bekannten Mauer in der Straße. Der Rat der Stadt hatte im Dezember 1963 den Bau der Mauer beschlossen wegen der Bordelle in den Häusern 1 bis 8. Offenbar gibt es dort seit mindestens 60 Jahren Bordelle.“
Die Mauer gibt es heute - immer noch. Sie trennt den Bordellbereich von der restlichen Wohnbebauung in den angrenzenden Straßen ab.
Die Straße muss offenkundig einst bewusst von den Stadtvätern als Bordellstraße auserkoren worden sein. Das Stadtarchiv hat dazu zwei alte Aufnahmen aus den 30er-Jahren mitgeschickt. Der Straßenverlauf und die Lage sind im Vergleich zu heute klar erkennbar. Allerdings bestimmen Fachwerkhäuser die Szenerie. Auf einem der Bilder sieht man im Hintergrund die Kuppel der alten Stadthalle, die einst dort stand, wo sich heute das Cinestar-Kino befindet. Menschen flanieren, Kinder spielen.
„Es hat noch niemand historisch dazu gearbeitet“, sagt Ralf Blank, Chef-Historiker der Stadt: „Aber wenn ich es recht entsinne, dann hat es seinerzeit Bestrebungen gegeben, die Prostitution aus dem Bahnhofsbereich an der Kölner Straße wegzuholen und in einem speziellen Raum stattfinden zu lassen.“
Illegale Prostitution eindämmen
Das deckt sich mit den Erzählungen, die Carsten Rohleder zugetragen wurden. Rohleder ist Hausbesitzer in der Düppenbeckerstraße und überblickt als Vermieter einen längeren Zeitraum der Bordellgeschichte. „Das muss 1954 oder 1956 gewesen sein. Da ist die Stadt auf den damaligen Besitzer der Häuser in der Düppenbeckerstraße zugekommen“, sagt Rohleder.
Ziel der Stadt: Prostitution im Stadtgebiet bündeln, sie aus anderen Teilen der Stadt heraushalten und den Prostituierten einen geschützten Raum bieten. „An der Treppenanlage an der Düppenbeckerstraße lag damals ,Das Treppchen‘, wo sich die Größen der Szene getroffen haben. Das wurde dann zugemacht, als die Düppenbeckerstraße offiziell Bordellstraße wurde“, so Rohleder.
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Ein erotisch-historischer Ort
Ziel damals wie heute: Illegale und verstreute Prostitution eindämmen und letztlich auch kontrollierbar halten. Ein Modell, das - so betonten Stadt und Hausbesitzer in der Vergangenheit stets - in Hagen gut funktioniere. Es herrscht kein überbordender Kontrolldruck, weil die Betreiber bzw. Besitzer sich an die Regeln und Gesetze halten - zumindest in der Düppenbeckerstraße. Was in illegalen Wohnungen vor sich geht, ist hier ausgeklammert.
Ein erotisch-historischer Ort ist die Düppenbeckerstraße noch dazu. Denn hier fand seinerzeit eine der ersten Peepshows Deutschlands statt. Willy Lehmacher, der 1902 in Hagen geboren wurde und später nach einer Lehre als Bankkaufmann Vertreter bei einer Kölner Werkzeugfirma wurde, hat diese Momente festgehalten.
Lehmacher, der zu Beginn der 1930er-Jahre aus seinem Hobby einen Beruf machte und einer der ersten hauptberuflichen Pressefotografen Deutschlands wurde, hat in Hagen zahlreiche Momente größerer und kleinerer Stadtgeschichte festgehalten. Die Lehmacher-Sammlung umfasst mehr als 500.000 Negative und wurde dem Stadtarchiv übergeben.
Die erste Peepshow in Hagen
Aus diesem Negative-Schatz hat Ralf Blank, Leiter der historischen Dienste in Hagen, der Stadtredaktion eine Lehmacher-Momentaufnahme zukommen lassen, die eine komplett nackte Dame auf einer Liegefläche in Leoparden-Optik zeigt. Im Hintergrund sind jene Kabinen zu sehen, die in den klassischen Peepshows in einer U-Form um den Showraum herum gebaut waren. Nach Münzeinwurf oder durch eine Art Bonuskarte wurde der Blick auf die Darstellerinnen in der Raummitte freigegeben. In den 70er-Jahren brummte das Geschäft mit dem Sehschlitz-Voyeurismus deutschlandweit. Das Minutenglück der Spanner ließ zahlreiche neue Peepshows aus dem Boden schießen.
Die Sommerserie „Schätze am Wegesrand“
In der großen Sommerserie der Hagener Stadtredaktion erzählen wir die Geschichten von außergewöhnlichen Häusern und Landmarken: Viele haben sie vielleicht schon einmal am Wegesrand entdeckt, wissen aber nicht, was sich dahinter verbirgt. Folgende Teile sind bereits erschienen:
- Bahnhof Hagen-Dahl: Wohnen, wo die Züge rollen
- Pavillon in der Hagener City - das Reisebüro schließt, und dann?
- Blau-Weißes Haus am Tücking: Dort wohnt gar kein Schalke-Fan
- Leben wie im Märchen: Ein Besuch auf dem Waldhof in Hagen-Tiefendorf
- Historisch: Ein Blick in die gelbe Villa in Hohenlimburg
- Das unerreichbare Haus: Es wurde bei der Eingemeindung vergessen
- Liebe auf den ersten Blick - und neues Leben im Haus der Ruhrkohle
- Wie aus Grimms Märchen: Das Haus Ruhreck - und seine Rettung
- Winziges Häuschen am Hasper Straßenrand - welche Geschichte steckt dahinter?
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Ein Urteil bedeutet das Ende
Im Dezember 1981 fiel ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts: Die Zurschaustellung nackter weiblicher Körper bei einer Peepshow verstoße demnach gegen die guten Sitten und verletze die Menschenwürde der Darstellerinnen. Peepshows seien daher in Deutschland nicht genehmigungsfähig. Im ganzen Land gingen die Ordnungsbehörden anders bei der Interpretation des Urteils vor. Die bisherigen Peepshows genossen meistens Bestandsschutz. Wurden umgebaut oder erweitert. Wurde geplant, neu zu eröffnen, so wurde dies nicht mehr genehmigt.
Am Ende aber trug die Digitalisierung entscheidend dazu bei, dass Peepshows verschwunden sind. Die letzte in unmittelbarer Umgebung schloss 2014 in Bochum. Pornographie und erotische Inhalte sind heute binnen Sekunden im Internet abrufbar.