Hagen. . 70 Jahre ist Karin Reitemeyer heute alt. Jahrzehntelang hat sie in der Düppenbecker Straße in Hagen als Prostituierte gearbeitet. Heute ist sie das, was sie selbst als Puff-Mutter bezeichnet. Ein Gespräch über die Rotlichtwelt an der Volme.

Mit wie vielen Hagener Männern Karin Reitemeyer Sex hatte, kann sie nicht mehr sagen. Scherzhaft antwortet sie auf diese Frage: „Mit jedem.“ Reitemeyer war Prostituierte in einer Zeit, als die Düppenbecker Straße zu den besten Bordell-Adressen Deutschlands zählte. Heute ist die 70-Jährige das, was sie selbst eine Puff-Mutter nennt. Sie erzählt. Von den Hoch-Zeiten des Hagener Rotlichtbezirkes, als die Männer zwei Stunden Schlange standen bis sie dran kamen. Von der Zeit, als der Kiez Deutsch sprach. Und von den schweren Gesprächen, in denen Prostituierte keine Freudenmädchen, sondern verzweifelte Familienmütter sind.

Büro und Lebensort zugleich

Es ist sehr warm hier drin. Die Heizstrahler bollern warme Luft in den Raum, der Büro und Lebensort gleichzeitig für Karin Reitemeyer ist. Draußen vor der angelehnten Tür stöckeln leicht bekleidete Damen entlang. Es ist 14 Uhr. Und so mancher Mann nutzt die Mittagszeit, um sich zu amüsieren.

Auf dem Fenstersims hat Carsten Rohleder Platz genommen. Er besitzt in der Düppenbecker Straße die Häuser Nummer 7, 8 und 4. Die Häuser Nummer 1 und 4 betreibt er selbst, die anderen verpachtet er. Karin Reitemeyer steckt sich eine Zigarette an und lässt im Dunst des Glimmstängels Erinnerungen wach werden.

Einst eine Bordell-Top-Adresse

In den 60er- und 70er Jahren, als es noch keine Saunaclubs gab und keine Flatrate-Läden, in denen Männer für einen Grundbetrag so viel Sex haben können wie sie wollen, sei Hagen eine Rotlicht-Top-Adresse gewesen. „Die schönsten Frauen aus ganz Deutschland kamen zum Arbeiten hier hin“, sagt Carsten Rohleder.

Draußen vor der Tür parkt sein schwarzer Ferrari. Sieht eigentlich nicht so aus, als wenn das Geschäft heute nicht mehr läuft. „Nein, nein“, sagt Rohleder, ein großer Mann mit blonden Haaren, die in den Nacken fallen. „Ich fahre Ferrari, weil ich einen Im- und Export-Autohandel betreibe und solche Autos zum Verkauf anbiete.“

Das zu sagen ist ihm wichtig. Denn auch wenn es ihn nicht sonderlich stört, müsse er sich doch immer ein bisschen gegen das Zuhälter-Image wehren. Dabei gebe es einen Zuhälter in der Düppenbecker Straße gar nicht. Die Damen in den knallbunten Häusern würden eine Tagesmiete an die Besitzer oder Betreiber zahlen. Ihre Gewinne würden sie selbst behalten. Die Tagesmiete werde nachts um ein Uhr von Puff-Mutter Karin kassiert. Wer am darauf folgenden Tag weiterziehen möchte, könne das tun.

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"Goldene Zeiten" sind vorbei

Was von den goldenen Zeiten in Hagens Rotlicht-Gasse geblieben sei, seien die quietschbunten Häuser und Karin Reitemeyer. Vieles habe sich verändert. Mit der Öffnung der EU-Grenzen kamen Tausende Prostituierte aus Osteuropa in die deutschen Bordelle und hätten die Preise enorm gesenkt für ihre deutschen Mitbewerberinnen. Nicht, weil osteuropäische Damen auch mit weniger Geld zufrieden wären, sondern weil sie kein Deutsch sprechen würden.

„Und das sorgt dafür, dass sie nicht nachverhandeln können“, sagt Karin Reitemeyer, „wenn die Männer früher neben den üblichen Dingen noch richtig perverse Sachen gefordert haben, konnten wir ordentlich Geld nachverhandeln. Wenn du aber nicht sprechen kannst, kannst du nicht nachverhandeln.“

„30 Euro, alles für 30 Euro“

Was dafür sorge, dass die sprachlich eingeschränkten Damen vieles für total geringe Preise täten, um die Kundschaft nicht gänzlich zu vergraulen. „30 Euro. Alles für 30 Euro“, sagt Karin. Traurig sei das.

Nicht einen Tag lang habe Reitemeyer in ihrem Leben bereut, Prostituierte geworden zu sein. Einen Großteil ihrer aktiven Zeit hat sie an der Volme verbracht. Sie hat mit Tausenden Hagener Männern Sex gehabt. Mit jungen Männern, mit alten Männern. Mit einfachen Männern und mit solchen, die in Hagen als Prominenz durchgehen.

Mit Mitte 50 hat sie aufgehört und gehörte damit noch nicht mal zu den ältesten Prostituierten in der Düppenbecker Straße. Vor fünf Jahren erst habe die damals 70-jährige Monika aufgehört, sagt Carsten Rohleder. Und die habe in ihren letzten Jahren als Aktive keineswegs Däumchen drehend hinter ihrer Scheibe gesessen. „Da sind etliche Männer reingegangen. Und man glaubt gar nicht, wie viele junge Männer dabei waren.“

Puff-Mutter Karin will mit 70 nicht mehr aktiv mitmischen. Sie ist zur Frau im Hintergrund geworden.

Weihnachtsmarkt sorgt für Geschäft

Jetzt, da der Hagener Weihnachtsmarkt eröffnet habe, beginne für sie und die Damen in der Düppenbecker Straße eine geschäftige Zeit. „Ich gehe hier rum, spreche mit den Mädchen und kümmere mich um sie.“ Mehr noch als nur die Miete zu kassieren, ist Reitemeyer Gesprächspartnerin und Psychologin. Oft führt sie Gespräche mit Prostituierten, die im wahren Leben verzweifelte und in Geldnot geratene Mütter sind. So oft hört sie Schicksale hinter den Fenstern, die sie selbst bewegen und mitfühlen lassen. „Oft können die Frauen ihre Miete gar nicht bezahlen, weil das Geschäft nicht so gut läuft“, sagt Carsten Rohleder.

Frau mit richtigem Gespür

„Ohne Karin wäre hier vieles komplizierter“, sagt er. Eine Frau könne viel besser mit Frauen sprechen und eine Frau gehe auch noch mal ganz anders mit störenden Gästen um, wenn manche Herren mal wieder meinen, sie müssten die Mädchen wie Dreck behandeln.“

Seit dem Tod der Afrikanerin „Eunice“, die vor fünf Jahren in der Düppenbecker Straße ermordet wurde (Rohleder: „Wegen 30 Euro und einem Handy. Unvorstellbar“) sind die Sicherheitsvorkehrungen extrem verschärft worden.

Afrikanerinnen arbeiten hier aktuell übrigens nicht. Das habe mit der Hysterie um Ebola zu tun, wie Rohleder sagt. „Die Kunden wollen deswegen aktuell keine Afrikanerinnen.“