Ruhrgebiet. Ein Jahr nach der Jahrhundertflut vom Juli 2021 ist im Ruhrgebiet die Welt noch nicht überall wieder in Ordnung. Die Angst vor dem Wasser bleibt.

In diesen Tagen wird viel gefeiert. Nicht ein Jahr Flut, da gibt es keinen Grund. Aber Dankfeste, Einweihungspartys, Bootstaufen. Dabei ist auch im Ruhrgebiet 365 Tage nach dem verheerenden Hochwasser vom Juli 2021 noch lange nicht alles wieder fertig, nutz- oder gar bewohnbar.

Sie haben alle Helfer eingeladen und die „Nachbarn, die auch unter Wasser waren“, Mülheim-Mintard will sich bedanken. Für die Gäste haben sie einen Film gemacht, unter die schlimmsten Bilder legten sie Musik. „Die perfekte Welle“ wollten sie nicht nehmen, sagt einer, haha: Manchmal können sie schon wieder lachen, die ersten Erinnerungen werden zu Anekdoten. Weißt du noch, wie der Manni im Tor zum Sportplatz eingeklemmt war, hinter sich die Ruhr und vor sich den Bach? Und das nur, weil er die Schlüssel zum Vereinsheim holen wollte, dabei steckten die in den Schuhen, die er vorsichtshalber ausgezogen hatte oben am Hang. Und die Fische aus dem Schlossgraben von Hugenpoet, die über den Sportplatz schwammen, „aber der Grill war ja auch weg“. Wisst ihr noch, wie wir spotteten über den einen, der Sandsäcke holen wollte; wie wir versuchten, die Blumenkübel einzufangen?

Aber es ist ja eigentlich alles nicht zum Lachen.

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Es war einmal ein Sportplatz: Die Anlage von Blau-Weiß Mintard in Mülheim wurde komplett überschwemmt, Platz und Vereinsheim mussten erneuert werden.
Es war einmal ein Sportplatz: Die Anlage von Blau-Weiß Mintard in Mülheim wurde komplett überschwemmt, Platz und Vereinsheim mussten erneuert werden. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Mülheim

„Wann kommt die Flut“, singt Joachim Witt jetzt im selbstgeschnittenen Video. Sie kam am 15. Juli, so heftig wie noch nie seit der Bombardierung der Möhnetalsperre 1943, erzählen sie in Mintard. Überspülte die Wohnung von Gerkes, die danach acht Monate im Wohnwagen lebten. Die der Berns’, die mit ihrem kleinen Kind von Haus zu Haus zogen, bis sie erst im März wieder einziehen konnten in ihr zuvor völlig entkerntes eigenes. Das Souterrain bei Momms, wo alles raus musste: „Estrich, Fliesen, Leitungen, Toilette, Heizung.“ Es gibt bis heute keine neue.

Immer noch Baustelle: ein Wohnhaus „Durch die Aue“ in Mülheim-Mintard.
Immer noch Baustelle: ein Wohnhaus „Durch die Aue“ in Mülheim-Mintard. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Sie sahen das Wasser kommen überall im Ruhrgebiet, dabei war es gar kein Wasser. Es war braune Brühe, oder „eine schwarze Wand“. Sie sahen ihm zu „wie einem Weltwunder“, „man weiß ja nicht, wohin damit“, sagt Fred Momm. „Das Szenario gab’s gar nicht.“ So hilflos seien sie gewesen, dass sie „nicht mal erschrocken“ sind. Den ersten Rettern sagten sie noch „nein, danke“, am Ende flohen sie in Schlauchbooten aus der Straße „Durch die Aue“, wo gar keine Aue mehr war. Aber am Tag darauf „ein Müllberg“. Sie haben geackert, gewerkelt, einander geholfen seither, bloß: „Nichts wird fertig.“ Die Rechnungen steigen in die Hunderttausende, bis zu fünfstellig sind auch die für den Strom – obwohl das Hochwasser auch die Zähler mitgerissen hat. Die Bautrockner! „Die ziehen natürlich wie Hulle.“

Essen

Von vorn kam die Ruhr, von hinten kamen die Bäche, aus Badewannen und Toiletten sprudelte es: Das war der Moment, als die Menschen flüchteten aus Souterrains, Kellern, unteren Etagen. In Kupferdreh, in Werden, in Bergerhausen, in Kettwig, in Steele, der ganze Essener Süden liegt ja am Fluss. „Unsere Wohnung ist ertrunken“, sagte ein Ehepaar in Werden, eine Familie suchte via Ebay ein neues Haus. Betroffene Gebäude erkannte man noch lange an den offenen Türen, am Lärm der Bautrockner, auch am Gestank. Und am Müll vor der Tür. Vielen blieb nicht mehr als das, was sie am Leibe trugen, sie ahnten schon damals: Die Renovierung würde Jahre dauern. Dabei: „Man hat Angst“, sagte Katharina in Kettwig Tage später in ihren Gummistiefeln, „so noch mal zu leben.“

Das Fährhaus „Rote Mühle“ an, oder besser in der Ruhr in Essen: Das Wirts-Ehepaar musste vom Dach gerettet werden.
Das Fährhaus „Rote Mühle“ an, oder besser in der Ruhr in Essen: Das Wirts-Ehepaar musste vom Dach gerettet werden. © www.blossey.eu | Hans Blossey

Das Freibad in Steele lief über und aus, es ist bis heute geschlossen; die Sanierungskosten türmen sich auf bald zwei Millionen Euro. Die alte Schleuse in Werden wird nie wieder aussehen wie früher, zu viel Holz ging verloren, es schwamm einfach weg. Den Deilbach reparieren sie immer noch, ein Tunnel stürzte dort ein, riss einen Lkw mit. Das Wirtsehepaar der „Roten Mühle“ retteten sie vor einem Jahr vom Dach – mit dem Hubschrauber. Inzwischen läuft der Betrieb längst wieder, aber die Mauern müssen noch saniert werden, und Geld: ist noch keins geflossen. Es fehlen Gutachten und die Sachverständigen dafür, um die Anträge überhaupt zu stellen.

Witten/Hattingen

„Pegel“ am Fährhaus Rote Mühle in Essen.
„Pegel“ am Fährhaus Rote Mühle in Essen. © Funke Foto Services | Kai Kitschenberg

Sie dachten, ihr Kanu-Klub „Neptun“ sei „das Paradies“. Bevor die Flut anrauschte, bevor die Ruhr acht Boote mitnahm und den Wohnwagen. Seither haben sie Angst vor dem Wasser, das doch ihr Sportplatz war. Erst Anfang dieses Monats haben sie in Witten den Wiederaufbau gefeiert und ein neues Boot. Die Muttenthalbahn fährt wieder am Ufer entlang, aber auch das hat gedauert: Der „Bahnhof“ auf Zeche Theresia hatte schon mehr als nasse Füße, als Tief „Bernd“ von oben auch noch eine Schlamm- und Gerölllawine auf Wagen und Gleise stürzte. „Vorsicht bei der Abfahrt“ gilt erst seit Ostern wieder. Eben erst repariert ist auch der Anleger der Ruhrfähre gegenüber der Burgruine Hardenstein: 30 Tonnen wog die „Haltestelle“, sie wurde einfach abgerissen. Und in Hattingen haben sie im Juni Inspektion gemacht: 15 Brücken müssen neu gebaut, 15 saniert werden. Zwei hatte das Hochwasser ganz weggespült.

Velbert/Langenberg

Der Bahnhof Langenberg drei Tage danach: Helfer Hussein Munawar schichtet Müll.
Der Bahnhof Langenberg drei Tage danach: Helfer Hussein Munawar schichtet Müll. © FUNKE Foto Services | Alexandra Roth

Der Deilbach und der Hardenberger Bach waren schneller als die Ruhr. Und sahen aus „wie der Rhein“, wie sich ein Velberter erinnert. Sie kamen mit einem Rauschen, schon am Abend des 14. Juli. Und hinterließen Schlamm, Schutt und Schmerz. Ein Jahr danach sind sie in Velbert und Langenberg noch immer nicht fertig mit dem Renovieren. Die Segers haben schon 300.000 in ihr Haus gesteckt, im Wintergarten des Cafés bleibt hartnäckig der Schimmel. Die Heißmangel mangelt immer noch in einem brütend heißen Partyzelt, das Blumengeschäft hat eben erst wiedereröffnet, der Imbiss will demnächst neu starten, bisher wird aus einem Wagen verkauft. Eine Wirtin fürchtet, dass das „Jahrtausendhochwasser“ jetzt häufiger kommt als alle 1000 Jahre. „Die Angst – bleibt.“

Bochum

Fertig saniert: Herbert Lappe, genannt „Happy“ vor seinem Haus in Bochum-Dahlhausen.
Fertig saniert: Herbert Lappe, genannt „Happy“ vor seinem Haus in Bochum-Dahlhausen. © FUNKE Foto Services | Dietmar Wäsche

Sie nennen Herbert „Happy“ in Bochum-Dahlhausen, und seinen Optimismus hat er gebraucht. Jetzt plätschert die Ruhr wieder sanft vor seiner Tür, im Juli vor einem Jahr rauschte sie durch seinen Keller. Und durch das Wohnzimmer, durch die Küche… Tagelang schippte Herbert Lappe Schlamm, wochenlang riss er Wände heraus, entsorgte Möbel und Heizung, monatelang wohnte er mit seiner Frau im Zimmer der Enkelin. Nur einmal zeigte er kurz Schwäche: Der Mann ist 83! Und zum Glück versichert.

Für seine Nachbarn am Ruhrufer in Dahlhausen hat man gesammelt. Der Kanu-Club hat eben 15 neue Boote getauft, der Jugendtreff im Mai endlich wieder eröffnet. Museum und Gastronomie im Haus Kemnade, damals binnen 15 Minuten abgesoffen, sind vor wenigen Wochen erst neu durchgestartet. Wahrscheinlich ab September werden die Wege am Fluss saniert. „Happy“ hofft, wie alle, dass „sowas“ nicht wieder passiert. Aber, so ist er auch das Aufräumen angegangen: „Wozu soll ich mir Sorgen um Dinge machen, die ich ohnehin nicht ändern kann?“

Wieder aufgetaucht: die zerstörte „Moornixe“ im Oktober 2021. Allein die Bergung dürfte rund 100.000 Euro gekostet haben. Eine neuerliche Restaurierung des Fahrgastschiffes ist wegen der großen Schäden nicht möglich.
Wieder aufgetaucht: die zerstörte „Moornixe“ im Oktober 2021. Allein die Bergung dürfte rund 100.000 Euro gekostet haben. Eine neuerliche Restaurierung des Fahrgastschiffes ist wegen der großen Schäden nicht möglich. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Der Untergang

Diese Geschichte wurde zum Symbol für die Kraft des Wassers an jenem 15. Juli, Tausende haben sie mit angesehen: Ein treibender Baum riss die „Moornixe“, einst erstes Fahrgastschiff auf dem Baldeneysee, gebaut aus 33 Tonnen Kruppstahl, in die tosenden Fluten, sie trieb vor ein Mülheimer Wehr – und versank binnen Sekunden. Im Oktober holten Taucher sie wieder hoch, da war der liebevoll restaurierte Kahn nur noch ein Wrack, verbogen, verbeult, verrostet. Sie haben alles versucht, aber die Moornixe war tot; die Hoffnung ist wie immer als letzte gestorben. Ihre Galionsfigur, die Nixe, ist bis heute – im wahren Wortsinn – nicht wieder aufgetaucht. Und doch wird die frühere „Baldeney“ nun wiederbelebt: Sie zieht wieder an die Ruhr in Essenund dort auf die „Neue Insel“. Aber sie bleibt an Land, vielleicht als Café, sicher aber als Mahnmal für das Hochwasser.

Ausflugsschiff „Moornixe“ auf der Ruhr gesunken

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    >>INFO: FLUTHILFE VON WAZ UND CARITAS
    Schon kurz nach dem Hochwasser setzte die WAZ gemeinsam mit der Caritas eine Spendenaktion auf. Die Resonanz war überwältigend: Mehr als sieben Millionen Euro kamen binnen weniger Wochen zusammen. Mehr als 25.000 Einzelspenden gingen ein, von kleinen Beträgen bis hin zu Summen von 15.000 Euro. Die FUNKE Mediengruppe, zu der die WAZ gehört, machte mit einer eigenen Spende von 50.000 Euro den Anfang, RAG- und Brost-Stiftung schlossen sich mit weiteren Großspenden an. Mit dem Geld konnte Betroffenen im Ruhrgebiet, in ganz Nordrhein-Westfalen, aber auch an der Ahr geholfen werden.