Velbert-Langenberg. Am Donnerstag vor einem Jahr hinterließ das Jahrtausendhochwasser in Langenberg und Nierenhof eine Schneise der Verwüstung. Wir rekonstruieren.
Montag, 12. Juli 2021. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) warnt am Abend vor ergiebigem Dauerregen und informiert die Hochwasserzentralen der Bundesländer. In Nordrhein-Westfalen gehört diese zum Landesamt für Natur- und Umweltschutz (LANUV). Das LANUV meldet sich deshalb noch an jenem Abend bei den Bezirksregierungen, für Velbert ist die in Düsseldorf zuständig. Spätestens jetzt sollte eigentlich bereits die Bevölkerung informiert sein. In den folgenden Wochen aber wird sich zeigen: Zu wenige Menschen haben mitbekommen, dass dringlich gewarnt wird.
Die dramatische Lage zeichnet sich ab
Am nächsten Tag, Dienstag, 13. Juli, zeichnet sich bereits ab, wie dramatisch die Lage werden könnte: Die nordrhein-westfälischen Talsperren sind wegen des unnachgiebigen Regens vollends gefüllt. Die Situation ist ernst. Und der Deutsche Wetterdienst veröffentlicht eine alarmierte Meldung: Es sei mit extremen Unwettern zu rechnen.
Der Wetterdienst warnt vor extremem Unwetter
Der verhängnisvolle 14. Juli. Der DWD warnt erneut vor extremem Unwetter und stellt fest, dass wegen der enormen Regenmenge (erwartet werden 100 bis 180 Liter pro Quadratmeter) auch kleine Bäche über die Ufer treten und Straßen überflutet werden könnten. Am frühen Abend dieses Tages kauft Stephan Simmet, Vorsitzender des Bürgervereins Nierenhof (BVN), beim Bonsfelder REWE ein. „Als ich auf dem Parkplatz stand, habe ich gedacht: Was rauscht denn hier so? Dann habe ich den Deilbach gesehen – der sah aus wie der Rhein.“
Ein ungeklärtes Schicksal
Es kann nur einige Minuten später gewesen sein, als Vera Muratovic-Jäger bemerkt, dass es in Langenberg zur Katastrophe kommen wird. Die Inhaberin des Cafés Milchkännchen macht gerade ihrem letzten Kunden einen Kaffee, als sie das Wasser aus der nahe gelegenen Mühlstraße „schießen“ sieht, wie sie sagt. „Innerhalb von Minuten stand dann hier alles unter Wasser.“ Der Kunde, ein Stammgast um die 80, macht sich noch auf den Weg nach Hause. „Früher ist er jeden Tag gekommen, seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen“, sagt Muratovic-Jäger. „Ich frage mich noch heute, ob ihm etwas zugestoßen ist.“
Innerhalb von 30 Minuten stand alles unter Wasser
Etwa zur gleichen Zeit klingelt bei Anita Klose das Telefon. Die Inhaberin des Blumengeschäfts Peschel ist zu Hause, sie wohnt auf einem Berg und hat von der schwierigen Situation in der Altstadt noch gar nichts mitbekommen. Am anderen Ende der Leitung: Mieter aus Peschels Haus im Langenberger Stadtkern. „Sie haben mir und meinem Mann gesagt, der Bach stünde sehr hoch und die Mülltonnen im Flur seien umgefallen. Wir sind dann sofort gekommen. Innerhalb von 30 Minuten stand alles unter Wasser, wiederum 15 Minuten später konnten wir die Tür nicht mehr öffnen und sind durch ein Fenster hinausgeklettert. Das ging so schnell – es war wie eine Sturmflut an der Nordsee.“
Noch schnell eine weitere Pumpe gekauft
Zurück nach Nierenhof: Friedhelm Seger wohnt seit Jahrzehnten im Ort. Und sein Haus, in dem neun Parteien leben, steht im vom Land NRW errechneten Überflutungsgebiet. Er weiß also, dass es – sollte es hart auf hart kommen – von Wasser umringt sein könnte. Deshalb hat Seger jahrelang vorgesorgt: Die Gullys am Haus lassen sich automatisch verschließen, die Bepflanzung im Uferbereich ist dicht, es gibt in der Theorie viel Versickerungsfläche. Außer-dem hat Seger eine einhundertprozentige Elementarversicherung. Und: In seinem Keller stehen zwei Pumpen, die 24 000 Liter in einer Stunde schaffen. Am 14. Juli, es ist etwa 19.30 Uhr, will Seger absolut sichergehen – und fährt, trotz der bereits beachtlichen Wasserstände, schnell zu Obi nach Hattingen. Er will noch eine Pumpe kaufen. Ziemlich genau um 20 Uhr, das zeigt der Kassenbon, bezahlt er beim Baumarkt und ist um 20.08 Uhr zurück an seinem Haus.
Ganze Etagen stehen unter Wasser
„Die Pumpe habe ich gar nicht mehr ausgepackt – es stand schon alles unter Wasser.“ In Minuten steigt es auf ungekannte Höhen. Das berichten alle, die in diesen Tagen davon betroffen sind; in einem Moment ist es nur viel Regen – im nächsten stehen ganze Etagen unter Wasser. Susanne Martin verliert in diesen Stunden ihren Imbiss an die Fluten. „Man kann sich das einfach nicht vorstellen. Alles war weg oder nicht mehr benutzbar.“ Selbst in höheren Lagen ist zu diesem Zeitpunkt der Strom ausgefallen. Nach ein paar Stunden kehrt er dort zurück. In der Altstadt aber gibt es einzelne kleine Gebiete, wo er tagelang nicht wiederhergestellt werden kann.
Ganze Existenzen werden weggespült
Der 15. Juli. Ein Donnerstag, relativ sonnig. Viele Menschen sehen nun zum ersten Mal, was passiert ist: ganze Existenzen, weggespült. Das Aufräumen beginnt. Und Langenberg sieht teilweise aus – bei solchen Metaphern ist Vorsicht geboten – wie ein Kriegsgebiet: Straßen sind abgesackt und weggespült, kleinere Gebäude und Mauern zusammengebrochen, Dreck und Müll verkrusten in der Hitze. Raba Limani, die mit ihrem Mann ein Eiscafé führt, sagt: „Der Schlamm war das Schlimmste. Wir haben alle Geräte rausgeschleppt.“ Dass von ihnen keines mehr benutzbar ist – eindeutig.
Eine Welle der Hilfsbereitschaft
Die Langenberger lassen die Betroffenen in diesen Momenten nicht im Stich. „Der Zusammenhalt war eine ganz neue Erfahrung“, sagt Susanne Martin. „In der kleinen Sporthalle an der Bücherei wurden Duschen für alle Betroffenen eingerichtet und die TBV haben immer wieder den Müll abgeholt.“ Vera Muratovic-Jäger ergänzt: „Mir haben Menschen geholfen, die ich weder davor noch danach gesehen habe. Die Frauen vom Motorradklub haben gekocht. Andere Leute haben die Wäsche gewachsen. Es gab viele unbürokratische Sachspenden. Und die Stadt hat ebenfalls immer wieder versucht, uns zu helfen.“
Das Wasser stand bis unter die Decke
Auch für Friedhelm Seger beginnt am Morgen des 15. Juli das Aufräumen: „Am stärksten war die Wohnung im Untergeschoss betroffen. Dort stand das Wasser quasi bis unter die Decke. 16 Waschmaschinen und Trockner waren kaputt. Insgesamt haben in jenen Tagen 25 Leute bei uns mitangepackt.“
Ein Jahr danach
Der 13. Juli 2022. Ein Jahr danach. Seger und seine Frau Maria sind mit der Renovierung noch immer nicht am Ende, sie hat bisher 300 000 Euro verschlungen. Raba Limani hat mit ihrem Mann bisher nur einen Teil des Cafés renoviert, große Teile der Steinwand im Inneren sind noch feucht – so tief ist das Wasser in die Wände gezogen. „Im Wintergarten muss noch viel gemacht werden, der Schimmel kommt auch immer wieder. Wir hoffen, noch dieses Jahr fertig zu werden.“
Wieder eröffnet, aber noch nicht fertig renoviert
Indes hat das Blumengeschäft Peschel vor kurzem wiedereröffnet. Fertig renoviert ist das Haus trotzdem nicht. Anita Klose sagt: „Das ist Fachwerk, das darf nicht einfach irgendwie fertiggemacht werden – ganz viele alte Teile sind im Moment bei Restauratoren.“ Susanne Martin hofft währenddessen, ihren komplett renovierten Imbiss in diesem Sommer wieder aufzumachen. Bisher hatte sie aus einem Wagen verkauft, den sie kurz nach dem Hochwasser erstanden hatte.
Die Angst bleibt
Und Vera Muratovic-Jäger? Für sie, ihren Mann und das Café Milchkännchen sei die Situation noch immer sehr schlecht. „Wir haben keinen Gewinn. Sowohl mein Mann als auch ich haben im Moment einen Zweitjob. Wir hatten ja erst drei Wochen vor dem Hochwasser eröffnet und sogar noch renoviert.“ Und was, wenn es bald wieder passiert? Wenn wegen der Klimakrise Jahrtausendhochwasser nicht mehr nur alle tausend Jahre geschehen? Raba Limani flüstert: „Die Angst – bleibt.“