Das Wort zur Woche

"Wann fängt er an?" Der Sohn ist nervös, kein Wunder, habe ich ihm doch tagelang eine Teilnahme an diesem exklusiven Ereignis in Aussicht gestellt. "Harry Potter und die Kammer des Schreckens", Pressevorführung am Sonntagvormittag, da lacht das Herz eines jeden Kindes.

Elfte Reihe im Grindel-Kino, rechts und außen, freie Sicht ist somit allemal gewährt, zumal in den vorderen Reihe Knaben mit hohen spitzen Hüten sitzen, albern Besen schwenken und wichtig durch ihre runden Brillen schauen. Die Hardcore-Potter-Fraktion, oberschlaue Kinder, die in virtuellen Schlössern leben und den Zauberstab gegen ihre hilflosen Eltern erheben, anstatt ihnen bei der Gartenarbeit zu helfen.

Der Bub vor mir mag etwa fünf Jahre alt sein. Gerade beißt er in den Unterarm seiner Mutter und fragt: "Geht das jetzt endlich los?" Kaum gesprochen, öffnet sich der Vorhang, der Film beginnt. "Du sollst mich nicht immer beißen!", sagt die Mutter, "das tut mir weh." Mit den Worten "Sei jetzt ruhig, du blöde Kuh, man versteht ja kein Wort!" verabschiedet sich ihr Nachwuchs aus der realen Welt und starrt gebannt auf die Leinwand.

Laut geht es her, das THX-System gibt sein Bestes. Der Sohn stopft sich den Schal in die Ohren. Der Knabe vor uns gibt Würgegeräusche von sich, das liegt wohl an den Spinnen, die breitwandig agieren und einen Weg in den Zuschauerraum suchen. Früher habe ich mal auf LSD den Film "Apokalypse Now" gesehen. Ich kann in etwa nachvollziehen, was Minderjährige empfinden, wenn das Grauen die erste Sitzreihe überwindet. Die Mutter vor mir reicht dem Buben eine Tüte, deren Inhalt dieser vorher in sich hineingestopft hat. Popcorn sieht komisch aus, wenn es sich etwa eine Stunde lang im Magen aufgehalten hat.

Auch mein Junge wirkt ebenfalls recht aufgewühlt. "Der erste Teil war besser", raunt er nach etwa zwei Stunden. "Wollen wir gehen?", frage ich pädagogisch einwandfrei nach. "Nein, dann wissen wir doch nicht, was jetzt passiert", kommt es bestimmt zurück. Das klingt logisch. Die letzte halbe Stunde werden wir auch noch schaffen.

Es ist früh am Abend. Gerade hat sich der Sohn ein japanisches Schnitzmesser leicht in die Hand gerammt. "Ich habe immer noch den Film im Kopf", sagt er entschuldigend, wohl wissend, dass sein Blut die aus Kirschholz gewonnene Schnitzplatte ruiniert. "Die Spinnen waren nicht gut. Und die Schlange auch nicht. Eigentlich war das kein Film für Kinder. Wie können die so was zeigen? Bestimmt träume ich davon."

"Das liegt an der FSK", möchte ich antworten, aber die FSK scheint mir plötzlich unerklärbar. Was bedeutet die Abkürzung eigentlich? Fiese Szenen kürzen? Familien Schreckliches kredenzen? Wie auch immer, die Institution hat wieder einmal versagt. Wahrscheinlich liegt das Augenmerk der Verantwortlichen auf der einwandfreien Darstellung von Geschlechtsakten, anstatt die Länge von Schlangen und die Größe von Spinnen kritisch zu beäugen. Ich meine, da reicht doch ein Wort, und schon kann so eine Schlange tricktechnisch auf ein gesundes Maß gestutzt werden. 1,20 Meter würde völlig ausreichen.

Stattdessen muss ich mir jetzt überlegen, wie ich den Jungen ins Bett kriege - beziehungsweise in die Kammer des Schreckens . . .