Hamburg. Oberbaudirektor Höing und Wirtschaftsforscher Straubhaar sehen viel Potenzial im Bezirk bis zum Jahr 2050. Das Finale unserer Serie.
Gleich mehrere Glücksfälle lassen Bergedorfs Pespektiven für die kommenden 25 Jahre in bestem Licht erscheinen: Allen voran das Bekenntnis des Körber-Konzerns, auf seine Mitarbeiter zu hören und die „Fabrik der Zukunft“ hier zu bauen. Aber auch die planerisch längst angelaufene Neugestaltung der alten Karstadt-Flächen in der City, dazu das von hier bis zur A25 reichende „Entwicklungsgebiet Bergedorf Südost“. Ebenso der wohl sogar milliardenschwere Neubau des Unfallkrankenhauses Boberg und nicht zuletzt sogar die Realisierung des lange umstrittenen 15.000-Einwohner-Stadtteils Oberbillwerder samt neuem Hochschulstandort.
„Bergedorf hat eine unglaubliche Dynamik, die bis 2050 viel Potenzial erwarten lässt“, sind sich Wirtschaftsforscher Prof. Thomas Straubhaar und Hamburgs Oberbaudirektor Franz-Josef Höing einig im Interview mit der bz zum Finale unserer Serie 150 Jahre Bergedorfer Zeitung. Zudem profitiert der Bezirk aus Sicht der Experten von seiner solitären Lage bei gleichzeitig direkter Nachbarschaft zu Hamburg. „In Bergedorf verbindet sich die Anziehungskraft der attraktiven Metropole mit der Beschaulichkeit eines Bezirks, der es verstanden hat, seinen Maßstab weitgehend einzuhalten und vor allem kein Tafelsilber zu verscherbeln, wie sein Schloss, die gewachsene Innenstadt oder sein vieles Grün“, lobt Höing.
150 Jahre bz: Bergedorf hat alle Chancen für eine gute Zukunft, sagen Experten
„Und ganz nebenbei liegt Bergedorf dabei genau im modernen neuen Trend, nämlich Lokalität und gute Nachbarschaft mit der Globalisierung intelligent zu verknüpfen“, ergänzt Straubhaar. Das müsse bei vielen Planern, Ökonomen und Politikern zwar erst noch in den Köpfen ankommen. „Aber die immer verrückter werdende Weltlage mit ihren Kriegen, Autokraten und gescheiterten Regierungen beschleunigt das.“ Die erneute Präsidentschaft von Donald Trump in den USA und die nun erwarteten Turbulenzen dürften aus seiner Sicht die entscheidenden Impulse geben: „Unsere alten kulturellen Werte kehren zurück. Auch das lange belächelte Gefühl, ein überzeugter Lokalpatriot zu sein, wird wieder salonfähig.“
Die große Sorge der Bergedorfer, angesichts des seit Jahren massiven Wohnungsbaus zur Hamburger Schlafstadt zu werden, teilt der Oberbaudirektor nicht. Für ihn ist zwar auch das Großprojekt Oberbillwerder mit seinen künftig mindestens 15.000 Neu-Bergedorfern wichtig, „weil wir nicht zulassen dürfen, dass sich Menschen das Wohnen in Hamburg nicht mehr leisten können“. Aber für Franz-Josef Höing steht fest: „Wir müssen alles daran setzen, Gewerbe und ganz bewusst auch Industrie in der Stadt zu halten, auch in Bergedorf.“
Straubhaar: Körbers Fabrik der Zukunft wird ganz Bergedorf attraktiver machen
Allein mit Dienstleistung, Wissenschaft und Einzelhandel ist eine Großstadt nicht überlebensfähig, weiß auch Thomas Straubhaar: „Genau deshalb ist der Bau der ‚Fabrik der Zukunft‘ des Körber-Konzerns so ein wichtiger Glücksfall für Bergedorf“. Der Wirtschaftswissenschaftler erwartet sogenannte Spillover-Effekte: „Die neue Hauni wird Auswirkungen auf ganz Bergedorf haben. Wir sprechen hier vom Hauptsitz eines Technologie-Konzerns, der hochgebildete Mitarbeiter in den Bezirk zieht und so auch die in seiner Nachbarschaft im Forschungs- und Innovationspark am Schleusengraben ja längst vorhandenen Forschungszentren für Lasertechnik und die Energiewende noch attraktiver machen wird – ebenso wie den Bezirk Bergedorf insgesamt.“
Eine vergleichbare Sogwirkung werde der Neubau des Unfallkrankenhauses Boberg entfachen, das mit dann 750 Betten Anfang der 2030er-Jahre in die oberste Liga der Kliniken in Deutschland aufsteigt. Und weil längst nicht mehr allein die Bezahlung das entscheidende Kriterium sei, sich als hoch qualifizierter Mitarbeiter für ein Unternehmen zu entscheiden, könne Bergedorf mit einem ganz anderen Potenzial wuchern: „Hier gibt es noch Platz für den sogenannten Werkswohnungsbau“, sagt Thomas Straubhaar.
Werkswohnungen für Bergedorfs Zukunft: Ideen für Körbers heutiges Hauni-Areal
„Angesichts der Fachkräfteknappheit ist jedes Unternehmen klar im Vorteil, das seinen Beschäftigten bezahlbaren und sicher zu bekommenden Wohnraum bieten kann. Das gilt schon heute und wird in Zukunft noch wichtiger“, sagt der Forscher und schaut dabei auch auf das heutige Betriebsgelände der Hauni an der Kurt-A.-Körber-Chaussee: Hier hat der Konzern als Grundeigentümer seines voraussichtlich ab 2027 freien Stammsitzes die Chance, zusammen mit Bezirksamt und Politik wichtige Weichenstellungen für eine wirkliche Zukunftsstadt Bergedorf zu stellen.
Das weiß auch der Oberbaudirektor: „Das werden wir jetzt sehr schnell in Angriff nehmen. Es wird ein Mix aus Wohnen, Arbeiten und Funktionen geben, die Bergedorf in diesem ausgesprochen attraktiven und zentrumsnahen Gebiet braucht.“ Ohnehin biete das Umfeld der Bergedorfer City nicht nur mit der Hauni, sondern auch in Richtung Süden bis zur A25 große Potenziale, die es zu heben gelte: „Hier ist das Bezirksamt zusammen mit mir in einer ganz neuen Form der Planung bereits tätig. Wir haben die gesamten Flächen als Entwicklungsgebiet Bergedorf Südost definiert, um sie buchstäblich in die Stadt zurückzuholen.“
Bergedorf Südost: Wie sich Bergedorfs City Richtung A25 entwickelt
Konkret geht es darum, aus der gewachsenen Vielfalt ein attraktives Miteinander zu machen. Immerhin liegen im Entwicklungsgebiet so unterschiedliche Areale wie das 120 Jahre alte Gründerzeitviertel Bergedorf-Süd, das Gewerbegebiet Brookdeich, die nebenan geplanten 650 Neubauwohnungen, die Eisenbahntrasse nach Geesthacht, der künftige Radschnellweg, der Sitz der Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein (VHH) und künftig auch Körbers „Fabrik der Zukunft“ samt diverser weiterer Forschungs- und Produktionsbetriebe in direkter Nachbarschaft.
„Es gilt, das alles mit viel Grün und Wegeverbindungen so gut an Bergedorfs City anzubinden, dass sich die Entfernungen auch in den Köpfen reduzieren. So wie es für die Schleusengraben-Region mit dem Wanderweg am Wasser kurz bevorsteht. Tatsächlich trennen Körbers künftige Fabrik an der A25 nur wenige Hundert Meter von Bergedorfs Einkaufsstraße Sachsentor“, sagt Franz-Josef Höing, der hier ganz nebenbei auch eine Bahnstation der wiederbelebten Geesthachter Linie vorsieht.
Spannende Treffpunkte für die „Homeoffice-Community“ schaffen
Nicht vergessen dürfen die Planer dort auch Treffpunkte für die „Homeoffice-Community“, rät Thomas Straubhaar. „Die neue Arbeitswelt verlagert sich entgegen ihres Namens nämlich gar nicht zu hundert Prozent nach Hause. Vielmehr gewinnt das Co-Working immer größere Bedeutung, also auf Zeit gemietete Schreibtische in Büroetagen bei darauf spezialisierten Anbietern, wie es bald wohl einen im Bergedorfer Tor am Bahnhof geben wird.“
Dort, wie auch in manchem darauf ausgerichteten Café, entflöhen die „Heimarbeiter“ nicht nur der häuslichen Einsamkeit, sondern es komme immer wieder zu Zufallskontakten mit Vertretern ganz anderer Branchen, bloß weil die mit ihrem Laptop mal am Tisch nebenan sitzen und man ihnen zuhöre. „Ein positiver Effekt, nicht nur menschlich, sondern immer wieder auch beruflich“, weiß der Wissenschaftler.
Höing: „Zum Glück hat Bergedorf das Tafelsilber seiner City nie verscherbelt“
Wichtigstes Feld hierfür wird natürlich Bergedorfs Innenstadt der Zukunft sein, von deren Potenzialen der Oberbaudirektor aber auch aus ganz anderen Gründen schwärmt: „Mit den Neubauten auf den zentralen ehemaligen Karstadt-Flächen und dem heutigen Parkhaus am Schlosspark gibt es hier beste Perspektiven, an denen wir planerisch längst mit Hochdruck arbeiten.“ Aber auch das Schloss samt seinem denkmalgeschützten Schlosspark, das neue Körberhaus, das als Kultureinrichtung wiederbelebte Haus im Park und nicht zuletzt die erhaltene Kleinteiligkeit des Umfelds vom Sachsentor seien wertvolle Trümpfe für Bergedorfs Zukunft. „Zum Glück wurde dieses Tafelsilber nicht verscherbelt.“
Damit das alles Teil der Bergedorfer Identität bleibt, ein Ort, der regelmäßig besucht und Gästen gern gezeigt wird, lenkt Thomas Straubhaar den Blick auf weitere unverzichtbare Elemente: „Unsere Gesellschaft wird älter, diverser, digitalisierter, aber auch immer stärker auf soziale Umverteilung angewiesen sein, weil durch Künstliche Intelligenz Jobs für Menschen mit geringer Bildung wegfallen.“ Alles das gehöre in Form von Treffpunkten, Beratungsstellen oder auch Sport-, Erholungs- und Integrationsangeboten für die zugezogenen internationalen Fachkräfte in die City der Zukunft.
Attraktive Innenstadt soll auch Oberbillwerders Bewohner zu Bergedorfern machen
Hinzu kommen viel Grün, Gastronomie, natürlich Einzelhandel – und Kultur, „die wir unbedingt aus ihren Tempeln in die City holen müssen, zumindest zeitweise“, sagt Franz-Josef Höing. Ferner bräuchte es noch zusätzliche Wohnungen, um die City auch außerhalb der Geschäftszeiten weiter zu beleben. „Aber da ist Bergedorf mit seiner laufenden Innenstadt-Planung und den vielen Wohngebieten in direkter Nachbarschaft bereits auf dem richtigen Weg.“
Je attraktiver die City wird, desto näher rückt auch Oberbillwerder an Bergedorf, da ist sich der Oberbaudirektor sicher. „Der neue Stadtteil muss und wird kommen, weil wir seine 6500 Wohnungen anderswo im Bezirk nicht bauen können. Das gehört zur Dynamik der wachsenden Stadt Hamburg, deren Attraktivität letztlich auch Bergedorfs Zukunft sichert“, betont der Oberbaudirektor.
Möglichst viele Bewohner von Oberbillwerder sollen Jobs in Bergedorf haben
Als zweite und vielleicht noch wichtigere Bindung der Bewohner von Oberbillwerder an Bergedorf sieht Thomas Straubhaar das Thema Arbeit: „Wer im Zukunftsstadtteil wohnt, sollte seinen Arbeitsplatz in Bergedorf haben. So könnte Oberbillwerder ein wichtiger Ort werden für das Thema Werks-, Azubi- oder überhaupt Mitarbeiterwohnungen.“ Ein Thema, das neben dem Körber-Konzern und dem Unfallkrankenhaus Boberg auch alle anderen Bergedorfer Unternehmen in ihre Planungen für das Personal der Zukunft aufnehmen sollten.
Bei der Frage, wie Bergedorf im Jahr 2050 denn genau aussehen werde, bleibt der Oberbaudirektor vage – und das aus gutem Grund: „Ich vergleiche meine Arbeit gern mit einem Bücherregal: Wenn ich in eine neue Wohnung ziehe, brauche ich natürlich eines. Aber wenn der Umzug erst in fünf oder zehn, vielleicht sogar erst in 20 Jahren sein soll – woher sollte ich schon jetzt wissen, ob ich dann vielleicht nur noch Comics habe, vielleicht auch ganz andere Medien bevorzuge oder gar nicht mehr lese?“
Stadtplanung sieht Oberbaudirektor Franz-Josef Höing wie ein flexibles Bücherregal
Insofern verzichte seine Handschrift in der Stadtentwicklung bewusst auf eine zu feste Planung, sagt Franz-Josef Höing. Er ziehe nur grundsätzliche Linien, etwa in Form der tragenden Elemente des Bücherregals, und überlasse die Ausgestaltung dann der Kreativität der späteren Nutzer. Vor allem dürften Festlegungen von heute nicht im Weg stehen, wenn der Zeitgeist in ein oder zwei Jahrzehnten vielleicht ganz neue Prioritäten setze.
Innovativ ist Höing aber auch bei kurzfristigeren Projekten, wie der Nachnutzung auf dem heutigen Hauni-Areal. Dort will er neben Wohnungsbau wieder viel Gewerbe entwickeln. „Um das unterzubringen, denken wir derzeit sogar schon über Stapellösungen nach, also Betriebe auch übereinander anzuordnen“, lässt der Oberbaudirektor durchblicken.
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Mit solchen innovativen Lösungen trifft er auch den Nerv von Wirtschaftsforscher Thomas Straubhaar. Der wünscht sich gerade auf dem Körber-Stammsitz möglichst viel kreative Freiheit für die künftigen Nutzer. Seine These: Je toleranter und unbürokratischer Bergedorf hier ist, desto innovativere Talente lockt es an, die hier dann so kreativ sein können, dass sie die beste Zukunftstechnologie erfinden. Kurzum: Eine Sonderwirtschaftszone nach US-Vorbild, die Bergedorf vielleicht zum Silicon Valley des 21. Jahrhunderts machen könnte.
Für Franz-Josef Höing klingt das gar nicht so abwegig: „Sowas versuchen wir gerade mit der Science-City rund um das Forschungszentrum Desy in Bahrenfeld.“ Aber leider stoße das oft an Finanzierungsgrenzen, weil die Förderrichtlinien des Bundes oder der EU ganz freie Projekte vielfach ausschlössen. Bergedorfs Entwicklung erlebe er aber „schon heute so dynamisch, dass ich mir in diesem Bezirk sehr viel vorstellen kann“.