Hamburg. Chaos im Max-Bahr-Baumarkt, der 2015 plötzlich Notunterkunft ist. Wie Merkels Politik vor zehn Jahren die Populisten von heute fördert.
Das Flüchtlingschaos vom Spätsommer 2015 wird zum Symbol: Politisch war die erste Hälfte der Zehnerjahre des neuen Jahrtausends ein verheerender Fehlstart. Mehr noch: „Wir schaffen das“, der legendäre Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aus der Bundespressekonferenz vom 31. August, drehte sich kaum vier Wochen später in Bergedorf zur bangen Frage. „Wie sollen wir das schaffen?“, fragten sich Anwohner und spontane Helfer, als Hamburg 850 Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea und diversen anderen Nationen mit Bussen in den Ex-Baumarkt Max Bahr karrte.
Die lange leer stehenden Hallen an der Kurt-A.-Körber-Chaussee waren binnen weniger Tage nur notdürftig vorbereitet und kaum gereinigt worden. Es fehlte an allem, selbst Matratzen waren nicht in ausreichender Zahl vorhanden. „Dass unsere reiche Stadt das nicht hinbekommt, ist eine Blamage für Hamburg“, zitiert die Bergedorfer Zeitung am 29. September Nachbarn des Baumarkts, als über 100 Flüchtlinge mit ihren Kindern am Straßenrand kampieren. Einige treten in Hungerstreik.
150 Jahre bz: Flüchtlingskrise ist das bestimmende Thema des Jahres 2015
Besonders sauer stößt den Bergedorfern auf, dass der überstürzte Einzug einen gefühlt dekadenten Grund hat: Die 850 Menschen mussten aus den für sie hergerichteten Hamburger Messehallen verschwinden, weil dort im Oktober 2016 die „Hanseboot“ begann, eine Messe für Yachtbesitzer und solche, die es werden wollen. „Die haben offenbar eine mächtige Lobby, die Flüchtlinge nicht. Das hat die Stadt komplett verbockt“, hören die bz-Reporter von spontanen Helfern, die den Gestrandeten am Straßenrand Essen, Trinken und Hygiene-Artikel bringen. Zu den Menschen in den Hallen werden sie gar nicht erst vorgelassen.
Heute gelten jene Tage als Auslöser des Rechtsrucks in der Bevölkerung, der populistischen Parteien wie der AfD den Aufstieg ermöglicht hat. Aber auch den Rechtsradikalen, die Bergedorf schon im Dezember 2014 einen unüberhörbaren Besuch abgestattet hatten: „Multikulti ist asozial: Wehrt Euch gegen Asylbetrug“, lautete das Motto der Kundgebung, die von der NPD angemeldet und von Thomas Wulff geleitet wurde. In den 80er-Jahren in Lohbrügges damals sehr aktiver Neonazi-Szene groß geworden, ist er unter dem Namen „Steiner“ bis heute eine Führungsfigur der rechtsnationalen Szene.
Containerdorf am Bahnhof Nettelnburg lockt Neonazis zur Kundgebung
Als Ort der Kundgebung hatte sich die NPD das Containerdorf ausgesucht, das damals gerade auf dem P&R-Platz am Bahnhof Nettelnburg errichtet wurde. Tatsächlich kam mit Wulf nur ein kleines Häufchen von NPD-Anhängern, die Bergedorfer Gegendemo zählte dagegen über 400 Menschen, wie die Bergedorfer Zeitung unter der Überschrift „Wir versalzen denen ihre braune Soße“ berichtet. Ein Erfolg, der aber nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass in den ostdeutschen Bundesländern die ausländerfeindlichen Montagsmärsche der „Pegida“ jede Woche Tausende auf die Straße brachte. Die Abkürzung stand für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“.
Viel Hass gegen das Fremde, aber gleichzeitig auch eine breite Welle der Unterstützung zeigen schon in der Mitte der Zehnerjahre eine wachsende Spaltung der deutschen Gesellschaft. Dabei schien nach den Erschütterungen der ersten Hälfte der Nullerjahre mit Merkels Amtsantritt im November 2005 doch alles wieder im Lot. Die Turbulenzen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA waren ausgestanden, das Aufblühen der Schill-Partei in Hamburg Geschichte und der Aufruhr nach den Hartz-IV-Reformen von Kanzler Gerhard Schröder mit seiner Abwahl beigelegt.
Christoph Krupp, Motor des Bergedorfer Aufstiegs, geht nach Hamburg
Besonders in Bergedorf gelten die Jahre bis 2010 als Zeit des Aufbaus der neuen Innenstadt, ja sogar der Bestärkung des traditionellen Gefühls, etwas Einzigartiges zu sein in der Metropole Hamburg. Doch genau das bekommt schon 2011 Risse: Mitten im Finale der Großbaustelle ZOB/Bahnhof/Einkaufszentrum CCB verlässt mit Bezirksamtsleiter Dr. Christoph Krupp der Motor des Bergedorfer Aufstiegs das Rathaus. Der Sozialdemokrat wird im März von Hamburgs neugewähltem Bürgermeister Olaf Scholz zum Chef der Senatskanzlei berufen, also als Organisator seiner Regierung im Rang eines Staatsrats. „Mann der leisen Töne hinterlässt tiefe Spuren“ titelt die bz zu seinem Abschied, zu dem Hunderte in den Spiegelsaal des Rathauses strömen: „Christoph Krupp musste fast eine Stunde lang Hände schütteln.“
Als neuer Bergedorfer „Bürgermeister“ steigt Baudezernent Arne Dornquast zum Bezirksamtsleiter auf. Im Vergleich zu seinem Vorgänger gelingt es ihm kaum, eigene Bergedorfer Akzente zu setzen. Allerdings vollendet er eine ganze Reihe von Krupps angeschobenen Projekten, darunter neben dem Finale des Bahnhofsneubaus samt Vorplatz bis 2012 auch die Rettung des Bergedorfer Museums durch das Herauslösen aus der Stiftung Hamburgische Museen im selben Jahr. Und nicht zuletzt das Erschließen der alten Industriebrachen am Schleusengraben mit neuen Wohnquartieren wie den Glasbläserhofen. Auch die Eröffnung der Rettungsstation am beliebten Neuallermöher Badesee fällt in Dornquasts Amtszeit. Allerdings gelingt das erst am 31. Mai 2015, nachdem der Allermöher See über Jahre immer wieder Menschenleben gefordert hatte.
„Nachverdichtung“: Bergedorf wirft beim Wohnungsbau den Turbo an – und erntet Kritik
Mit dem neuen Chef im Bergedorfer Rathaus, der sich in Interviews mit unserer Zeitung als „guter Hamburger Beamter“ bezeichnet, regiert der Senat wieder in Bergedorf durch. Das gilt bei den massiven Ausbauten der Flüchtlingsunterkünfte ebenso wie bei der Wohnungsbauoffensive, die unter Bürgermeister Olaf Scholz in der ersten Hälfte der Zehnerjahre rasant Fahrt aufnimmt.
Hier zieht die neue Phalanx Senat/Bezirksamt schnell den Zorn der Bürger auf sich: „Wo sich das neue Bergedorf zusammenquetscht“, fasst die bz die Stimmung im Rückblick auf das Jahr 2014 zusammen. Denn der Bezirk hat sich im „Vertrag für Hamburg“ verpflichtet, 600 neue Wohnungen pro Jahr zu genehmigen, um dem rasanten Anstieg der Mieten entgegenzuwirken. „Nachverdichtung“ heißt das Schlagwort der Stunde, was Gebäude in die Höhe und die Privatsphäre in den großzügigen Neubauwohnungen schwinden lässt. „Der Abstand zum Nachbarn beträgt etwa bei den Glasbläserhöfen maximal zehn Meter“, erwartet die bz im Dezember 2014 beste Einblicke in die Schlafzimmer, sollen die doch zudem durchweg große Fenster bekommen.
Plötzlich taucht das Projekt Neuallermöhe III wieder auf: Jetzt heißt es Oberbillwerder
Der Druck auf den an potenziellen Bauflächen reichen Bezirk Bergedorf wächst, sodass die Neubaupflicht schnell auf 800 Genehmigungen jährlich hochgeschraubt und ein lange begrabenes Großprojekt aus der Schublade gezogen wird: „Jetzt also doch: SPD will Oberbillwerder realisieren“ titelt die Bergedorfer Zeitung im November 2015. Bergedorfs SPD-Vorsitzender Ties Rabe und Fraktionschef Paul Kleszcz präsentieren den einst als Neuallermöhe III betitelten 15.000-Einwohner-Stadtteil mit neuem Namen und versprechen einen „hochmodernen Zukunftsstadtteil“.
Während sich die Bergedorfer hier erst einmal die Augen reiben, läuft der Protest gegen ein anderes von Hamburg 2015 durchgedrücktes Großprojekt sofort an: Im August wird bekannt, dass im sogenannten Gleisdreieck am Mittleren Landweg in Billwerder 800 Wohnungen für 3000 Flüchtlinge entstehen sollen, vielleicht sogar 4000. Bergedorfs Politik und zahlreiche Bürger laufen Sturm, weil Bergedorf als einziger Bezirk einen reinen Flüchtlingsstadtteil bekommt, dessen Bewohner so isoliert praktisch keine Chance auf Integration haben. Und noch aus einem anderen Grund, wie die bz berichtet: „Am Gleisdreieck versucht Hamburg etwas, das es vorher noch niemals gab. Hier wird sofort gebaut, der Bebauungsplan und der Flächennutzungsplan aber erst nachträglich angepasst.“
„Alternativlos“: Merkels Politik-Stil als Wegbereiter für Populisten
Projekte wie das Gleisdreieck sind natürlich aus der Not geboren, weil die Flüchtlingsströme 2015 einfach nicht abreißen wollen. Aber sie sind Teil eines Politikverständnisses der Ära Merkel – auch wenn hier der rot-grüne Hamburger Senat tätig ist: Entscheidungen werden als alternativlos dargestellt, jede Diskussion oder gar Kritik läuft ins Leere. Für Philip Manow, Professor für Politikwissenschaft der Uni Siegen, ist das nicht nur undemokratisch, sondern untergräbt die Akzeptanz des liberalen politischen Systems als Ganzes.
In seinem Buch „Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde“, erschienen im Mai 2024, analysiert er die Ursachen der heutigen Wahlerfolge von Rechtsaußen-Parteien wie der AfD. Aus seiner Sicht liegen sie im merkelschen Regierungsstil der Zehnerjahre, der jeglichen populistischen Kritikansatz mit dem Hinweis auf die Rechtslage verworfen habe, statt ihn in die demokratische Meinungsfindung einzubeziehen. Wer so abgekanzelt werde, entwickle eine Art Fundamentalopposition: „Das System ist marode und kaputt, es muss als Ganzes weg.“
Rechtsruck in Bergedorf: 2014 zieht AfD-Politiker Dirk Nockemann in die Bezirksversammlung
Tatsächlich gibt es auch in Bergedorf von 2010 bis 2015 schon eine ganze Reihe von Versuchen rechter Kräfte, den wachsenden Frust über die Regierenden zu nutzen. Nach Protesten der NPD mit 40 Neonazis gegen die Bergedorfer Moschee, die 2008 mit dem CCB-Fachmarktzentrum eröffnet wurde, folgte 2012 ein medienwirksamer Anschlag bei der Enthüllung des Mahnmals gegen Zwangsarbeit gleich neben dem Fachmarktzentrum am Schleusengraben. Ein rechtsradikaler Attentäter sprühte mitten in der Feierstunde Reizgas auf die erste Reihe und verletzte sechs ehemaliger Bergedorfer Zwangsarbeiter.
Weiter geht es mit der oben beschriebenen Kundgebung der NPD vom Dezember 2014 vor dem entstehenden Containerdorf am Bahnhof Nettelnburg. Bereits im Mai war die AfD erstmals in die Bezirksversammlung eingezogen, damals mit derem heutigen Landesvorsitzenden Dirk Nockemann an der Spitze. Der Lohbrügger wechselte 2015 in die Bürgerschaft und wurde dort 2018 AfD-Fraktionsvorsitzender. Bei den Wahlen zur Bergedorfer Bezirksversammlung verzeichnet die AfD seit 2014 stetig mehr Stimmen. Im Juni 2024 konnte sie die Zahl ihrer Sitze von vier auf sieben unter den insgesamt 45 Mitgliedern des Bezirksparlaments steigern.
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Immerhin ein ganz dunkles Kapitel rechtsnationaler, ausländerfeindlicher Politik hat Bergedorf in den Zehnerjahren überstanden: Dr. Ludwig Flocken, Bergedorfer Orthopäde und Rechtsaußen der AfD, war 2015 in die Bürgerschaft eingezogen. Ein Jahr später wurde er Mieter im Lohbrügger Wasserturm, machte das Wahrzeichen des Stadtteils zu einem Abgeordnetenbüro und einem Veranstaltungs- und Schulungszentrum, das immer wieder auch Neonazis anlockte. Regelmäßig gab es hier jetzt Demos und Polizeieinsätze.
Der Spuk endete erst 2019, als Flocken bei der Wahl nicht mehr in die Bürgerschaft einzog. Bereits 2016 war er, nach mehreren Vorfällen in der Bürgerschaft, aus der AfD-Fraktion geflogen. Anfang 2018 schloss ihn dann auch die Partei aus. In 2020 und 2021 war Flocken dann Stammgast bei den Bergedorfer Protestzügen der sogenannten Querdenker gegen die Corona-Maßnahmen.