Bergedorf. Von 2015 bis 2020: Bürger schrumpfen das Großprojekt Stuhlrohr-Quartier. Und noch mehr in der Entwicklung des Bezirks steht still.
Im Frühling 2018 machen die Bergedorfer kurzen Prozess mit einem Wohnungsbau-Giganten im Zentrum ihres Bezirks: Die Initiative „Bergedorf stellt alles in den Schatten – für ein lebendiges Stuhlrohr-Quartier“ trägt binnen weniger Wochen rund 3000 Unterschriften für einen Bürgerentscheid zusammen. Mit ihm, da sind sich Politik, Verwaltung und Bürgerinitiative einig, werden die 450 Millionen Euro schweren Pläne des österreichischen Konzerns Buwog gekippt, der auf dem alten Fabrik-Areal zwischen Schleusengraben, Weidenbaumsweg und Stuhlrohrstraße über 1500 Wohnungen und Hochhäuser mit bis zu 22 Stockwerken bauen will, wie die Bergedorfer Zeitung berichtet.
Tatsächlich gelingt die Kehrtwende. Bergedorfs Politik und mit dem neuen Oberbaudirektor Franz-Josef Höing auch der Hamburger Senat schwenken auf die Linie der Bürgerinitiative ein. Erstaunlicherweise bleibt es das einzige Veto der Bergedorfer zwischen 2015 und 2020, obwohl im Bezirk jetzt überall massive und oft umstrittene Hamburger Wohnungsbauprojekte sprießen – bis hin zu dem schon 2016 mit ersten Plänen gestarteten Oberbillwerder. Dass Beschlüsse der Politik von unten nicht hinterfragt und gegebenenfalls korrigiert werden, scheint ein Phänomen dieser zweiten Hälfte der Zehner-Jahre zu sein. Ein wichtiger Grund: Nach der Wahl von 2017 kommt es zur Fortsetzung von Angela Merkels „alternativlosem“ Regierungsstil, auch wenn in der „GroKo“ jetzt die SPD als Juniorpartner mit am Tisch sitzt.
Merkels „weiter so“-Politik lähmt kritische Kräfte – und ebnet so den Weg zur „Chaos-Ampel“
Sicher ist das besser gewesen, als der Ausgang der US-Wahl, bei der Donald Trump 2017 das politische Ruder für den Rest des Jahrzehnts übernimmt. Aber mit Angela Merkels vierter Regierungszeit bleiben in Deutschland die für eine lebendige Demokratie so wichtigen kritischen Kräfte noch für weitere vier Jahre gelähmt. Die Alternative zum „weiter so“ der Kanzlerin ist als schwarz-grün-gelbes Jamaika-Bündnis sogar greifbar gewesen. Doch dieser mögliche Vorgänger unserer heutigen, vielleicht zu lebendigen „Chaos-Ampel“, scheitert 2017 noch an Christian Lindner und seiner FDP. Der Neustart der demokratischen Kontroverse in der Regierung wurde um vier weitere Jahre verschoben und ist heute deshalb wohl noch chaotischer.
Deutlich konstruktiver ist 2018 der Kompromiss für das Bergedorfer Stuhlrohr-Quartier, den die Bürgerinitiative mit Politik und Oberbaudirektor findet: „In einem neuen städteplanerischen Wettbewerb werden alle Hochhäuser gekappt, die zu bauende Geschossfläche um gut ein Viertel reduziert und neben dem reinen Wohnungsbau auch etliche Flächen für Gewerbe gesichert“, fasst die Bergedorfer Zeitung im Dezember zusammen, als bereits ein neuer städteplanerischer Entwurf gekürt wurde. Sein Ziel: „Statt eines reinen Wohngebiets mitten in Bergedorf ein lebendiges, neues Stadtquartier mit Cafés, kleinen Läden und Flächen für junge Unternehmen, sogenannte Start-ups zu schaffen.“
Geschrumpftes Stuhlrohr-Quartier: Ein Erfolg wie der Stopp von „Hochtief-City“ am Bahnhof
Auch wenn das bis heute, sieben Jahre danach, noch nicht umgesetzt wurde, ist der Kompromiss weiterhin die Basis der Entwicklung der alten Fabrik-Flächen. Und er hat einen prominenten Bergedorfer Vorläufer: Im Jahr 2000 stoppte die Bürgerinitiative Bahnhofsvorplatz Bergedorf per Bürgerentscheid den Bau von „Hochtief-City“. Der gleichnamige Baukonzern wollte alles zwischen dem Bergedorfer Bahnhof und dem Stuhlrohrquartier mit einem Shopping- und Erlebnis-Komplex aus Stahlbeton überbauen. Auch damals dauerte es fast ein Jahrzehnt, bis nach dem Veto die heutige, den Bergedorfer Verhältnissen angepasste Erweiterung des CCB samt neuem Bahnhof und ZOB ab 2008 schließlich realisiert wurde.
Doch im Vergleich zu jenem kreativen Turbo für Bergedorfs Zukunft wirken die Jahre von 2015 bis 2020 eher wie eine Zwischenzeit. Zwar wird sehr viel gebaut, aber dabei gilt es, vor allem Hamburgs Probleme auf Flächen im Bezirk zu lösen. Einerseits muss ab 2015 der riesige Flüchtlingsstrom untergebracht werden. Andererseits braucht es intensiven Wohnungsbau, um die galoppierenden Mieten einzufangen, die sich Familien mit Durchschnittseinkommen in Hamburg schon lange nicht mehr leisten können. Zusätzliche Gewerbeflächen, um das rasant wachsende, 2016 erstmals über 125.000 Einwohner zählende Bergedorf nicht bloß zu Hamburgs Schlafstadt zu machen, gibt es fast keine.
Auf dem Gleisdreieck: In Billwerder entsteht Hamburgs einziger Stadtteil nur für Flüchtlinge
Los geht es 2016 mit dem Bau von Hamburgs einzigem Stadtteil nur für Flüchtlinge. Auf dem Gleisdreieck am Mittleren Landweg in Billwerder entstehen binnen weniger Monate und mit erst nachgereichter Baugenehmigung 780 Wohnungen für bis zu 4000 Menschen. Die Nachbarn wehren sich: „Integration: Ja! Ghetto: Nein!“ ist der Schlachtruf der Bürgerinitiative, die vergeblich versucht, das Projekt gerichtlich stoppen zu lassen. „Das Vorhaben wird kontrovers und emotionsgeladen diskutiert“, fasst die Bergedorfer Zeitung Ende 2016 zusammen.
Weiter geht es unter anderem 2017, als die AfD das Thema Flüchtlinge für sich entdeckt. Aktivisten um ihren später aus der Partei ausgeschlossenen Bergedorfer Bürgerschaftsabgeordneten Dr. Ludwig Flocken versuchen, den Protest der Menschen aus Lohbrügge Nord gegen das neue Flüchtlingsdorf „Bünt“ am Binnenfeldredder mit verschiedenen Veranstaltungen zu kapern. Das geht schief, es wird gebaut. Erfolg haben dagegen gut vernetzte Boberger Bürger, die sich gegen Wohncontainer am Hubschrauber-Landeplan beim Unfallkrankenhaus wehren. Der Senat lässt dieses Projekt 2017 fallen, auch wegen zurückgehender Flüchtlingszahlen.
Alle Wohnungsbau-Quartiere in Bergedorf werden deutlich aufgestockt
Beim Wohnungsbau nimmt dagegen alles deutlich größere Dimensionen an als einst geplant. Schon im Januar 2016 schreibt die Bergedorfer Zeitung beim Blick auf die Neubaugebiete Tienrade und Haempten am Reinbeker Redder: „Direkt an der Landesgrenze zu Schleswig-Holstein werden hier, nach erheblichem Zwist in der Bezirksversammlung, nun mehr als 600 Wohnungen entstehen. Ursprünglich sollten es am Rand der Havighorster Feldmark vornehmlich Doppel- und Reihenhäuser sein.“ Jetzt werde es „bis zu fünfgeschossiger Wohnungsbau“ sein.
Weiterer Wohnungsbau wird am Schleusengraben vorbereitet: Das neue Areal „Glasbläserhöfe“ wächst durch eine zusätzliche Fläche auf 550 Wohnungen, für den „Schilfpark“ (320 Wohnungen) muss der Bergedorfer Beachclub weichen, für den Weidensteg (720 Wohnungen) fallen die einstigen Fabrikhallen der Hanseatischen Motoren-Gesellschaft (HMG). Und neben dem Gründerzeitviertel Bergedorf-Süd wird der erst 2014 eröffnete Aldi-Markt bereits für bis zu 650 Wohnungen überplant. Er soll künftig inmitten des Neubauquartiers „Wohnen am Brookdeich“ liegen.
Neben dem massiven Wohnungsbau bleibt vieles liegen – sogar der Bau neuer Schulen
Die Liste lässt sich fast beliebig verlängern. Doch neben dem Wohnungsbau bleibt vieles andere liegen. So müssen in den jährlichen Rückblicken der Bergedorfer Zeitung und besonders in ihren Ausblicken auf das neue Jahr unter dem Titel „Agenda“ immer wieder Verzögerungen vermeldet werden. Das gilt für alle vier geplanten Schulneubauten, bis 2020 auch den Ersatz für das abgerissene Haus der Jugend im Lichtwarkhaus und sogar für den Rad- und Wanderweg am Schleusengraben: „Dieser kleine Pfad ist entscheidend, um die vielen neuen Wohngebiete entlang des Wassers endlich an Bergedorfs City anzubinden“, heißt es in der „Agenda 2020“ frustriert mit Blick auf die da schon 15 Jahre alten Pläne. „Doch wann er und die zugehörige Brücke zum Schilfpark endlich fertig werden, ist völlig offen.“
Zwar werden Bergedorfs Neubürger so weiter von der Innenstadt ferngehalten. Aber die Politik fängt plötzlich an, die Attraktivität der City nicht länger als Aufgabe der ansässigen Wirtschaft zu sehen, sondern als Kern der bezirklichen Stadtentwicklung. Vor allem, wenn es um die Innenstadt der Zukunft geht. Los geht es mit der Aufwertung des alten Bergedorfer Hafens: Nach der umfangreichen Planungswerkstatt „Serrahn 2030“ mit zahlreichen Bürgern werden 2018 die Kupferhof-Terrassen beim City-Zugang des Einkaufszentrums CCB für knapp eine Million Euro neu gebaut. Es ist der Vorläufer für den 2022er-Umbau der Serrahnstraße zur Gastromeile, der 2018 mit Abriss und Neubau von Woolworth sowie 2020 mit „neuem Leben für Bergedorfs Kneipen-Hinterhof Nummer 1“ beginnt, wie die bz im Januar 2020 schreibt.
In Bergedorfs Rathaus wird die Erweiterung der City bis zur A25 geplant
Und planerisch wird der Blick jetzt auch auf das Umfeld der Innenstadt Richtung Süden ausgeweitet. Im Bergedorfer Rathaus ist aufgefallen, dass sich hier bis zur A25 eine sehr spannende Entwicklung anbahnt. „Rahmenplan urbanes Bergedorf Südost“ heißt das Projekt, das alles Vorhandene und Künftige hier in ein Konzept des citynahen Wohnens und Arbeitens bettet. Viel zu tun, wie die bz in der „Agenda 2020“ schreibt: „Der Rahmenplan umfasst das Gründerzeit-Viertel Bergedorf-Süd ebenso wie die wachsende Schleusengraben-Region, das Gewerbegebiet Brookkehre und den Forschungs- und Innovationspark mit seinen Fraunhofer-Instituten Energie-Campus, Laser-Zentrum und dem Rotoren-Prüfstand.“
Tatsächlich sind alle drei zwischen 2017 und 2019 in die Riege der deutschen Forschungs-Elite aufgestiegen, also in den Fraunhofer-Kreis aufgenommen worden. Zudem laufen im Energie-Campus unter Prof. Dr. Werner Beba die Fäden der Energiewende in Norddeutschland zusammen. Nebenan, auf den Kleingarten-Flächen nahe des Curslacker Neuen Deichs, sollte sich 2020 noch das Unfallkrankenhaus Boberg mit einem Neubau ansiedeln. Heute baut der Körber-Konzern hier seine „Fabrik der Zukunft“, was das Plangebiet „Bergedorf Südost“ nicht weniger attraktiv macht für das Zusammenwachsen mit Bergedorfs Zentrum.
Dicke Fragezeichen hinter Lohbrügges Hochschule und seinem Holzforschungsinstitut
Dicke Fragezeichen stehen derweil hinter den beiden wichtigsten Lohbrügger Forschungseinrichtungen: 2017 kann die Schließung des über 40 Jahre an der Leuschnerstraße ansässigen Thünen-Instituts für Holzwirtschaft durch einen neuen Kooperationsvertrag mit der Universität Hamburg in letzter Sekunde abgewendet werden. 2020 schlägt es dann bei der Hochschule für Angewandte Wissenschaften an der Ulmenliet wie eine Bombe ein: Die HAW soll mit ihren knapp 4000 Studenten in den neuen Stadtteil Oberbillwerder umziehen und dort sogar für 5000 Studierende ganz neu bauen.
Was aus dem denkmalgeschützten Altbau aus den frühen 70er-Jahren werden soll, bleibt erst mal offen. Dabei hat die Hochschule hier 2017 erst fünf Millionen investiert: „Der vierstöckige Neubau wird unter anderem den einzigartigen virtuellen Notarztwagen beherbergen, an dem die Katastrophenschützer vom Studiengang Rescue Engeneering trainieren“, schreibt die Bergedorfer Zeitung Ende 2016. Drei Jahre später heißt es zum Umzug: „Bezirksamt, Hochschule und Wissenschaftsbehörde sind sich einig, dass die HAW Aushängeschild des Zukunftsstadtteils Oberbillwerder“ werde. Für den Altbau sollten „die Lohbrügger selbst Ideen entwickeln, was aus dem mächtigen Komplex aus Stahl und Beton werden könnte“.
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Das ist bis heute unerledigt geblieben – wie übrigens auch die Überzeugung, dass die kommende Bürgerschaftswahl den Bau von Oberbillwerder beeinflussen wird. Schon in der Agenda 2020 unserer Zeitung heißt es aus Sicht der Bürgerinitiative „Nein zu Oberbillwerder“ mit Blick auf die damalige Wahl vom 23. Februar 2021: „Alle Parteien sollen sich jetzt klar zum Projekt positionieren, damit die Wähler entsprechend abstimmen – und ein Senat ins Amt kommt, der den Sinn von Oberbillwerder neu überdenkt.“ Das klingt heute mit dem Blick auf die kommende Bürgerschaftswahl 2. März 2025 nicht anders.