Vorhalle. Im Hagener Ortsteil Vorhalle steht die bedeutende Hülsberg-Villa aus dem Jahr 1909. Sie war fast verloren. Dann kam Familie Kramps.
Es war die Hochphase des Hagener Impulses. Inwieweit Rudolf Hülsberg, ein wohlhabender und gönnerhafter Sägewerk-Unternehmer, das wichtig war, ist nicht überliefert. Der seinerzeit bedeutende Vorhaller ließ 1909 an der Vorhaller Straße 42 sein Wohn- und Geschäftshaus errichten. Ein Genuss für jeden, der sich durch Architektur gern zu Zeitreisen verführen lässt. Historismus, Jugendstil, bergischer Barock - irgendwie ist alles drin in diesem Gebäude, durch das der Geist jener Zeit weiter weht. Als die Villa 2015 schon fast der Bedeutungslosigkeit übergeben wurde, nahm die mehrköpfige Vorhaller Firma Kramps alle ihre Herzen in die Hand, kaufte den Schatz und baute das Denkmal behutsam um. Ein Abenteuer, das sie heute in einer wahrhaftigen Perle der Hagener Baukunst leben lässt.
Ab 2013 ein verlassenes Haus
Die Vorhaller, die sich noch erinnern, nennen das Gebäude „alte Drogenklinik.“ Das war es auch von 1989 bis 2013. Ein gemeindenahes Drogentherapiezentrum der Stadt Hagen. Zuvor knapp 40 Jahre städtisches Altenheim, davor NS-Gauschule und eben davor prächtige Villa ihres Erbauers Rudolf Hülsberg, der mit seiner verwitweten Schwester Emilie hier einzog. Das Kontor der Sägewerksbrüder Herrmann und Rudolf Hülsberg wurde im Erdgeschoss der repräsentativen Villa untergebracht. Eine großzügige Eingangshalle, Herrenzimmer, Kutscherhaus, Bediensteten-Eingänge, Gemüseanbau, Pferdeställe, einstmals knapp 7000 Quadratmeter Grundstücksfläche. 1937 verkaufte Emilie Hülsberg nach dem Tod ihres Bruders das Haus an die NS-Wohlfahrt.
Die Anmutung eines Herrenhauses
Tina und Anna Terletzki, Mutter und Tochter, öffnen an einem schwülen Sommertag die wuchtige Eichen-Eingangstür. Alles, was folgt, ist ein Original. Ihr Wohn- und Esszimmer würden die Hülsbergs 115 Jahre später genau so wiedererkennen. Die Holzvertäfelungen, die deckenhohen Schiebetüren, die Fenster im Design Henry van de Veldes, die verspielten Fliesen-Mosaike, diese Anmutung eines amerikanischen Herrenhauses, das Gefühl in einer Remise zu sein, der Zauber einer Zeit, an der Hagen durch Karl-Ernst Osthaus an der Schwelle stand, zur Kunsthauptstadt Nummer eins in Deutschland zu werden.
2015: Das Jahr der Fügung
Für Familie Kramps war es 2015 wie eine Fügung, dass niemand mehr wusste, was man mit dem Gebäude anfangen soll. 2008 verschärften sich die Auflagen bezüglich der Ausstattung von Drogentherapie-Einrichtungen. Die klamme Stadt hätte sie nur dann erfüllen können, wenn der Anbau ans Gebäude total umgebaut, saniert, abgerissen oder neu gebaut wird. Das war nicht leistbar. Die Deutsche Rentenversicherung machte außerdem Druck: Die sanitäre Situation sei einer modernen Rehaklinik nicht mehr angemessen. Letztlich wurde die Einrichtung vom Pflegedienst Elsey übernommen, der sie bereits nach wenigen Monaten abstieß. Die AWO übernahm, baute aber ein neues Therapiezentrum in der Wortherbruchstraße. Die Hülsberg-Villa (2009 zum Denkmal erklärt), stand deshalb seit 2013 leer.
Die Sommerserie „Schätze am Wegesrand“
In der großen Sommerserie der Hagener Stadtredaktion erzählen wir die Geschichten von außergewöhnlichen Häusern und Landmarken: Viele haben sie vielleicht schon einmal am Wegesrand entdeckt, wissen aber nicht, was sich dahinter verbirgt. Folgende Teile sind bereits erschienen:
- Bahnhof Hagen-Dahl: Wohnen, wo die Züge rollen
- Pavillon in der Hagener City - das Reisebüro schließt, und dann?
- Blau-Weißes Haus am Tücking: Dort wohnt gar kein Schalke-Fan
- Leben wie im Märchen: Ein Besuch auf dem Waldhof in Hagen-Tiefendorf
- Historisch: Ein Blick in die gelbe Villa in Hohenlimburg
- Das unerreichbare Haus: Es wurde bei der Eingemeindung vergessen
- Liebe auf den ersten Blick - und neues Leben im Haus der Ruhrkohle
- Wie aus Grimms Märchen: Das Haus Ruhreck - und seine Rettung
- Winziges Häuschen am Hasper Straßenrand - welche Geschichte steckt dahinter?
- Wie eine Millionensumme eine Hagener Fabrik rettet
- Ein Besuch in der „Burg“ in Hohenlimburg an der Lenne
- Leben im grünen Paradies - neben dem Backhaus in Wehringhausen
- Große Vergangenheit verschafft Hasper Kindern eine Zukunft
- Fachwerkhaus wird aus Dornröschenschlaf geweckt
- Wie eine Burg: Auf den Spuren der roten Cuno-Siedlung
- Haus am See: So wohnt eine Familie in Hagen in einem Denkmal
- Die Villa mit dem grünen Turm: Nadelstiche zwischen alten Mauern
- Von vielen Stellen aus zu sehen: Der Funkturm auf dem Riegerberg
- Villa am Goldberg: Hier gibt es keine rechteckigen Zimmer
- Die Lust an der Einsamkeit: Familie lebt in Hagen im Forsthaus
- Juwel im Grünen: Die Geschichte einer Dahler Villa
- Eine Tour zu versteckten Ecken im Hagener Hohenhof
- Bordell in Hagen: Eine Peepshow und wie hier alles begann
- Die Insel im Hengsteysee: Der Mäuseturm und seine Geschichte
- Berchumer möchten vergessene Ruine neu beleben
Das Mehrgenerationen-Projekt
Für Familie Kramps war das quasi der Startpunkt in die eigene neue Zeit - nur mit ganz anderem Ansatz. Während Sägewerk-Unternehmer Hülsberg dem herrschaftlichen Wohnen seiner Zeit eine architektonische Hülle geben wollte, ging es Familie Kramps darum, einen Ort zu finden, an dem sie ein Mehrgenerationen-Familienprojekt realisieren können. Eltern und die Töchter mit ihren Männern. Beieinander und miteinander leben. Die Vorzüge der Gemeinschaft spüren, aber eben auch mal allein sein können, wenn einem danach ist. „Dafür braucht es ja Platz und Raum“, sagt Anna Terletzki .
Die Umstände haben geholfen
Platz und Raum kosten aber oft jede Menge Geld. Heute sogar noch mehr als zu der Zeit, als Familie Kramps das Projekt angegangen ist - 2015 nämlich. „Da kann es helfen, wenn so ein Gebäude schon mal niemand mehr haben möchte oder es auch einen größeren Sanierungsstau hat“, sagt Anna Terletzki. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Denkmalschutz, der viele Leute abschreckt, geschützte Bauten zu kaufen. „Man kann es sich aber sehr schön machen und trotzdem den Geist eines so alten Gebäudes erhalten. Das eine schließt das andere nicht aus. Man muss sich einfach trauen.“
Die Herrschaftlichkeit alter Zeiten
Das haben sie. Und so leben sie heute in einem Gebäude, das durch die individuelle Einrichtung sehr moderne Züge trägt, in seinen Grundfesten aber von seiner Herrschaftlichkeit, seiner historistischen Anmutung und diesem Geist einer Zeit, in der Bedienstete hier den Alltag schmissen, nichts verloren hat. Aus dem Fenster eines Wohnzimmers mit Kamin sieht man draußen, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die evangelische Kreuzkirche stehen. Den Platz dafür hatte die Familie Hülsberg einst gestiftet. 1903 wurde sie eröffnet. Die Hülsbergs stifteten auch die ursprünglich im Glockenturm hängenden Bronzeglocken.
Keimzelle der Vorhaller Entwicklung
Eine alte Aufnahme aus dem Jahr 1920 zeigt die „Partie an der evangelischen Kirche“. Der Platz vor der Kirche ist noch nicht verbaut und eine freie Wiese. Neben der Hülsberg-Villa sind nur zwei weitere stattliche Bauten zu sehen. An der Vorhaller Straße entwickelten sich neben dem Haus, in dem nun Familie Kramps lebt, weitere Villen, die heute noch dort zu sehen sind. Im Übrigen wurden die Hülsbergs auf den Gütern Oberste und Niederste Hülsberg geboren. Niederste Hülsberg - einst ein stattliches Bauerngut - verwest heute in der Kurve an der Weststraße auf dem Weg nach Wetter vor sich hin.
Leben in historischer Keimzelle
„Wir haben hier unser Glück gefunden“, sagen Anna und ihre Mutter Tina stellvertretend für die ganze Familie. Vorhaller waren sie ohnehin durch und durch. Nun schreiben sie in einem geschichtsträchtigen Haus ihre eigene Geschichte weiter. Aus der oberen Etage der Wohnung von Anna Kramps blickt man übrigens auf den Kaisberg und den Freiherr-vom-Stein-Turm. Leben in einer historischen Keimzelle.