Mülheim. Sonntag wählen Mülheims Bürger einen neuen Stadtrat und die Duellanten in der OB-Stichwahl. Ein Rückblick auf verlorene Jahre. Ein Meinungsstück.
Mülheim 2020. Das Bild zeigt eine mit 2,1 Milliarden Euro weit über beide Ohren verschuldete Stadt, die kaum mehr in der Lage ist, das zu gewährleisten, was Stadt ausmacht: einen Ort, der Menschen die Verwurzelung bietet für ihre Existenz. Den Heimathafen, der aufgrund seiner vielfältigen Angebote, seiner Daseinsvorsorge und Infrastruktur lebenswert ist für uns bunten Haufen Menschen. Der unseren Kindern die Sicherheit gibt, aus ihrem Leben etwas machen zu können. Der Bürgern die Zuversicht gibt, möglichst sorgenfrei der Zukunft entgegenzusehen. Liebe Leser! Wir wissen, wie viel Ihnen diese Stadt bedeutet. Wenn es Sie zu sehr schmerzt, lesen Sie hier nicht weiter. Es wird weh tun. 2014 bis 2020: Die Bilanz der verlorenen Jahre. . .
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Mülheim 2020 - eine heruntergewirtschaftete Stadt. Es war einmal die Einkaufsstadt, die überrannt war ob ihres kraftvollen Innenstadthandels. Im strukturschwachen Ruhrgebiet haben die Menschen neidvoll nach Mülheim geschaut. Auf eben jenes Mülheim, das zwar als „Stadt der Millionäre“ immer auch Sinnbild war für eine weit auseinanderspreizende Kluft zwischen Arm und Reich. Aber eben auch eine Stadt mit kerngesunder Wirtschaftsstruktur.
Mülheim: Einst Aushängeschild, unerschütterlich in seiner Spitzenposition
Mit starkem industriellen Kern, der den Strukturwandel dank Weltmarkt-Stärke überdauert hatte. Mit einer niedrigen Arbeitslosenquote, die im Kern des Reviers unerreicht war. Ächzen andere Ruhrgebietsstädte seit Jahrzehnten unter erdrückend hohen Soziallasten, durfte Mülheim lange für sich reklamieren, wirtschaftlich die Speerspitze der Metropolregion zu sein. Ein Aushängeschild, ein Mutmacher, unerschütterlich in seiner Spitzenposition.
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Vergangenheit. Etliche hundert Arbeitsplätze bei den Industrie-Schwergewichten sind allein in den vergangenen Jahren verloren gegangen. Mülheim hat keine Antwort gefunden, hat den Mumm vermissen lassen, darauf zu reagieren, dem Wirtschaftsstandort eine neue Perspektive zu schaffen. Wie wichtig war Teilen der Politik doch die Einrichtung eines Wirtschaftsausschusses. Wie traurig lasen sich schließlich die Tagesordnungen, auf dem die Wirtschaftsentwicklung nur eine Randnotiz blieb.
Vieles ist unter der eklatanten Führungsschwäche im Rathaus verpufft
Ja, es gab eine Veranstaltung unter dem Titel „Stärkungsinitiative Industrie“. Auch sie ist, wie vieles andere, unter der eklatanten Führungsschwäche im Rathaus verpufft. Weil allen voran OB Ulrich Scholten seiner Verantwortung als Lenker, als Visionär einer Stadt, als ausgleichende Kraft für den politisch zersplitterten Stadtrat ein Komplettausfall war. Wirtschaftlich hat Mülheim zu lange auf seine Substanz gesetzt und sich der Zukunft verweigert.
Nicht umsonst etwa schüttelt die Leitung der Hochschule Ruhr West mit dem Kopf, dass es auch mehr als zehn Jahre nach der Hochschulgründung keine Strategie gibt, wie das Potenzial des Wissenschaftsstandortes für die Stadtentwicklung, für die Prosperität Mülheims zu nutzen wäre. Gründerzentrum oder etwa eine Initiative, in zahlreich leerstehenden Büroimmobilien der Stadt Raum zu schaffen für innovative Geschäftsideen: Fehlanzeige!
Mülheim lässt seinen hoch defizitären ÖPNV seit Jahren einfach weiterrollen
Wo soll es hingehen mit Mülheim? Der Leitbild-Prozess, den Scholtens Vorgängerin Dagmar Mühlenfeld initiiert hatte, ist unter Scholten komplett zum Ruhen gekommen. Die Stadt trudelt seit Jahren ohne Kapitän, ohne Ziel über die Ruhr.
Mülheim 2020. Es gibt keine Strategie für die Stadtentwicklung. Manko auch: Der Stadtrat schiebt in wesentlichen Problemfeldern Entscheidungen vor sich her. Wie teuer das die Stadt kommt, zeigt sich seit mindestens einem Jahrzehnt in der ÖPNV-Debatte. Mülheim leistet sich einen außerordentlich defizitären Nahverkehr – eine konsequente Gegensteuerung bleibt aber aus. Hunderttausende Euro sind verprasst für Gutachten. Alles umsonst. Da gibt es ein Hin und Her über die Anbindung etwa von Mintard oder dem Rumbachtal – anstatt diese Fragen mal endlich im Rahmen eines Gesamtkonzeptes für die ÖPNV-Zukunft abzuhandeln.
Der neue Stadtrat erbst reichlich alte Großbaustellen
Der neue Stadtrat erbt reichlich dieser alten Baustellen, inklusive frappierender Luftnummern im Etat wie eben die zur Haushaltssanierung eingeplanten 13 Millionen Euro im ÖPNV und beim Personal. Pauschal ist die Einsparung seit nun mehr zwei Jahren beschlossen, mit Inhalt gefüllt aber immer noch nicht. Der neue Stadtrat wird es ausbaden müssen – zusätzlich zur Mammutaufgabe, die Corona-Krise auch finanziell zu bewältigen.
Man tut der ehrenamtlichen Politik der vergangenen fünf Jahre Unrecht, wenn man behauptet, sie allein trage Verantwortung für die Mausestarre, in der sich die Stadt befindet. Ängstlich, sich auch nur einen Zentimeter in irgendeine Richtung zu bewegen. Der Stadtrat ist schon 2014 in einer so verfahrenen Situation eingestiegen, dass beherzter Gestaltungswillen mitunter abprallen musste an dem Veto des Schlamassels: Ohne Moos, da ist eben wenig bis nix los (zu machen).
Stadt und Bürger fremdeln wie nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg
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Auch tut man den ehrenamtlichen Kommunalpolitikern Unrecht zu behaupten, sie hätten nichts bewegt und entschieden. Aber leider haben sich die Entscheidungen meist auf Dinge konzentriert, für die ohnehin eine breite Mehrheit steht. Der Stadtrat hat es im Klein-Klein-Gezänk der politischen Fraktionen aber nicht verinnerlicht, dass es längst Zeit gewesen wäre, an einem Strang zu ziehen, um die wesentlichen Probleme in den Griff zu bekommen.
Mülheim 2020. Wahrscheinlich haben Stadt und Bürger nie zuvor in den Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg so derart gefremdelt wie heute. Symbole für die Divergenz zwischen Bürgerwillen und politischen Entscheidungen gibt es zuhauf. Für den Rathausmarkt, für die Innenstadt insgesamt hatten die Bürger vor Jahren bei der Innenstadt-Charrette überaus deutlich gemacht, was sie sich wünschen.
VHS oder Rathausmarkt stehen für das Ignorieren des Bürgerwillens
Man schaue sich den Rathausmarkt 2020 an: Es ist beschämend, was herausgekommen ist aus der Bürgerbeteiligung, für die sich die Stadt hat feiern lassen, für die reichlich öffentliche Gelder vergeudet wurden. Schweigen wir jetzt mal zum VHS-Gebäude in der Müga. Hier haben die Mülheimer der Stadtverwaltung und der Ratsmehrheit in aller Deutlichkeit ihren Unmut gezeigt. Geerntet haben sie auch hier: Ignoranz. Erst vor der Wahl kommen die Verweigerer plötzlich mit Ideen. . .
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Wir sehen vor uns, wie bedauerlicherweise überall in Deutschland, eine tief gespaltene Stadtgesellschaft. Sie gilt es zusammenzuführen. Dialog ist gefragt. Dialog, der auf Kompromiss ausgerichtet ist, der aber zukunftsträchtige, klare Ergebnisse liefert. Dialog, der ehrlich ist, der die andere Meinung nicht nur sprechen lässt des Angebots halber, es mal gesagt haben zu dürfen. Es muss ein Dialog der Gleichberechtigung, des Ernstnehmens her.
Neuer Stadtrat und OB haben Mammutaufgaben zu bewältigen
Die Zukunft des ÖPNV muss unter effizientem Geldeinsatz schleunigst gestaltet werden. Es braucht Antworten auf die Krise des Wirtschaftsstandortes, auf die wachsenden sozialen Verwerfungen, auf den Klimawandel. Lösungen müssen her, wie der OGS- und Kita-Ausbau, der Erhalt von Gebäuden (inklusive VHS) zu finanzieren sein soll. Das Hickhack um den Flughafen ist zu beenden. Warum nicht per Ratsbürgerentscheid den Souverän entscheiden lassen, wenn Politik dazu seit Jahrzehnten nicht in der Lage ist?
Auf den Gewerbeflächenmangel gibt es weiter keinerlei Antwort. Nur zu sagen, erst einmal sollten unternutzte, brach liegende Flächen wieder unter Last kommen, ist nicht absehbar zielführend. Enteignen wird die Stadt die Flächeneigentümer nicht können, die seit Jahren auf ihren Grundstücken sitzen und keinen Hang zur Entwicklung verspüren. Freilich ein Dilemma, aber mehr als intensiv zu betteln bliebe der Stadt nicht.
Warum gibt Mülheim so viel mehr Geld aus als Gelsenkirchen?
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Es ist weiter intensiv nach nachhaltigen Einsparmöglichkeiten zu forschen. Im Vergleich etwa zum deutlich strukturschwächeren, seit viel längerer Zeit gebeutelten Gelsenkirchen weist der Mülheimer Haushalt deutlich höhere Personal- und Sozialausgaben pro Einwohner aus. Gibt Mülheim für das Verwaltungspersonal 1087 Euro pro Einwohner und Jahr aus, sind es in Gelsenkirchen nur 741 Euro. Wendet Mülheim im Sozialetat 2344 Euro pro Bürger und Jahr auf, sind es in Gelsenkirchen nur 1878 Euro. Wie kann das sein? Das ist den Bürgern nachvollziehbar zu erklären. Und gegebenenfalls ist schleunigst gegenzusteuern.
Es braucht wieder Führung im Rathaus, eine professionelle dazu. Eine Führung des Dialogs, des Ausgleichs, der Entscheidungsfreude. Des Willens, voranzugehen und Widerstände auszuhalten. Nur so gelingt der Weg aus der Krise.
Eine eminent wichtige Kommunalwahl: Bitte gehen Sie wählen!
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Liebe Leser! Am Sonntag ist Kommunalwahl. Es ist eine eminent wichtige Wahl für unsere Stadt. Gehen Sie bitte wählen! Und schauen Sie genau hin, wer tatsächlich eine Strategie für diese Stadt hat, wer eine Vorstellungskraft davon hat, wie wir Mülheim für unsere Kinder und Enkel gestalten können. Dauernörgler werden nichts bewegen. Ebenso nicht die Unentschlossenen. Und vor allem nicht diejenigen, die zu Problemlösungen in dieser Stadt nichts zu sagen haben. In diesem Sinne: Mölm boowenaan!