Detmold. Ellena und Dennis Siegmund aus NRW haben drei Kinder mit Autismus. Wir haben die Familie mehrere Tage in ihrem Alltag begleitet.
Aidan steht vor der Haustür und pustet Seifenblasen in den strömenden Regen. Sie platzen sofort. Aber das stört den Fünfjährigen nicht. Immer wieder holt er tief Luft und pustet so fest er kann. Morgens keine Seifenblasen zu machen, ist keine Option, weiß seine Mutter. „Wenn Aidan seine Blubbiblasen nicht machen kann, steigt er nicht in den Bus ein, der ihn zur Kita fährt“, sagt Ellena Siegmund. „Dann haben wir keine Chance.“ Der Bus fährt vor, Aidan schraubt die Seifenblasendose zu, steigt ein und fährt winkend davon. „Glück gehabt“, sagt die 43-Jährige und atmet hörbar aus.
Aidan ist Autist. Genau wie sein Bruder Lewis (7) und sein Bruder Jamie (15). Wir haben die Familie drei Tage lang begleitet. Ihre Geschichte zeigt, vor welchen Problemen Eltern mit autistischen Kindern in ihrem Alltag stehen. Und wie schwierig es für sie ist, den Anforderungen der Gesellschaft, des Umfelds und auch an sich selbst gerecht zu werden.
„Keine Sorge, ich tue ihm nichts, mein Sohn ist Autist“
Jeden Morgen um sieben Uhr steht Ellena Siegmund also mit ihrem Sohn vor der Tür – bei Hitze, Schnee und Hagel. Und jeden Morgen hofft sie, dass alles gut geht. Im besten Fall darf nichts von ihrem gewohnten Tagesablauf abweichen. Im schlechtesten Fall eskaliert die Situation: Wenn die Seifenblasen leer, sie in einer neuen Umgebung im Urlaub sind oder der geliebte Spielzeug-Dino nass wird, fängt Aidan an zu schreien und Lewis spuckt um sich. Die beiden werfen sich auf den Boden, beißen und kratzen sich gegenseitig, schlagen ihre Köpfe an Wände und Fensterscheiben.
Stufen der Reizüberflutung bei Autisten
Experten sprechen von drei Stufen der Reizüberflutung bei autistischen Kindern: Overload (Überladung), Meltdown (Kernschmelze) und Shutdown (Abschalten). Beim Overload stauen sich viele verschiedene Reize an – etwa ein vorbeifahrendes Auto, das Radio und Gespräche am Nebentisch. Die Geräusche wirken ungefiltert auf die Kinder ein. Auch können etwa zu schnell nacheinander gestellte Fragen überfordernd sein. Viele reagieren mit Unruhe, Rückzug oder halten sich die Ohren zu. Einige regulieren sich selbst, in dem sie etwa singen oder hin- und herschaukeln. Können sich die Betroffenen nicht zurückziehen, kann sich ihre Situation zu einem Meltdown entwickeln. Von außen wirkt dieser wie ein Wutausbruch: Sie schreien, werfen mit Gegenständen und verletzen sich manchmal selbst, indem sie etwa mit dem Kopf gegen die Wand schlagen. Damit versuchen sie Reize zu überdecken, die sie nicht beeinflussen können. Schließlich kann es zu einem Shutdown kommen. Betroffene Kinder sind dann meist eine lange Zeit nicht mehr ansprechbar, schaukeln mit dem Körper hin und her oder liegen eingerollt in einer Decke.
Wenn Ellena Siegmund eingreifen will, wird sie manchmal getreten. „Das alles passiert aus purer Überforderung und innerem Stress“, sagt sie. Bei einem Wutanfall hat Aidan ihr schon mal die Nase gebrochen und, sie zeigt ein Foto auf ihrem Handy, „mir ein Stück Haut rausgebissen.“ Wenn die Situationen draußen eskalieren, helfe nur noch, ihre Kinder in den Schwitzkasten zu nehmen und den geschockten Passanten zuzurufen: „Keine Sorge, ich tue ihm nichts, mein Sohn ist Autist.“ Das sind die Momente, über die Ellena Siegmund abends heimlich unter der Dusche weint.
Bei immer mehr Menschen weltweit wird Autismus diagnostiziert. Vor allem Kinder sind betroffen, zeigt eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie aus den USA. Die Krankenkasse hkk hat das für Deutschland untersucht: Bei den 0- bis 24-Jährigen hat sich die Quote der Betroffenen in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Damit stieg die Zahl der diagnostizierten Fälle unter den versicherten Kindern und Jugendlichen von 0,4 auf 0,8 Prozent stetig an.
Auch interessant
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Autismus-Spektrum-Störung eine frühe und tiefgreifende Entwicklungsstörung im Gehirn ist. „Meist zeigt sie sich bei Betroffenen schon im frühen Kindesalter durch Schwierigkeiten in der Kommunikation, einem ausgeprägten Bedürfnis nach Routinen, die Sicherheit geben sowie einem auffälligen Verhalten in sozialen Interaktionen“, sagt Detlef Voos. Er arbeitet seit vielen Jahren mit autistischen Kindern und Jugendlichen im Westfälischen Institut für Entwicklungsförderung im Kreis Lippe und in Detmold. „Meinen Kindern wird häufig die Welt zu viel“, fasst Ellena Siegmund zusammen.
Formen von Autismus
Bei der Diagnose Autismus unterscheidet man meist zwischen den drei gängigen Formen Frühkindlicher Autismus, Atypischer Autismus und Asperger-Syndrom. Der Atypische Autismus unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus dadurch, dass Kinder erst nach dem dritten Lebensjahr Symptome zeigen oder nicht alle typischen Symptome aufweisen. Der Verein „Autismus Deutschland“ erklärt allerdings, dass die Unterscheidung immer schwerer wird, da zunehmend leichtere Formen der einzelnen Störungsbilder diagnostiziert w erden. Heute wird daher häufig der Begriff der Autismus-Spektrum-Störung als Oberbergriff für autistische Störungen verwendet. Das Asperger-Syndrom unterscheidet sich laut Verein von anderen Autismus-Spektrum-Störungen vor allem dadurch, dass oft keine Entwicklungsverzögerung in der Sprache, Wahrnehmung oder im Denken vorliegt. Die meisten Menschen haben in Teilgebieten sogar eine besonders hohe Intelligenz. Auffälligkeiten zeigen sich bei ihnen oft in der sozialen Interaktion.
Das merkt man bei ihren Kindern, noch bevor morgens der Wecker klingelt. Es ist vier Uhr in der Nacht. Lewis wacht auf, Aidan dreht sich unruhig hin und her. Er liegt unter einer schweren Gewichtsdecke, die ihm Ruhe geben soll. Lewis spielt jetzt mit seinen Plastik-Dinos. Die lateinischen Namen der über 100 Spielfiguren kennt er auswendig. Auch Aidan ist jetzt wach und hüpft auf seinem Bett herum.
Meist schlafen die beiden nicht mehr als vier Stunden. Zwei Stunden später klingelt schließlich der Wecker bei Ellena und ihrem Mann Dennis Siegmund. Zeit, die Kinder für Schule und Kita fertig zu machen. Die Kleidung haben sie den Jungen schon am Vorabend rausgelegt, „denn wenn sie sich die selbst raussuchen würden, dann würde es am frühen Morgen schon Geschrei aus Überforderung geben.“
Um 10.30 Uhr sitzt Ellena Siegmund am Küchentisch in ihrer „Ballerburg“. So nennt sie das Einfamilienhaus in Leopoldstal, einem kleinen Dorf in der Nähe von Detmold. Überall im Esszimmer hängen Familienfotos, auf denen alle fünf glücklich in die Kamera lächeln. Kerzen tauchen die Eichenholz-Möbel in ein warmes Licht. Hier und da steht eine Dino-Figur herum. Sie nippt an ihrem Kaffee. Es ist ihr fünfter an diesem Morgen. Aidan ist im Heilpädagogischen Kindergarten, Lewis in der Grundschule, wo er von einer Integrationskraft begleitet wird. Jamie geht aufs Gymnasium.
Mutter aus NRW: „Die Kinder sind ein Vollzeit-Job“
Jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind, widmet sich die dreifache Mutter ihrem täglichen Papierkram. Arzttermine für Aidan machen, den Schwerbehindertenausweis für Lewis beim Amt neu beantragen (da hatte die Behörde einen Fehler gemacht), Medikamente für Jamie bestellen und eine Erklärung an die Krankenkasse schreiben, warum sie gleich zwei spezielle Reha-Kinderwagen brauchen, das sind nur einige Punkte auf ihrer Liste. Ihr Mann Dennis saugt währenddessen das Haus. Arbeiten gehen die beiden im Moment nicht, „die Kinder sind ein Vollzeit-Job“, sagt die gelernte Kfz-Mechatronikerin.
Sie holt eine lange, handgeschriebene Liste hervor. Darauf stehen die Stellen, mit denen sie und ihr Mann wegen ihrer Kinder regelmäßig in Kontakt sind:
- Apotheken
- Drachenpaten
- Integrationskraft Schule
- Jugendamt
- Krankenkasse
- Krankenhaus Detmold
- Krankenhaus Paderborn
- Kinderärzte
- Kinder- und Jugendpsychiatrie
- Logopädie
- Landschaftsverband Westfalen-Lippe (bezüglich der Heilpädagogischen Kitaplätze)
- Motopädie
- Orthopädie
- Pflegekasse
- Pflegedienst
- Sanitätshaus (für Bestellungen, wie etwa dem Pflegebett, Autositz, Reha-Kinderwagen)
- Sozialgericht
- Schwerbehindertenstelle (um den Ausweis zu beantragen)
- Westfälisches Institut für Entwicklungsförderung (Autismus-Therapie)
Bei ihrem ältesten Sohn Jamie wurde in der Grundschule die Autismus-Variante „Asperger-Syndrom“ diagnostiziert, beim zweiten Sohn Lewis kam die Autismus-Diagnose mit etwa drei Jahren.
„Er hat als Baby viel geschrien und ist als Kleinkind oft angeeckt. Reize von außen haben ihn schnell überfordert“, erzählt die dreifache Mutter. Niemals habe sie allerdings damit gerechnet, dass auch ihr dritter Sohn Autismus haben könnte.
„Es fing damit an, dass Aidan in der Kita schnell aggressiv wurde und um sich geschlagen hat. Niemand konnte ihn beruhigen. Die Erzieherin rief mich verzweifelt an und sagte, dass ich ihn abholen müsse“, erzählt Ellena Siegmund.
„Ich habe mich gefragt: Versage ich hier gerade als Mutter?“
„Zu sehen, dass mein Kind immer wieder mit dem Kopf vor die Wand rennt und versucht, sich selbst zu verletzen, hat weh getan. Ich habe mich so ohnmächtig und hilflos gefühlt. Mein Kind hat versucht mir etwas zu sagen und ich habe es nicht verstanden. Ich habe mich gefragt: Versage ich hier gerade als Mutter?“ Ihre Stimme stockt, als sie sich an den Moment erinnert, an dem sie weinend zum Hörer gegriffen und den Kinderarzt angefleht hat: „Bitte helfen Sie mir. Ich kann nicht mehr.“
Nachdem sie ein Gespräch mit Lewis‘ Autismus-Therapeutin hatte und bevor sie Jamie gleich zu zwei Ärzten begleiten wird, läuft Ellena Siegmund in schnellen Schritten wieder zu ihrem Auto. Ihre Schultern sind angespannt, den Autoschlüssel umklammert sie fest in ihrer Faust. „Jetzt gerade würde ich gerne mit mir allein sein und einen Kaffee in der Sonne trinken“, sagt sie. „Stattdessen werde ich jetzt wieder in diese Gurke steigen und durch die Gegend kurven.“ Sie zeigt auf den kleinen Opel Corsa. Und bleibt plötzlich am Zaun eines Vorgartens stehen, aus dem große rosafarbene Blumen herausragen. Vorsichtig nimmt sie eine der Blüten in die Hand. „Oh, sind die schön.“ Ihre Schultern entspannen sich wieder. „Danke“, sagt sie und lächelt.
Auch interessant
Es ist 19 Uhr. Ellena Siegmund steht am Herd und rührt in der Bolognese. Ihr Mann Dennis puzzelt mit den Kindern. Kurz kommt er in die Küche. Die beiden lächeln sich an. „Hast du auch so Rückenschmerzen?“, fragt sie ihn. „Oh ja“, antwortet er. Aidan zieht an seinem Hosenbein. „Naja, die Pflicht ruft wieder“, sagt Dennis und lacht. „Halt durch, bis später“, antwortet Ellena. Das waren die einzigen Wörter, die das Paar an diesem Tag miteinander gewechselt hat.
„Ich hätte gerne wieder mehr Zeit mit Dir allein, Ellie“
Abends treffen sich die beiden auf dem Sofa. Ellena Siegmund hat sich ein Bier geöffnet. Das Paar hat sich während der gemeinsamen Ausbildung in der Kfz-Werkstatt kennengelernt. „Wann haben wir eigentlich das letzte Mal etwas zusammen unternommen?“, fragt Ellena Siegmund. Sie kann sich nicht daran erinnern, wann sie mit ihrem Mann mal im Kino oder im Restaurant gewesen ist. „Ich hätte gerne wieder mehr Zeit mit Dir allein, Ellie“, sagt Dennis, bevor die beiden ins Bett gehen.
Abends im Bett werde sie manchmal nachdenklich, erzählt Ellena Siegmund. Für ihre Kinder gibt sie jeden Tag alles, opfert ihren Job, Freundschaften, Zeit mit ihrem Mann. „Doch meine Zeit ist endlich“, sagt sie leise. „Was passiert mit den Kindern, wenn wir nicht mehr da sind?“ Ihre Stimme stockt. Jamie möchte später nach Amerika auswandern, Lewis und Aidan möchten Amazon-Chefs werden. Ellena Siegmund lacht bei dem Gedanken. „Ich glaube, dass sie alles schaffen können.“ Ihre Stimme wird wieder fester. „Und bis dahin werden meine Kinder hier das coolste Leben bekommen, was sie sich vorstellen können.“
+++ Wir bieten Ihnen auch bei WhatsApp regelmäßig Themen rund um den Familienalltag. Hier finden Sie uns bei WhatsApp +++
Weitere Texte rund um das Thema Gesundheit
- Ihr letztes Fest: Weihnachten im Hospiz
- Julien (19): „Ich war ein Frühchen“
- Petra Ottersbach: Krankenschwester seit 41 Jahren
- Pumper mit 100? Gerhard Ziems setzt auf Kieser-Krafttrainig
- Bauchspeicheldrüsenkrebs: Das sind die ersten Alarmzeichen
- Herzinsuffienz: Ursachen, Symptome, Vorbeugung
- Palliativ: Heißt das Endstation?
- Demenz-Konzept Gammeln
- Darmkrebspatient: Ich glaube nicht, dass bald Schicht ist
- Nach WHO-Warnung vor Mpox: Sorge vor „Affenpocken“ im Ruhrgebiet
- Was hat Ernährung mit Krebs zu tun?
- Hoffen auf ein Spenderorgan – Sterben auf der Warteliste
- So gefährlich ist Weißer Hautkrebs
- Schwarzer Hautkrebs: Das versprechen die neuen Therapien
- No Chemo: Anke Hoppe besiegte den Brustkrebs dennoch