Detmold. Bei immer mehr Kindern wird Autismus diagnostiziert. Experte Detlef Voos aus NRW erklärt, wie die Diagnose funktioniert – und was sie bedeutet.
Wenn ein Kind die Diagnose Autismus erhält, verändert sich das Leben der Familie oft schlagartig. Sie steht vor Fragen und Hürden. Laura Lindemann hat mit Detlef Voos vom Westfälischen Institut für Entwicklungsförderung darüber gesprochen, warum Autismus bei Kindern immer häufiger diagnostiziert wird und welche Hilfe betroffene Familien brauchen.
Immer mehr Kinder erhalten die Diagnose Autismus. Woran liegt das?
Detlef Voos: Genau lässt sich das nicht sagen. Ich denke, dass die Gesellschaft mehr für das Thema sensibilisiert ist als früher. Zum einen diagnostiziert man jüngere Kinder und zum anderen kommen immer mehr Erwachsene, die sich Klarheit verschaffen wollen. Auch Mädchen werden häufiger diagnostiziert, sie wurden früher eher übersehen, da Autismus lange Jahre als Behinderung von Jungen galt. Autismus lässt sich zurzeit nicht durch medizinische Tests, im Blut oder in den Genen feststellen. Wir sind auf eine gute Anamnese, gute Beobachtungen und Tests angewiesen. Dass insgesamt mehr Diagnosen gestellt werden, liegt auch an der besseren Schulung von Ärztinnen und Ärzten. Aufpassen müssen wir, dass der Begriff nicht inflationär genutzt wird. Da müssen auch wir Therapeuten aufmerksam bleiben.
Inwiefern?
Das bloße Etikett „Autismus“, nur weil ein Kind etwas ruhiger, zurückgezogener und vielleicht schlauer wirkt, wird dem einzelnen Kind nicht gerecht. Insbesondere, wenn es Unterstützung braucht. Es geht nicht darum, schnell eine Schublade zu finden, sondern für die betroffene Familie und ihrem Kind durch eine fundierte Diagnose ein entsprechendes Hilfs- und Therapieangebot zu machen, damit ihr Leidensweg nicht länger wird.
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Woran erkennt man einen Autisten?
Autismus ist eine komplexe, frühe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Man kann Autismus beziehungsweise Autismus-Spektrum-Störungen auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung verstehen. Sie wirken sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires aus. Die Merkmale des frühkindlichen Autismus zeigen sich bereits vor dem dritten Lebensjahr und in drei Bereichen ganz besonders deutlich: im sozialen Umgang mit Mitmenschen, in der Kommunikation und in sich wiederholenden und stereotypen Verhaltensweisen.
Formen von Autismus
Bei der Diagnose Autismus unterscheidet man meist zwischen den drei gängigen Formen Frühkindlicher Autismus, Atypischer Autismus und Asperger-Syndrom. Der Atypische Autismus unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus dadurch, dass Kinder erst nach dem dritten Lebensjahr Symptome zeigen oder nicht alle typischen Symptome aufweisen. Der Verein „Autismus Deutschland“ erklärt allerdings, dass die Unterscheidung immer schwerer wird, da zunehmend leichtere Formen der einzelnen Störungsbilder diagnostiziert w erden. Heute wird daher häufig der Begriff der Autismus-Spektrum-Störung als Oberbergriff für autistische Störungen verwendet. Das Asperger-Syndrom unterscheidet sich laut Verein von anderen Autismus-Spektrum-Störungen vor allem dadurch, dass oft keine Entwicklungsverzögerung in der Sprache, Wahrnehmung oder im Denken vorliegt. Die meisten Menschen haben in Teilgebieten sogar eine besonders hohe Intelligenz. Auffälligkeiten zeigen sich bei ihnen oft in der sozialen Interaktion.
Was ist die Ursache für Autismus?
Die Ursache ist bis heute nicht vollständig geklärt. Bei der Entstehung spielen mit Sicherheit mehrere Faktoren eine Rolle. Genetische Einflüsse und biologische Abläufe vor, während und nach der Geburt können die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen und eine Autismus-Spektrum-Störung auslösen. Sicher ist auch, dass Autismus-Spektrum-Störungen nicht durch Erziehungsfehler oder familiäre Konflikte entstehen.
Vor welchen Problemen stehen betroffene Familien im Alltag?
Menschen aus dem Autismus-Spektrum verarbeiten Sinneseindrücke anders. Sie nehmen die Welt anders wahr als ihre neurotypischen Mitmenschen. Sie haben Mühe, Reize zu verarbeiten und zu filtern, sie neigen dadurch zu Überreaktionen und sind dann nicht mehr in der Lage zur Selbstregulation, mit einer Spannbreite von „völlig außer sich geraten“ bis hin zum äußeren und inneren Rückzug. Sie reagieren oft über- oder unterempfindlich auf Lärm, Licht oder Gerüche oder auf Veränderungen in ihrem Alltag. Sie reagieren darauf mit Stress, Angst und oder Schmerz.
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Häufig richtet sich der gesamte Tagesablauf der Familie nach dem autistischen Kind, um seinem Bedürfnis nach Routine gerecht zu werden. Je nach Diagnose haben autistische Kinder unterschiedliche Ansprüche, diesen nachzukommen ist oft wie ein Vollzeitjob und auch für die Geschwisterkinder äußerst belastend. Auch der Umgang im eigenen Umfeld kann Familien belasten – etwa wenn die Großmutter sagt, dass das Kind nur mal richtig erzogen werden muss, befreundete Eltern es mit ihrem gesunden Kind vergleichen oder die Familie im Bus schief angeschaut wird, wenn sich das Kind schreiend auf dem Boden wälzt. Zudem fühlen sich viele Eltern autistischer Kinder einsam. Sie funktionieren häufig nicht mehr als Paar oder treffen nur noch selten Freunde, weil sie so in die Erziehung eingebunden sind.
Was kann die Familien entlasten?
Es braucht dringend mehr Akzeptanz und weniger Vorurteile in der Gesellschaft, damit Familien mehr an ihr teilhaben können. Außerdem sind viele Abläufe noch zu bürokratisch. Eltern rennen häufig von Amt zu Amt, da sollte es gebündelte Anlaufstellen und Hilfen geben. Und es braucht Mentoren, die Eltern durch den Bürokratie-Dschungel führen. Ein Vermittler zwischen Familien und Hilfesystem wäre darüber hinaus sinnvoll, um mögliche Missverständnisse und Konflikte zu vermeiden. In Lippe wird mittlerweile vorbildlich ein Lotsensystem etabliert.
Betroffene Eltern brauchen wie ihre Kinder Hilfe, aber auch Entlastungsmöglichkeiten. Neben Therapie wäre ein Netz aus Freizeitbetreuung und Urlaubsangeboten, auch Kurzzeitpflege, sehr unterstützend. Auch Eltern brauchen mehr Vernetzung untereinander, um sich gegenseitig auszutauschen und unterstützen zu können.
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