Essen-Rüttenscheid. Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung ecken oft an und kämpfen mit Vorurteilen. In einem Essener Zentrum bekommen sie Hilfe.
Hugo Hollweg (15) kann Autos hören, auch wenn sie noch über 100 Meter entfernt sind. In seinem Kopf ist es oft kompliziert. Manchmal kann er nicht richtig ausdrücken, was in ihm vorgeht. Bei Klassenarbeiten verzettelt er sich und kommt nicht auf den Punkt. Dafür kann er sich aber extrem viele Dinge merken und unzählige Details wiedergeben. Hugo lebt mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung.
Hilfe bekommt Hugo im Autismus-Zentrum-Essen, das vor kurzem sein zehnjähriges Bestehen gefeiert hat. Die Einrichtung an der Rüttenscheider Annastraße bietet Therapien für Menschen im Autismus-Spektrum an, eine Diagnostik wird dort nicht durchgeführt. Ursula Enders-Lorenz hat die therapeutische Leitung des Zentrums inne. Ihrer Erfahrung nach dauert der Weg bis zur Diagnose häufig rund zwei Jahre.
Autismus-Zentrum-Essen: Diagnose wird häufig im Kindes- und Jugendalter gestellt
„Oft wird die Autismus-Therapie angefragt, wenn es Richtung Schule geht“, erklärt die Heilpädagogin, Erzieherin und systemische Beraterin. Uns erreichen Anmeldungen ab dem frühen 3. Lebensjahr. Die Diagnose umfasst ein weites Spektrum von unterschiedlichen Ausprägungen. Auch Diagnosen im fortgeschrittenen Kindesalter und Jugendalter (zwischen zwölf und 17 Jahren) kämen häufig vor. Aktuell erhalte das Autismus-Zentrum-Essen aber auch immer mehr Anfragen von Menschen, die erst spät die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung bekommen haben.
Dazu gehört Katrin Kramer (41)*. Die Juristin hat mit 37 Jahren die Diagnose Autismus bekommen. „Ich war wegen Depressionen und Burnout in Behandlung“, erzählt sie. „Eine Mitpatientin sagte auf einmal zu mir: Kann das sein, dass du Autistin bist?“ Relativ schnell habe sie einen Platz zur Diagnostik in Düsseldorf bekommen. Dort bestätigte sich der Verdacht.
Leben mit der Autismus-Spektrum-Störung: „Ich bin immer angeeckt“
Rückblickend habe alles Sinn ergeben, sagt Kramer. „Ich bin immer angeeckt.“ Sie erinnert sich, dass sie sich bei einer Familienfeier versehentlich nur von zwei Gästen verabschiedet habe, nicht aber von allen Anwesenden. Dass sich dann jemand anderes darüber ärgerte, habe sie nicht verstanden. Als ihr der Fauxpas auffiel, sei sie dann zur Veranstaltung zurückgekehrt und habe sich erst im Nachhinein von den übrigen Personen verabschiedet. Generell empfindet sie bis heute soziale Konventionen als Stolpersteine.
Als Kind und Jugendliche habe es ihr großen Spaß gemacht, Busfahrpläne auswendig zu lernen. Und als sie viel später mit einem Mitpatienten in der Klinik, in der sie sich wegen ihrer psychischen Probleme befand, Plätzchen backte und dieser alles kreuz und quer liegen ließ, sei das für sie „das Schlimmste der Welt“ gewesen. Mit ihrem Bedürfnis nach Struktur und Ordnung sei diese Situation schwer erträglich gewesen.
In der Autismus-Ambulanz in Düsseldorf sei ihr die Störung gleich unabsichtlich vor Augen geführt worden. „Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie hierhin kommen sollen?“, habe man dort gefragt. Gemeint gewesen sei die Motivation, sich in die Diagnostik zu begeben.
„Ich habe konkret auf die Frage geantwortet: die Sekretärin“, sagt Kramer. Das habe ihr gezeigt: Sie könne die Intention ihres Kommunikationspartners oft nicht erkennen, sondern nur den reinen Sachinhalt der Frage oder Aussage. Auch Sprichwörter nehme sie manchmal einfach wörtlich.
Essener Heilpädagogin: Autistische Kinder geraten manchmal mit anderen aneinander
Zudem habe sie ein großes Gerechtigkeitsbedürfnis, mische sich gern ein, wenn jemand ungerecht behandelt werde, könne allgemein Fehler nicht leiden und korrigiere ihr Umfeld entsprechend. „Mein Biologielehrer hat mal etwas Falsches gesagt, darauf habe ich ihn hingewiesen. Da gab es schlechte Laune“, erinnert sich Kramer. Dass ihre Entgegnung bei dem Lehrer wahrscheinlich nicht gut ankommen würde, habe sie nicht erkennen können.
Solches Verhalten zeige sich auch häufig bei autistischen Kindern, ist Enders-Lorenz‘ Erfahrung: „Regeln geben ihnen Orientierung im komplexen sozialen Miteinander. Sie haben eine Regel gelernt und diese Regel soll eingehalten werden.“ Das könne allerdings zu Konflikten mit anderen Kindern führen. Denn wenn ein Kind diese Regelverstöße an eine Aufsichtsperson weitergebe, heiße es schnell: „Der petzt.“
Im Autismus-Zentrum lernten die Klientinnen und Klienten unter anderem, dass die Gedanken in den Köpfen von anderen Menschen mitunter ganz anders aussehen als im eigenen. In der Therapie werde geübt, die Perspektive zu wechseln, um das Verhalten der anderen Personen verstehen zu können und Missverständnisse zu vermeiden.
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Klassenarbeit mit Autismus: Nervosität, Blackout
Hugo sagt über seine Diagnose: „Ich habe selbst gemerkt, dass etwas komisch war.“ Aus der Schule habe er immer wieder abgeholt werden müssen. „Ich kam nicht klar“, sagt er. Oft habe er die Ansagen der Lehrerinnen und Lehrer falsch verstanden. Das habe sich dann auch negativ auf dem Zeugnis niedergeschlagen, mit Müh‘ und Not habe er die achte Klasse geschafft. Vor Klassenarbeiten sei er häufig sehr nervös gewesen, habe manchmal einen Blackout bekommen.
Konkret hätten seine Probleme zum Beispiel so ausgesehen: Für eine Deutscharbeit habe er kurz einen Text zusammenfassen sollen, habe ihn dann stattdessen aber auf zwei Seiten zusammengefasst. Wenn er eine Argumentation habe schreiben sollen, die Argumente aber nicht seine waren oder ihm nicht einleuchtend erschienen, habe das für ihn keinen Sinn gemacht. Auch Kramer erinnert sich an ihre Schul- und Unizeit: „Mir ist es schwergefallen, zu erkennen: Was wird genau abgefragt? Wenn ich das Thema interessant fand, kam ich von Hölzchen auf Stöckchen.“
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Mit Vorurteilen aufräumen: „Autisten sind ganz liebe Menschen“
Hugo berichtet, dass es inzwischen besser laufe in der Schule. Er bekomme auch Unterstützung. Bei den Klassenarbeiten dürfe er Noise-Cancelling-Kopfhörer aufsetzen, das helfe ihm. Eine Lehrerin habe sich sogar die Mühe gemacht, das Aufgabenblatt für eine Arbeit in Teile zu zerschneiden und ihm alle einzeln zu geben. So habe er sich nicht so sehr zwischen den verschiedenen Aufgaben verzettelt. In anderen Punkten stimme er übrigens nicht mit dem überein, was man gemeinhin mit Autisten verbinde. Die seien oft Einzelgänger, er habe aber Freunde, mit denen er gerne Zeit verbringe.
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Auch Katrin Kramer hat ihren Umgang mit der Störung gefunden. „Meine Eltern haben gesagt: Das darfst du keinem erzählen, sonst findest du nie wieder einen Job“, erzählt sie. „Ich gehe aber trotzdem offen damit um. Sonst versteht mich ja keiner.“ Sie habe sich feste Abläufe im Alltag geschaffen. Nur wenn die mal nicht einzuhalten seien, werfe sie das aus der Bahn. Ganz wichtig ist der 41-Jährigen eine Sache: „Autisten sind ganz liebe Menschen. Sie würden nie jemanden absichtlich psychisch verletzen.“ Manipulation, Hintergedanken: So etwas gebe es bei Menschen im Autismus-Spektrum nicht.
*Name geändert. Der echte Name ist der Redaktion bekannt.
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