Essen. Sandra Maaßen ist sterbenskrank, sie lebt in einem Hospiz in Essen. Und doch freut sich die 56-Jährige auf den Heiligen Abend.
Man hört sie lachen, bevor man sie sieht. Fröhlich schwätzend kommt Sandra Maaßen mit einer Pflegerin, die den Infusionsständer für sie in den Aufzug bugsiert, aus ihrem Zimmer zum Gespräch auf die Empore. Hier steht der Tannenbaum, hier hat sie auf einem Korbsessel am Tisch die drei Weihnachtswichtel platziert, die früher bei ihr daheim auf der Margarethenhöhe standen. Hier, an ihrem Lieblingsplatz im Christlichen Hospiz Werden, will die sterbenskranke 56-jährige Essenerin reden – über ihr letztes Fest.
Die Ärzte sagten es mehr oder weniger deutlich, gleich, als sie der früheren Postbeamtin die Diagnose mitteilten: Gesund werde sie nicht mehr. Der Krebs in ihrem Dickdarm hatte schon gestreut. Sandra Maaßen erinnert sich genau, „es war am Valentinstag 2023, und es war hart“. Sie erinnert sich zudem daran, dass sie es im Grunde anmaßend fand, dass da eine Ärztin vor ihr saß und sagte: Eine Heilung ist nicht mehr möglich. „Die kannte mich ja gar nicht.“ Vor allem aber erinnert sie sich daran, dass sie die furchtbare Nachricht auch „irgendwie erleichtert“ habe. „Endlich wusste ich, was es war.“ Für ihren Mann und ihre erwachsene Tochter, sagt sie, „war es viel schwieriger“.
„Ich fühlte mich wie ein Zombie“
Sandra Maaßen ließ die ersten Chemotherapien klaglos über sich ergehen. Bei der sechsten sagte sie: Es reicht. „Ich fühlte mich wie ein Zombie.“ Durch Operationen an Leber und Darm konnten Tumor und Metastasen dennoch entfernt werden. „Seither lebe ich mit einem Stoma (einem künstlichen Darmausgang)“, berichtet Maaßen. „Aber ich galt als krebsfrei.“
Sechs Wochen lang. Dann steckten erneut Metastasen in ihrer Leber.
„Viele denken, Hospiz heißt Feierabend“
20 Kilo hat die Frau verloren, die früher begeisterte Kraftsportlerin war. Im November des vergangenen Jahres ging es ihr schlechter als je zuvor. Die Palliativstation der Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM) nahm sie auf – man gab der Patientin kaum mehr als ein paar Tage. Als sie diese Tage überlebte und ein Platz im Werdener Hospiz frei wurde, sagte sie sofort: „Da will ich hin“. Die letzte Zeit, die bleibt, daheim zu verbringen – das war nicht ihr Weg. „Die Belastung wollte ich meinem Mann ersparen.“
Also lebt Sandra Maaßen nun in diesem Hospiz in Werden, einem von 82 in NRW. Die KEM sind einer der Träger. Am 16. April zog sie ein, und sie sagt: „Das war schon ein Schritt.“ Bereut hat sie ihn nie. „Ich weiß, viele denken, Hospiz heißt Feierabend. Dass man hier auch eine gute Zeit haben kann, das denkt keiner.“ Ihr gehe es hier aber sehr gut, sie fühle sich „getragen von Sorgfalt und Liebe“ – und auch, wenn das kitschig klinge, „es ist wahr“.
„Mein letztes Weihnachten, mein letzter Geburtstag – das steckt immer im Hinterkopf“
Manchmal sei ihr langweilig, aber nie lange. Es komme ja viel Besuch, von der Familie, alten Arbeitskollegen, Nachbarn, Freundinnen – sogar Timmy, ihr Yorkshire Terrier, sei gern gesehen. „Und mein Mann freut sich schon immer auf sein Stück Kuchen.“ Im Moment ist die Essenerin zudem im „Vorweihnachtsstress“, Perlenarmbänder für alle Pflegekräfte wollen gebastelt werden.
„Wenn es jemandem gut geht, kann sein Immunsystem auch kämpfen.“
Mit dem Gedanken, dass es für sie das letzte Weihnachtsfest sein könnte, befasst sie sich nicht? „Das habe ich schon letztes Jahr“, sagt Maaßen und lacht. Um ernster nachzusetzen: „Natürlich tue ich das. Das letzte Weihnachten, der letzte Geburtstag – das steckt im Hinterkopf, immer. Aber warum soll ich mich aufregen, wenn ich es doch nicht ändern kann? Wenn es so weit ist, ist es eben so weit.“ Sie habe das bei ihrem Vater erlebt, der am Ende nur noch über seine Erkrankung habe reden wollen – und dass es „gar nichts gebracht“ habe.
„Ihre Gelassenheit nötigt uns Bewunderung ab“
Es ist diese Entspanntheit, der Eindruck, dass diese Frau mit sich im Reinen ist, der sie zu einem besonderen Gast im Hospiz macht – nicht die Tatsache, dass sie die durchschnittliche Verweildauer von 28 Tagen deutlich toppt. „Ihre gute Laune, ihre Gelassenheit nötigt uns allen große Bewunderung ab“, erklärt Pflegedienstleiterin Andrea Swoboda.
Eine bewundernswerte Einstellung – findet auch Melanie Grundmeier. Die Palliativmedizinerin der KEM betreut Sandra Maaßen im Rahmen der SAPV, der „Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung“, regelmäßig kommt sie zur Visite nach Werden. Dass sich ihre Patientin noch einmal so gut erholen würde, hatte auch sie nicht erwartet. Aber das passiere eben, sagt die Ärztin, „wenn es jemanden gut geht, weil das sein Immunsystem stärkt und der Körper gegen die Krankheit kämpfen kann.“
„Es gibt auch Tage, da weine ich nur“
Haben Sterbende keine Schmerzen? „Ich kriege ja was dagegen“, sagt Maaßen und zeigt uns ihre Schmerzpumpe, verweist auf den Infusionsbeutel. Die Metastasen in der Leber drückten etwas, ein Abszess zwischen Leber und Lunge mache immer wieder mal „Theater“, aber die Frau auf den spindeldürren Beinen, die in einer knallroten Hose stecken, fasst das unter „Wehwehchen“ zusammen; sie mag gar nicht darüber sprechen.
„Wir feiern hier viel, vier Hochzeiten sogar schon – und Weihnachten, wenn es ein Gast möchte, auch schon mal zu Ostern.“
Und was macht das mit der Seele, zu wissen, dass dieses Weihnachten das letzte sein wird? „Nun“, sagt Sandra Maaßen erstaunlich ruhig, „es gibt auch Tage, da weine ich nur. Dann lasse ich es einfach raus.“ Auch das, betont sie, sei im Hospiz einfacher als daheim: „Meine Tränen wären für meinen Mann und meine Tochter nur eine zusätzliche Belastung. Ich würde versuchen, sie vor ihnen zu verstecken, so wie sie ihre vor mir verstecken würden.“
Man schwelgt in Erinnerungen
Schwierig für sie, die schon so lange in dem Hospiz mit seinen sieben Betten lebt, sei es, andere „gehen“ zu sehen. Stirbt ein Bewohner, wird eine Laterne mit einer brennenden Kerze darin vor seine Zimmertür gestellt. Sandra Maaßen hat schon viele Laternen gesehen. „Inzwischen habe ich mich dran gewöhnt“, sagt sie, „aber anfangs war das ein ganz komisches Gefühl.“
Und sicher, „ja klar“, sei diese Lebensphase eine, in der man Bilanz ziehe, sein Leben analysiere. „Man schwelgt in Erinnerungen....“. Und? Welchen Moment würde sie am liebsten noch einmal erleben? „Unseren letzten Wanderurlaub in Tirol, mit unserer kurz darauf verstorbenen Hündin – den würde ich gerne wiederholen können!“ Und welche Sache in ihrem Leben bedauert sie am meisten? Blöde Frage, findet Maaßen: „Auf die Krebsdiagnose hätte ich wirklich verzichten können.“
Auf Insta schon von den Followern verabschiedet
„Es wäre schön“, sagt sie, „wenn ich eines Morgens aufwache und jemand sagt: War alles nur ein schlimmer Traum.“ Aber sie hoffe nicht mehr auf ein Wunder. „Das wäre unrealistisch“. Auf Instagram hat sie sich von ihren Followern bereits offiziell verabschiedet.
„Meine Tochter macht Raclette an Heiligabend. Ich darf mich hinsetzen und glücklich sein.“
Kann man in dieser Lage überhaupt noch Weihnachten „feiern“? „Ich kann!“, sagt Sandra Maaßen. Die Planung stehe: Den Heiligen Abend werde sie daheim verbringen, mit ihrem Mann, der Tochter, dem Schwiegersohn und Timmy, dem Terrier. „Die Tochter macht Raclette, ich darf mich hinsetzen und glücklich sein. Ich freue mich so darauf!“
Aber was kann man einer Sterbenden zu Weihnachten schenken? „Mit dem Wünschen bin ich durch“, wehrt Sandra Maaßen ab. Eine ganze Weile später fällt ihr doch etwas ein: „Ich wünsche mir“, sagt sie und guckt dabei zum ersten Mal ein wenig traurig, „dass man mich als eine Nette in Erinnerung behält.“