Kleve. Weihnachten feiert der Mann aus Kleve Geburtstag, ins Studio geht er zweimal pro Woche. Der Trainer nennt ihn eine „Inspiration“.
„Mein Sohn hat mich getreten, der dritte von meinen vieren“, sagt Gerhard Ziems. So, als ob er es dem Sohn noch immer nachtrage, dass der ihn in einem Kieser-Studio anmeldete, damals, „um die Jahrtausendwende“, als der Rücken sich zu runden begann. Dabei fand Gerhard Ziems rasch Gefallen am Krafttraining, er blieb dabei. 25 Jahre nun schon. Heute ist der Mann aus Kleve der bundesweit wohl älteste Kieser-Kunde: Am 25. Dezember wird Gerhard Ziems 100. „Und ab 95 dünnt es doch etwas aus“, sagt „Instructor“ Steven Konikowski.
„Ich will nicht reden“
Der schlanke Mann, der da an diesem Morgen strammen Schrittes ins Klever Kieser-Studio marschiert, ist ein alter Mann, sicher. Auch ein gebeugter Mann mit stark gekrümmter Brustwirbelsäule. Aber ein erstaunlich kräftiger, flinker, beweglicher. Einer, der allein lebt, in einer eigenen Wohnung in einem Altenheim. Und es ist ein Mann klarer Ansagen – mit zunächst wenig Begeisterung für das verabredete Gespräch. „Ich will nicht reden“, sagt der 99-Jährige unwirsch, als er sich an die erste Maschine setzt, „ich will meine Übungen machen.“
Wir dürften aber zuschauen.
Das tun wir – und staunen: So konzentriert zieht der frühere „Nervenarzt“ sein Programm durch. Rund ein Dutzend der insgesamt 28 Maschinen im Klever Kieser-Kompakt-Studio, dem kleinsten der bundesweit 138 der internationalen Kette, nutzt er für sein Krafttraining. Zehn Wiederholungen strebt der 99-Jährige jeweils an. An mancher Maschine schafft er an diesem Tag mehr, an zweien weniger. Mit zitternden Muskeln, geschlossenen Augen, zusammengebissenen Zähnen und beschlagener Brille absolviert er an jedem Gerät die letzte Wiederholung.
„Die Bauchpresse ist besonders bei den Damen beliebt“
Die einzelnen Maschinen trainieren unterschiedliche Muskelgruppen, alle Bewegungen sind „geführt“, teils computerunterstützt, auch um die Verletzungsgefahr gering zu halten. „Die D6, das Brustdrücken, ist am schwersten“, erklärt Ziems dann doch, zwischen zwei Durchgängen. Es ist seine „Hassübung“, sagt er: „Muss man aber auch machen.“ Die F2, die Bauchpresse, an die er sich danach setzt, sei „besonders bei den Damen beliebt“. „Aber wir Männer haben das doch auch nötig“, findet er. An der F3, die den Rückenstrecker trainiert, legt er heute 100 Pfund Gewicht auf, „weniger als sonst“; an der C1, die den „Musculus latissimus dorsi“, einen anderen großen Rückenmuskel, anspreche, stemmt er die 100 Pfund ohne Probleme; und an der C7, dem Rudergerät, zieht Ziems sogar 154 Pfund, „eine echte Hausnummer in dem Alter, das schafft mancher 20-Jähriger nicht“, sagt Konikowski.
„Bei uns gibt‘s keine Musik, wir bevorzugen eine ruhige Arbeitsatmosphäre.“
Bianca Creon protokolliert für Ziems die Leistungen, stellt die Maschinen nach den Vorgaben des Studios ein, hilft manchmal beim Wechsel von Maschine zu Maschine. „Warum kann ich das nicht allein“, schimpft der alte Mann dann, „was ist da los?“ Die Pflegekraft, die für einen ambulanten Dienst arbeitet, holt Ziems fürs Training zudem von zu Hause ab. Bis vor einem halben Jahr stapfte der 99-Jährige noch allein, am Rollator, ins Studio. Bis 2023 fuhr im eigenen Wagen vor.
Ohne Training kommt er „aus dem Takt“
„Ich dachte an einen Scherz, als die Anfrage kam: Mann sucht Begleitung fürs Kieser-Training“, erinnert sich die Pflegerin. Sie habe im Büro angerufen und gefragt: „Habt Ihr mal aufs Geburtsdatum geguckt?“ Doch es lag kein Irrtum vor, Gerhard Ziems wollte vom Krafttraining nur nicht lassen – bloß, weil er allein nicht mehr ins Studio kam. Ohne komme er „aus dem Takt“, erklärt er. So einfach sei das. Die Unterstützung durch eine Pflegekraft: sein Zugeständnis ans Alter. „Früher“, erzählt er, „habe ich ja auch häufiger trainiert, dreimal die Woche“. Jetzt kommt er nur noch dienstags und donnerstags. „Und die Tage, an denen er in diesem Jahr nicht hier erschienen ist, kann man an einer Hand abzählen“, versichert Steven Konikowski.
Mit 50 beginnt der Muskelabbau
Der 27-Jährige, zuständig für den medizinisch-therapeutischen Bereich im Klever Studio, ist tief beeindruckt von seinem ältesten Kunden: „In dem Alter noch so fit? Der Mann hat alles richtig gemacht“, meint er. Gerhard Ziems sei für ihn und viele, die hier trainierten, „eine Inspiration“. Das Kraftlevel des beinahe 100 Jahre alten Mannes nennt der Trainer „faszinierend“. „Da liegt er deutlich über dem Durchschnitt der Über-50-Jährigen.“ Mit 50 beginne ja der Muskelabbau. „Und wer nicht gegensteuert, bekommt Probleme. Anfänger zwischen 70 und 80 haben wir regelmäßig...“
„Die klassischen Pumper sind dagegen nicht unsere Kunden“, erklärt Konikoswki. Im Gegensatz zu anderen „Mucki-Buden“ geben in den Kieser-Studios auch keine dröhnenden Techno-Beats das Tempo vor. „Bei uns gibt es keine Musik, wir bevorzugen eine ruhige Arbeitsatmosphäre“, erläutert der Trainer, bei Kieser stehe die Gesundheit im Vordergrund.
Um die von Gerhard Ziems ist es eigentlich nicht einmal besonders gut bestellt. Er leidet unter Polyneuropathien, hatte einen Bandscheibenvorfall und das linke Knie plagt ihn, genau wie eine seit beinahe acht Jahrzehnten offene Wunde am Bein, „vier Durchschüsse, gefolgt von einer Infektion, Kompartment-Syndrom und anderen Komplikationen“ erklärt der promovierte Mediziner. Die Verletzung zog er sich 1945 zu, „vor Budapest, gegen die Russen“.
Weihnachten wird er 100 Jahre alt
Man muss sich das einmal vor Augen führen, wenn man ihn vom Krieg reden hört: Als der Mann geboren wurde, 1924, da wurden in Deutschland noch (die letzten) Fünf-Billionen-Mark-Scheine gedruckt, da war noch nicht einmal der zweirädige Dosenöffner erfunden; da umrundete erstmals ein Flugzeug den Globus. Es brauchte 175 Tage dazu. Ist das Krafttraining Geheimnis eines solch langen Lebens? „Weiß ich nicht“, brummt Gerhard Ziems. „Ist aber eine gute Sache.“ Als wir ihn fragen, was er sich zum 100. Geburtstag am ersten Weihnachtstag wünscht, überlegt er eine Weile ernsthaft. Dann sagt er: „Ich bin wunschlos glücklich!“
Schade nur, dass er an dem Tag nicht trainieren kommen kann.