Bochum. „Das kann nicht mein Kind sein“, dachte die Mutter, als sie ihr Frühgeborenes erstmals sah. Betüdelt hat sie ihren Sohn dennoch nie.
„Komisches Gefühl“, sagt Julien. An diesem Wärmebettchen zu stehen, auf der Neonatologie des Bochumer St. Elisabeth Hospitals, genau in dem Zimmer der Intensivstation für Frühchen, in dem auch er die ersten Wochen seines Lebens verbrachte. Wo seine Mutter so lange um ihn bangte. „Die sind so winzig“, sagt Julien. Dabei wiegt das Baby im Bett doppelt so viel wie er bei seiner Geburt vor 19 Jahren.
Exakt 670 Gramm brachte Julien auf die Waage, als er am 23. Mai 2005 das Licht der Welt erblickte. Die Ärzte mussten das Baby in der 25. Schwangerschaftswoche mittels Kaiserschnitt holen. Mutter und Kind ging es zu schlecht, um länger warten zu können. Doch 25. Woche – das ist wenig mehr als die Hälfe der Zeit, die Babys idealerweise im Bauch ihrer Mutter verbringen. Da sind die Organe, vor allem das Gehirn und die Lunge, längst nicht weit genug entwickelt. 25. Woche: Das ist viel zu früh.
„Man weiß nicht immer, warum es passiert“
„Noch heute wäre das eine extrem frühe Geburt“, bestätigt Dr. Norbert Teig, Leiter der Neonatologie, die zur Bochumer Universitätskinderklinik gehört. „Erst ab der 24. Woche werden Frühgeborene überhaupt versorgt.“ Die Gründe für eine Frühgeburt? „Man weiß nicht immer, warum es passiert“, erläutert der Arzt, der schon vor 19 Jahren Julien betreute.
„Ich hatte schon zu Beginn der Schwangerschaft Wehen und Blutungen“, erinnert sich Ailine Wegener, Juliens Mutter. „Ich musste viel Zeit im Krankenhaus verbringen.“ Als ihre Entzündungswerte drastisch anstiegen, schickte sie die Herner Klinik, in der sie hatte entbinden wollen, nach Bochum, ins Perinatalzentrum. Wo Spezialisten aus verschiedenen Fachbereichen zusammenarbeiten, wo die Ausstattung eine besondere ist. Die damals 20-Jährige war froh darüber. 20 Minuten nach ihrer Ankunft in Bochum lag sie „unterm Messer“.
„So zart, so zerbrechlich“
Als Ailine Wegener ihren Sohn am nächsten Morgen zum ersten Mal in seinem Inkubator liegen sah, mit all den Schläuchen, die man in den kleinen Körper gelegt hatte, den blinkenden Maschinen um ihn herum – da konnte sie den Anblick kaum ertragen: „Das kann nicht mein Kind sein, war mein erster Gedanke“, sagt sie. „So zart, so zerbrechlich war Julien. Eine Handvoll Mensch nur.“ Ein ganz anderer als ihr Erstgeborener, der vier Jahre zuvor als „Termingeburt“ auf die Welt gekommen war. Dieser Sohn hier, das war „ein alter, kleiner Mensch“ für sie. „Das typische Babyface“, erklärt Kinderarzt Teig, „das haben Frühchen nicht.“
„Für viele Beziehungen ist eine Frühgeburt enormer Stress.“
Juliens Vater besuchte seinen Sohn in der Klinik ein einziges Mal , „er kam gar nicht damit klar“, sagt Juliens Mutter. Sie trennte sich kurz darauf von ihm. „Für viele Beziehungen“, sagt Teig, „ist eine Frühgeburt enormer Stress“. Und Väter täten sich oft schwerer, seien „intuitiv zurückhaltender“, „aber die allermeisten machen es gut“. Tatsächlich erlebt aber auch er Mütter und Väter, denen es nicht gelingt, die Distanz abzubauen. Er denkt, „das ist ein Ausdruck von Angst. Es geht hier ja um Leben und Tod. Sie wollen das Kind nicht an sich heranlassen, damit sie nicht noch trauriger sind, wenn es es doch nicht schafft.“
Mutter eines Frühgeborenen – ein Vollzeitjob
Ailine Wegener machte sich unglaublich viele Sorgen: Ob Julien überleben würde, ob er bleibende Beeinträchtigungen davon tragen würde? Ob er womöglich blind oder taub sein würde? 85 Prozent der in der 25. Schwangerschaftswoche Geborenen überlebten heute, sagt Norbert Teig, „zehn Prozent mit schwerwiegenden Einschränkungen“.
Fünf Tage nach der Geburt wurde Juliens Mutter aus der Klinik entlassen, tagtäglich stand sie dennoch in den folgenden Monaten an Juliens Bettchen, streichelte anfangs stundenlang nur seine winzigen Finger; pumpte alle paar Stunden Muttermilch für ihn ab, lernte, den Winzling zu wickeln und zu waschen. „Den Großen musste ich häufig bei der Oma parken, um irgendwie klarzukommen“, berichtet sie. „Die Betreuung eines Frühchen“, sagt Teig, „ist ein Vollzeitjob für die Mutter“.
Das erste Fläschchen: 44 Tage nach der Geburt
Julien entwickelte sich zum Glück prächtig. 60 Tage lag er im Inkubator, weitere 60 im Wärmebettchen; er konnte sogar von Anfang an allein atmen, „brauchte nur eine CPAP“, erzählt die Mutter – eine Maske, die die Atmung unterstützt, keine invasive Beatmung. Die Ärzte legten dem Kind zudem eine Magensonde, über die es die abgepumpte Muttermilch erhielt, anfangs waren das nicht mehr als ein, zwei Milliliter; über einen Venenzugang wurde es zusätzlich ernährt.
Die Wochen nach der Geburt seien eine „Achterbahnfahrt“ gewesen, erzählt Wegener; es habe zwar keine großen Komplikationen gegeben, aber immer wieder Rückschläge. Das erste „Kangarooing“, der Tag, als sie ihren Sohn aus dem Inkubator nehmen durfte, um ihn sich auf den Bauch zu legen – das ist ihre schönste Erinnerung an diese Zeit. „Auch wenn ich ihn kaum gespürt habe, der wog ja weniger als ein Paket Zucker.“ Ein weiteres ihrer Highlights: das erste Fläschchen, da war Julien 44 Tage alt – und das Fläschchen noch immer fast größer als das Kind. Auch die Strampler, die sie dem Baby kaufte, „Größe 42, kleinere konnte ich nicht finden“, waren viel zu groß – in der Klinik lassen sie für ihre Frühchen winzigste Kleidungsstücke eigens nähen.
Die Großeltern wollten das Kind betüdeln, die Mutter verbot es
Julien wog stolze drei Kilo, als er Anfang September 2005, drei Monate nach seiner Geburt endlich mit seiner Mama heim durfte – nachdem diese wie alle Frühchen-Eltern zuvor noch einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert hatte. „Wir wollen die Familien möglichst gut vorbereiten“, sagt Teig, „das ist für sie ja ein Sprung ins kalte Wasser.“
Es ging alles gut, Julien hatte weder Atem- noch Ernährungsprobleme wie andere Frühchen, er brauchte nur eine Zeitlang Krankengymnastik, später Logopädie, er fing auch später an zu laufen als andere Kinder. Die Großeltern, erzählt Wegener, die hätten „das arme Kind stets betüdeln wollen“, aber sie habe das untersagt. „Der sollte sich ganz normal entwickeln.“
Vielleicht war das der Trick: Heute ist Julien ein ganz normaler junger Mann, ein ziemlich cooler Typ. Mit 52 Kilo noch immer kein Schwergewicht und mit 1,70 Meter auch kein Riese. Aber er steht auf eigenen Beinen, ist in diesem Jahr bei der Mutter in Bochum ausgezogen, lebt jetzt allein in Herne. Er hat eine Ausbildung als Sozialassistent abgeschlossen, holt gerade seinen Realschlussabschluss nach. Danach strebt er eine Lehre im Textilbereich an. Irgendwann will er sich selbstständig machen, einen Laden eröffnen – für „sein Klamottending“, seine große Leidenschaft: Der 19-Jährige besitzt bereits ein eigenes Designer-Label (Perlanza). Die lässig weite Jeans und das weiße Sweatshirt, die er heute trägt, stammten aus der eigenen Werkstatt, erzählt er stolz.
Für ihn, sagt Julien, sei die Frühgeburt nie Thema gewesen, er habe sich nie unreifer als andere gefühlt, niemals eingeschränkt. Er habe als Kind durchaus „daran zu knacken gehabt“, korrigiert ihn die Mutter, „weil er so zart war – und seine kleine Schwester schon mit vier so groß wie er mit acht.“ Er sei ihr trotzdem sehr dankbar, sagt Julien, dass sie damals „durchgehalten“ habe.