Essen. Krebs überall im Körper – doch Lela Sadigh „kämpft, um zu gewinnen“. Von Palliativmedizin wollte sie nichts wissen. Dann traf sie Inken Ostermann.

Man könnte meinen, sie seien alte Freundinnen: So wie Lela Sadigh und Inken Ostermann da eng beinander in der Sonne spazieren gehen am Baldeneysee. Wie sie die Köpfe zusammenstecken, reden, lachen, sich gegenseitig auf ein plüschiges Entenküken oder wagemutigen Segelschüler aufmerksam machen. Zwei blendend aussehende Frauen, eine im hellblauen Kleid, eine im lindgrünen Hosenanzug; zwei, die sich lange und gut kennen, denkt man. Dass sie sich vor einem Jahr erstmals trafen, dass die eine furchtbar krank und die andere ihre „Palliativbegleiterin“ ist: das ahnt man nicht.

Die Diagnose traf Lela Sadigh wie ein Schlag, Anfang 2023. Da war die Essenerin 57, arbeitete als Einzelhandelskauffrau in der Modebranche in Venlo, skatete an Wochenenden um den See, war auch sonst sportlich sehr aktiv, sogar als Drachenfliegerin – und stolz auf ihren Körper „wie aus Stahl“. Ein punktueller Schmerz in der Hüfte führte sie zum Orthopäden, erzählt sie bei einer Cola Zero in den „Südtiroler Stuben“. Der Arzt riet zu Ibuprofen und ihr Chiropraktiker zu einem „Bild“, damit er passgenauer behandeln könne. Lela Sadigh ließ die Aufnahme beim Radiologen machen. Diese und nachfolgende Untersuchungen zeigten: einen gewaltigen Tumor in ihrer Lunge, der bereits gestreut hatte. In Leber, Milz, Knochen, Hirn, überall, steckten Metastasen.

„Ich wollte es eigentlich gar nicht wissen“

„Ich konnte das gar nicht glauben“, erinnert sich die Essenerin. „Ich habe mich doch gesund ernährt, mit viel Fisch, Gemüse und Obst. Ich hab mich bewegt, alle Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen und vor 30 Jahren mit dem Rauchen aufgehört.“ Man überwies sie an die Evangelischen Kliniken Essen-Mitte. Der Arzt dort habe ihr sicher alles genau erklärt, vielleicht auch etwas zur Prognose gesagt. Lela Sadigh weiß es nicht mehr: „Es ging da rein und da raus. Ich wollte es eigentlich gar nicht wissen. Ich hab nur gefragt, wann ich wieder Fahrrad fahren kann. Und gesagt, ich kämpfe. Und ich kämpfe, um zu gewinnen.“

Sie erhielt eine Immuntherapie, die nicht anschlug, dann Chemotherapien und Bestrahlungen – 21-mal wurde allein ihr Kopf bestrahlt, aber auch Schulter und Becken. Die Chemo machte sie schrecklich müde, in der ersten Woche verlor sie sieben Kilo Gewicht, später alle Haare; die Bestrahlung sei „der Horror“ gewesen, sagt Sadigh. Einige Krebsherde verschwanden, andere wurden kleiner, manche größer – ein paar kamen neu dazu.

„Die wollen mir nur Gutes tun“

„So ging es auf und ab, bis heute“, sagt Sadigh, und kann die Tränen nicht zurückhalten. Das Cortison, das sie inzwischen zusätzlich zur Chemo nehme, helfe, aber sie habe „Angst, dass die Kraft weiter nachlässt.“ Ihr Körper, einst so stählern, fühle sich längst an „wie Pudding“. Aufs Rad stieg die Krebspatientin nie wieder. Ihren Opel Corsa darf sie wegen der Metastasen im Hirn nicht mehr fahren, ihren Job musste sie aufgeben, das Versorgungsamt erkannte eine Schwerbehinderung von 100 Prozent an. Doch als ihr eine Ärztin der KEM „mit Palliativmedizin kam, hätte ich ihr gern die Augen ausgekratzt“, erinnert sich Sadigh. „Palliativ heißt Endstation“, dachte sie.

Dann lernte sie: „Die wollen mir nur Gutes tun. Das darf ich annehmen. Heute bin ich so glücklich, dass ich das irgendwann begriff.“

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Zum „Palliativpaket“, dass die KEM schnürte, gehören regelmäßige Besuche in deren Tagesklinik, meist einmal im Monat. „Müde, aber erleichtert“ geht Lela Sadigh danach heim. Ihre behandelnde Ärztin, die Palliativmedizinerin Irene Nelissen, trifft sie an diesen Tagen zu langen Gesprächen; zudem eine Psychoonkologin, „mit der man einfach über alles reden kann“, manchmal auch jemanden vom Sozialdienst, der hilft bei Formularen, bei den komplizierten Versicherungsfragen einer Essenerin, die jahrzehntelang nur in den Niederlanden gearbeitet hat. Ergo- und Kunsttherapie stehen immer auf dem Programm. Zum Paket gehört aber auch „Pallium“, ein ambulanter Hospizdienst der KEM. Inken Ostermann, mit der sich Sadigh inzwischen zweimal pro Woche trifft, ist eine der derzeit 65 ehrenamtlichen Pallium-Mitarbeitenden.

Die Freunde haben erst nach Feierabend Zeit

Die Pallium-Koordinatoren gucken , welche KEM-Patienten Hilfe brauchen könnten und wer ihnen helfen könnte: Lela Sadigh lebt allein; sie hat keine Kinder. Ihre Schwester und ihr Schwager kümmerten sich rührend, sagt sie, holten sie am Wochenende stets zu sich, erledigten die Einkäufe. Alte Freunde aus München schickten Care-Pakete zur Unterstützung, Ex-Kollegen aus Venlo besuchten sie. Aber sie sei zuviel allein mit ihrer Angst. Die meisten ihrer Bekannten, die alle noch arbeiteten, hätten ja erst nach Feierabend Zeit. Sie geht oft schon am Nachmittag ins Bett, so müde ist sie.

Palliativmedizin: Krebspatientin Lela Sadigh geht mit der ehrenamtlichen Helferin Inken Ostermann  regelmäßig am Baldeneysee spazieren.  Lela Sadigh ist 50, sterbenskrank – und wahnsinnig dankbar für ihr persönliches
Beim Bummel am See: Lela Sadigh (rechts) mit Inken Ostermann. Dass Sadighs flotter Bob eine „schon zweimal restaurierte“ Perücke ist – das erkennt man ebenso wenig auf den ersten Blick wie ihre schwere Krebserkrankung. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Sadigh und Ostermann trafen sich das erste Mal, da hing die Patientin gerade an der Chemotherapie – beide mochten sich auf Anhieb, einigten sich sofort aufs „Du“. Seither holt die Pallium-Begleiterin Lela Sadigh zweimal in der Woche, montags und freitags , pünktlich um 10.30 Uhr, in Bredeney ab – meist geht es an den See. Ist das Wetter dafür zu schlecht oder die Patientin zu schlapp, gehen die beiden auch mal Sushi essen, oder sie reden einfach bei einem Kaffee, „zuhause bei Lela“. Sie haben auch schon Memory zusammen gespielt oder Socken gehäkelt.

„Menschen am Lebensende wollen nicht nur trauern“

„Meine Aufgabe“, sagt Inken Ostermann, die seit elf Jahren ehrenamtlich für Pallium tätigt ist, „ist es: da zu sein, zuzuhören, und aushalten zu können, dass es nicht immer Antworten auf alle Fragen gibt.“ Ganz wichtig sei zudem, dass sie und ihre Begleitung Spaß miteinander hätten, „Menschen wollen am Lebensende nicht nur trauern, sondern auch Freude haben.“ Sie habe – wie die Ärzte – Lela längst auch vorgeschlagen, sich einmal gemeinsam ein Hospiz anzuschauen. Doch davon will diese nichts hören.

Für Lela Sadigh sind die beiden Tagen, an denen sie Inken trifft, an denen sie endlich mal „rauskommt“, was sie sich allein nicht mehr zutraut, die Highlights der Woche. Jeden anderen Termin verschiebt sie dafür. Aber auch Ostermann liebt ihre Aufgabe, sie sei „sinnstiftend“ und sie bekäme „soviel zurück“, sagt die frühere Evonik-Marketingchefin, eine gelernte Sozialpädagogin. Auch wenn ihre kürzeste Begleitung nur drei Tage dauerte. Schwer sei es, die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden, räumt die 62-Jährige ein. „Aber das lernen wir in der Ausbildung, uns nicht verschlucken zu lassen.“

Lähmungserscheinungen in Bein und Hand

Neuerdings fühlen sich Lela Sadigh rechtes Bein und ihre rechte Hand seltsam taub an. Ihre Ärzte sagen, die Metastasen in ihrem Kopf könnten gewachsen sein. In dieser Woche muss sie deswegen noch einmal ins MRT und zum Röntgen. Zur anschließenden Befundbesprechung wird Inken Ostermann sie begleiten, natürlich. „Ich denke nicht, dass es der Kopf ist“, erklärt Lela Sadigh. „Ich denke, alles ist gut. Aber wenn es nicht gut ist, ist es gut, jemanden an der Seite zu haben.“

„Ein Schatten, der das Leben verändert“, ist Titel einer Infoveranstaltung zum Thema Lungenkrebs, zu der die KEM am 11. September, 16. 30 Uhr, ins Hotel Franz einladen. Anmeldungen unter: onkologie@kem-med.com.