Oberhausen. Wie verändert eine Autismus-Diagnose das Familienleben? Zwei Mütter teilen ihre Erfahrungen, wie sich ihr Leben und das ihrer Söhne wandelte.
- Silvia Prochnau und Andrea Ahmann bemerkten früh, dass ihre Söhne sich von anderen Kindern unterscheiden.
- Einen Grund zur Besorgnis sahen sie aber nicht. „Für mich war der immer in Ordnung. Andere fanden ihn komisch“, beschreibt Silvia Prochnau die Situation ihres Sohnes.
- Autismus manifestiert sich in unterschiedlichen Facetten, wobei eine Vielzahl kleiner Merkmale wie ein Puzzle zusammenwirken.
- Die Diagnose brachte für beide Mütter Erleichterung und positive Veränderungen mit sich.
Als Tim (Name von der Redaktion geändert) klein war, hat er seine Spielzeugautos immer genau hintereinander aufgereiht. Auch die Schuhe mussten ganz gerade stehen und am gleichen Ort, erzählt seine Mutter Andrea Ahmann. „Man hätte ein Lineal daran legen können.“ Dass ihr Sohn sich anders verhielt als ihr älteres Kind, erklärten sich seine Eltern damit, dass „jedes Kind halt anders“ ist. Erst einige Jahre später stellte sich heraus: Tim ist autistisch.
Weltweit haben schätzungsweise etwa ein bis anderthalb Prozent der Menschen eine Autismus-Spektrum-Störung, schreibt das Bundesgesundheitsministerium auf seiner Internetseite gesund.bund.de. „Als Autismus oder Autismus-Spektrum-Störungen werden Entwicklungsstörungen bezeichnet, die die Fähigkeiten zur Kommunikation und im sozialen Miteinander beeinträchtigen“, heißt es dort. Fachleute unterscheiden zwischen frühkindlichem Autismus, atypischem Autismus und Asperger-Syndrom. Jungen sind etwa zwei- bis dreimal so häufig betroffen wie Mädchen.
Der Kinderarzt schob es darauf, dass die Mutter berufstätig war
Die Ärztinnen und Ärzte vermuten bei Tim zunächst ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS). Es passiere nicht selten, dass autistische Menschen erst eine andere, falsche Diagnose erhielten, erklärt Silvia Prochnau, Vorsitzende des Oberhausener Vereins „Autismus – einfach anders e.V.“. Die Erscheinungsformen von Autismus seien vielfältig, ein Zusammenspiel vieler kleiner Merkmale – wie ein Puzzle.
Auch Silvia Prochnaus Sohn ist autistisch. Christoffer sei als Kind sehr schweigsam gewesen, habe kaum Blickkontakt gesucht. Der Kinderarzt schob es darauf, dass Silvia Prochnau berufstätig war, erzählt sie heute empört. Große Sorgen machte sie sich um ihr Kind nicht. „Für mich war der immer in Ordnung“, sagt die 58-Jährige. „Andere fanden ihn komisch.“
Im Alltag gibt es für Autistinnen und Autisten viele Herausforderungen
Was sie letztlich zum Grübeln brachte, war die Beobachtung, dass Christoffer immer später von der Schule nach Hause kam, obwohl er sich nie mit anderen Kindern oder Jugendlichen verabredete. Da war er etwa in der fünften Klasse. Es stellte sich heraus, dass ihr Sohn immer zu früh aus dem Bus ausgestiegen ist, um den Rest des Weges zu laufen. Ihm waren zu viele Leute im Bus.
Mehr zum Autismus
- Lebenshilfe Oberhausen baut Kita und Autismus-Zentrum
- Mit Autismus zum Traumberuf: Nils (17) „will in den Betrieb“
- Wie ein Junge mit Autismus die Wissenschaft veränderte
Im Alltag gibt es für Autistinnen und Autisten viele Herausforderungen, erklärt Silvia Prochnau. Manchmal fühlten sie sich wie ein Pinguin in der Wüste. „Aber setzen Sie den mal ins Wasser.“ In großen Schulklassen seien autistische Kinder zum Beispiel schnell von den vielen Reizen überfordert und Lehrkräfte seien in der Regel nicht speziell ausgebildet. Um individuell und ihren Bedürfnissen gerecht beschult zu werden, etwa in der Web-Individualschule, müssten Betroffene aber etliche Hürden überwinden. Und wenn Eltern darauf hinwiesen, dass ihr Kind andere Rahmenbedingungen zum Lernen brauche, dann sei man „ganz schnell die Helikoptermutter“.
Gruppentreffen ermöglichen Kontakt zu Gleichgesinnten
Auch der Lehrplan habe seine Tücken, berichtet Andrea Ahmann, die im Vorstand des Oberhausener Vereins ist: „Mein Sohn kann keine Gefühle interpretieren. Liebesgedichte stehen aber im Lehrplan.“ Sie wünscht sich mehr Akzeptanz und Verständnis für autistische Menschen. Im Kindergarten, in der Schule und im Beruf.
Mit dem Verein „Autismus – einfach anders“ wollen die beiden Frauen einen Raum für autistische Menschen genauso wie für Angehörige schaffen, in dem sie genau das finden: Verständnis und Akzeptanz. „Mir geht es gut, wenn ich hier rausgehe. Hier habe ich Gleichgesinnte“, hören sie oft. Es gibt Gruppentreffen für Eltern, Frauen, Männer, Jugendliche sowie Filmabende und Spieltreffs für autistische Kinder, die im Alltag häufig gemobbt werden und hier einfach sein können, wie sie sind.
Der Verein „Autismus – einfach anders“
Der Verein „Autismus – einfach anders“ wurde im April 2016 gegründet und hat seinen Sitz in Oberhausen-Sterkrade.
Zu den Selbsthilfegruppen des Vereins kommen nicht nur Menschen aus Oberhausen, sondern auch aus den Nachbarstädten. Die Nachfrage sei groß, sagt Vereinsvorsitzende Silvia Prochnau.
Eine Übersicht über die Selbsthilfegruppen und andere Angebote des Vereins sowie Kontaktmöglichkeiten gibt es auf der Internetseite: autismuseinfachanders.de.
Auch Christoffer habe in der Schule Mobbing erlebt, berichtet Silvia Prochnau. „Die Kinder haben ihn angefasst, bis er explodiert ist.“ Autistische Menschen mögen es nicht, wenn man sie einfach anfasst oder umarmt. Man sollte außerdem Ironie und Sprichwörter vermeiden, rät die Vereinsvorsitzende. Die Betroffenen nehmen beides nämlich wörtlich. Und müssen dann nicht selten über sich selbst lachen. Für Angehörige habe das einen positiven Nebeneffekt. „Man kann einfach sagen, was man denkt.“ „Weil nicht zwischen den Zeilen gelesen wird“, ergänzt Andrea Ahmann. „Das ist befreiend“, findet Silvia Prochnau.
Die Diagnose war für die Mutter eine Erleichterung
Als Christoffer mit elf Jahren seine Diagnose erhielt, war das für die 58-Jährige vor allem eine Erleichterung. Einerseits bot die Diagnose die Grundlage dafür, passende Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Gleichzeitig bedeutete sie das Ende der Vergleiche. Silvia Prochnau fragte sich nicht mehr: „Warum kann er das noch nicht?“ Und ihren Sohn bewahrte die Diagnose davor, ein Leben lang das Gefühl mit sich herumzutragen, nicht gut genug zu sein.
Autismus solle nicht als Krankheit verstanden werden oder als Störung, betont Andrea Ahmann. Er sei nichts, was man einfach ablegen könne, sondern ein Teil der Persönlichkeit, der den Menschen zu dem mache, der er ist. Ihr Sohn habe das mal so zusammengefasst: „Wenn ich kein Autist wäre, dann wäre ich ja anders“, habe Tim zu ihr gesagt. „Und ich mag mich so, wie ich bin.“