Mülheim. Mülheim 1874 - Die Eisenbahn verdrängt die Ruhrschifffahrt, nicht nur fürs Queren der Ruhr wird Maut verlangt, die August Thyssen umgangen ist.
Mülheim vor 150 Jahren. 1874 leben in Mülheim rund 47.000 Menschen. An der Spitze der Stadt steht Bürgermeister Heinrich Bang. Die Stadt- und Landgemeinde wird in diesem Jahr zu einem Kreis zusammengefasst. Seit 60 Jahren gehört Mülheim zur preußischen Rheinprovinz.
1874 ist ein Wahljahr. Aber nur Männer können damals wählen und gewählt werden. Für Mülheim zieht der nationalliberale Jurist Johann Friedrich von Schulte in den zweiten Deutschen Reichstag ein. Das Parlamentsmandat ist für ihn nur ein Ehrenamt. Denn Diäten für Abgeordnete gibt es noch nicht. Politik muss man sich leisten können und deshalb sitzen 1874 auch nur Vertreter des Wirtschaftsbürgertums im Stadtrat. Denn die Wähler werden nach ihrem Steueraufkommen in drei Klassen aufgeteilt - und den wohlhabenden Bürgern so eine Zweidrittelmehrheit bei Kommunal- und Landtagswahlen gesichert.
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Eisenbahnausbesserungswerk in Mülheim-Broich nimmt Betrieb auf
Auf dem Rathausmarkt wird eine große Waage aufgestellt, weil sich die Menschen an das 1872 reichsweit eingeführte metrische System mit Meter, Zentimeter, Gramm und Kilogramm noch gewöhnen müssen. Auf dem Rathausmarkt steht 1874 auch ein Kriegerdenkmal, das an die Gefallenen des deutschen Einigungskrieges gegen Frankreich 1870/71 erinnert, den 60 Mülheimer Soldaten mit ihren Leben bezahlt haben.
Mülheim erlebt einen wirtschaftlichen Strukturwandel. Die gewerbliche Ruhrschifffahrt wird zunehmend von der Eisenbahn abgehängt. Deshalb nimmt in Speldorf ein Eisenbahnausbesserungswerk seinen Betrieb auf. Es wird bis 1959 bestehen und in der Spitze mehr als 2000 Menschen beschäftigen.
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Kettenbrücke über Mülheims Ruhr mit Mautpflicht für Fuhrwerke
Ihren Lebensunterhalt verdienen die Mülheimer in der Landwirtschaft, im Handel, im Handwerk und in der Bergbau-, Stahl- und Lederindustrie. Seit drei Jahren betreibt August Thyssen auf dem Grundstück des ehemaligen Styrumer Heckhoffhofes ein Stahlwerk, in dem jetzt 300 Menschen arbeiten. Zu den Arbeitgebern der Stadt gehört 1874 auch eine Tapetenfabrik im 1808 aufgehobenen Kloster Saarn.
Die Ruhr, die auf 14 Kilometern Länge die Stadt durchfließt, wird seit 30 Jahren von einer Kettenbrücke überspannt. Fuhrwerke, die sie überqueren, müssen eine Brückenmaut entrichten. Fußgänger können sie kostenfrei passieren. Eine Maut müssen auch Fuhrwerke entrichten, die die Aktienstraße passieren, die vor 45 Jahren von einer Aktiengesellschaft gebaut worden ist. Von August Thyssen erzählt man sich, dass er die Kettenbrücke nur zu Fuß überquerte, um sich die Brückenmaut zu sparen.
67 Prozent der Mülheimer sind im Jahr 1874 protestantisch
Die Mautstation der Kettenbrücke befindet sich auf Höhe der heutigen Leineweberstraße 1, wo jetzt ein Möbelhaus seine Kunden empfängt. Und die Mautstation an der Aktienstraße befindet sich 1874 dort, wo der Bürgergarten an der Aktienstraße 80 heute seine Gäste bewirtet.
Religion ist 1874 ein Politikum. Es herrscht Kulturkampf. 67 Prozent der Mülheimer sind protestantisch, 26 Prozent katholisch und 319 Menschen gehören der jüdischen Gemeinschaft an. Ihre vor 80 Jahren eingeweihte Synagoge steht an der Ecke Friedrich-Ebert-Straße/Schloßstraße, die damals Notweg, Jackenstraße und Kettenbrückenstraße heißen. Ihr prominentestes Mitglied ist damals der Bankier, Stadtverordnete und Mäzen Gustav Hanau. Dessen Bankhaus an der Bahnstraße ist heute Sitz der Wohnungsbaugesellschaft SWB.
Immer mehr katholische Arbeitskräfte und deren Familien kommen nach Mülheim
Das Volksschulwesen ist konfessionell organisiert. Durch die voranschreitende Industrialisierung kommen immer mehr katholische Arbeitskräfte und deren Familien in die Stadt. Das beunruhigt viele Protestanten. Sie sehen sich als preußisch-deutsche Patrioten, die mit Kaiser Wilhelm I. und seinem Reichskanzler und Ministerpräsidenten Otto von Bismarck nicht nur die evangelische Konfession teilen. Wie Bismarck verdächtigen sie die Katholiken, „Reichsfeinde“, zu sein, die mit ihrer Partei, dem Zentrum, mehr auf den Papst in Rom und auf den katholischen Kaiser Franz-Josef in Wien als auf Wilhelm I. und Bismarck hören.
Kulturkampf bedeutet: Priestern werden politische Predigten verboten. Sie müssen einen Treueid und ein Kulturstaatsexamen ablegen. Und der Staat übernimmt die Kontrolle über das Schul- und Personenstandswesen. Ehen müssen jetzt von Staats wegen geschlossen werden. Ehe Ökumene in Mülheim auch in Liebesdingen Alltag wird, muss 1874 noch viel Wasser die Ruhr herunterfließen.
Mülheim 1874 - weitere Bilder
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