Mülheim. Ein Vortrag von Hans-Werner Nierhaus erinnert an den Deutsch-Französischen Krieg vor 150 Jahren. Ein Kriegerdenkmal aus der Zeit steht bis heute.
Anders, als die deutsche Einheit des Jahres 1990, war die erste deutsche Einheit des Jahres 1871 nicht das Ergebnis einer friedlichen Revolution von unten, sondern das Ergebnis einer machtpolitischen Revolution von oben. 150 Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg, der der Reichseinigung und der Kaiserproklamation von Versailles vorausging, beleuchtete der ehemalige Otto-Pankok-Geschichtslehrer Hans-Werner Nierhaus in seinem Vortrag zur Mülheimer Geschichte, welche Auswirkungen dieser Krieg auf die knapp 15.000 Einwohner zählende Mülheimer Stadtgesellschaft hatte.
Die Bevölkerung blieb von den Kriegsfolgen weitgehend unberührt
Deutlich wurde, dass die Bevölkerung den Deutsch-Französischen Krieg vor allem deshalb so euphorisch feierte, weil die Masse der Bevölkerung von den Kriegsfolgen unberührt blieb. Die negativen Folgen des Krieges erlebten die Mülheimer damals nur am Rande, etwa an der von den Unternehmern Schmitz und Kückelhaus finanzierten Einrichtung von zwei privaten Lazaretten, in denen während des Krieges 357 Soldaten behandelt wurden. Zwei der dort verstorbenen Soldaten wurden auf dem seit 1812 bestehenden Altstadtfriedhof beigesetzt.
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Auch eine genaue Auflistung der gefallenen Soldaten konnte Nierhaus bei seinen Recherchen im Stadtarchiv nicht finden. Die Zahlen, die er fand, lassen ihn die Zahl der gefallenen Mülheimer auf 30 schätzen. Diese Zahl ist unverhältnismäßig geringer als die jeweils 3500 Mülheimer Soldaten, die in den beiden Weltkriegen ihr Leben verlieren sollten. Anders, als im Zweiten Weltkrieg, erlebten die Mülheimer den Krieg nicht unmittelbar. Sie verfolgten ihn vielmehr als eifrige Leser der damals in Mülheim erscheinenden Rhein Ruhr Zeitung. Das Lokalblatt fütterte sein Publikum mit Frontberichten und patriotischen Lobeshymnen auf die Vereinigten Deutschen Armeen.
Wichtige Schlachtfelder, die für die deutschen Siege im Krieg von 1870/71 stehen, schlagen sich bis heute als Straßennamen nieder. So findet man in Styrum zum Beispiel eine Sedanstraße oder die Goeben- und die Von-der-Tann-Straße. In der Stadtmitte ist uns die Weißenburger Straße geläufig. Der entscheidende militärische Sieg der deutschen über die französischen Truppen am 2. September 1870 bei Sedan sollte nach der Reichsgründung von 1871 bis zum Ende des Kaiserreiches 1918 in Deutschland als Nationalfeiertag begangen werden.
Straßennamen erinnern bis heute an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71
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Ludwig von der Tann und August von Goeben waren preußische Generäle , deren Namen mit den siegreichen Schlachten bei Sedan oder bei Weissenburg im Elsass verbunden waren. Den Mülheimer Soldaten Heinrich vom Ende und Wilhelm Marks, die am 6. August 1870 bei der Eroberung der Spicherer Höhen durch von der Tanns Truppen starben, wurden keine Straßennamen gewidmet.
Nierhaus kann in seinem Recherchen nachweisen, dass insgesamt 1800 Mülheimer als Soldaten im Deutsch-Französischen Krieg kämpften. Der Krieg, der zur ersten deutschen Einheit führen sollte, wurde in der Rückschau auch deshalb glorifiziert, weil er siegreich und kurz war. Der Krieg begann am 2. August 1870 und endete mit der Kapitulation der französischen Truppen am 28. Januar 1871. Zehn Tage zuvor hatten die deutschen Fürsten ausgerechnet im Schloss von Versailles den preußischen König Wilhelm zum ersten deutschen Kaiser proklamiert.
Granaten und Pickelhauben vom Schlachtfeld als Souvenirs
Nierhaus konnte den nationalistischen Zeitgeist der Jahre 1870/71 sehr anschaulich anhand von Zeitungs-Gedichten und Soldaten-Briefen aus dem Feld beleuchten. Geschäftstüchtige Mülheimer machen aus dem Krieg ein Geschäft , indem sie zum Beispiel Stadtpläne von Paris oder als Briefbeschwerer veredelte Granaten und Pickelhauben vom Schlachtfeld als Souvenirs unter die kriegsbegeisterte Bürgerschaft brachten. Hans-Werner Nierhaus machte mit seinem Vortrag im Haus der Stadtgeschichte deutlich, dass mit dem Deutsch-Französischen Krieg und der nachfolgenden Reichseinigung durch die deutschen Fürsten eine militaristische und obrigkeitsstaatliche Tradition begründet wurde.
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Die Begeisterung für den militärischen Sieg über Frankreich 1870/71 wirkte auch in Mülheim noch lange nach. Im September 1871 wurden das Kriegsende und der Sieg der deutschen Armeen mit einem großen Friedensfest, mit Fackelzügen und öffentlichen Illuminationen gefeiert. Zwei Jahre nach dem Krieg finanzierten Mülheimer Kriegervereine ein Denkmal, das an die Gefallenen des Deutsch-Französischen Kriegs erinnerte und das zunächst auf dem Rathausmarkt und später am Wilhelmplatz aufgestellt wurde.
Das alte Denkmal steht heute am Wilhelmplatz
Am Wilhelmplatz kann man es bis heute als Relikt aus der Zeit der Reichsgründung betrachten. Die Begeisterung für alles Militärische motivierte auch Mülheims ersten Oberbürgermeister von Bock, Mülheim 1899 erfolgreich als Garnisonstadt anzubieten. Aus dieser patriotischen Begeisterung der Wilhelminischen Zeit war auch die privat finanzierte Errichtung des Bismarckturms im Jahr 1909 zu erklären.
Für die Klassengesellschaft der damaligen Zeit sprach die von Nierhaus herausgearbeitete Tatsache, dass der preußische Staat die als Soldaten kämpfenden Beamten mit der Fortzahlung ihres Gehaltes und der Zahlung des Schulgeldes für ihre Kinder unterstützte. Alle anderen Bürger, die als Soldaten den Kopf hinhielten, waren auf die soziale Unterstützung durch private Wohlfahrts- und Bürgerkomitees angewiesen.
Heute sind Frankreich und Mülheim durch eine Städtepartnerschaft verbunden
Die Demütigung, die mit dem militärischen Sieg der deutschen Truppen und der nachfolgenden Annexion von Elsass und Lothringen den Franzosen 1871 aufgebürdet wurde, kam nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Form der französischen Ruhrgebiets-Besetzung 1923/25 auch auf die Mülheimer Bevölkerung wie ein Bumerang zurück. Damals konnten nationalistische Kräfte auf beiden Seiten den Hass der Völker aufeinander anstacheln.
Es brauchte erst die moralische und materielle Katastrophe einer Diktatur und eines zweiten Weltkrieges, damit aus vermeintlichen Erbfeinden Freunde werden konnten. In Mülheim wurde diese neue Deutsch-Französische Freundschaft 1962 mit der Begründung der Städtepartnerschaft zwischen Mülheim an der Ruhr und Tours an der Loire zu einem lebendigen Mahnmal gegen den Krieg und für den Frieden.
Aus den Briefen eines Styrumer Soldaten von der Front 1870/71 an die Eltern
In seinen Briefen von der Front schreibt der Styrumer Arbeiter Johann Buden 1870/71 an seine Eltern: „Liebe Eltern! Ich liege hier ins Quartier, ja liebe Eltern, ihr wisst wohl was man da kriegt bei die Franzosen und was man kriegt, da muss man noch bange sein, dass man es isst. Wenn man hier nicht etwas zuzusetzen hat, dann geht es schlecht, liebe Eltern. Mein Styrumer Kamerad Osterkamp liegt noch in Metz. Ich habe ihn geschrieben und er mich. Der steht nichts aus.“
Liebe Eltern! Die vorige Woche haben wir viel gelitten, fast jeden Tag ein Gefecht. Das 10. Armee Korps ist bald ganz geblieben. Prinz Friedrich Karl hat gesagt, wir sollten jetzt nicht mehr ins Gefecht. Sonst blieben kein Mann mehr übrig. Und jetzt haben wir ein paar Tage Ruhe und warten auf das 7. Armee Korps. Die sollen uns ablösen. Da ist Osterkamp und Otto Monig und alle die Styrumer bei. Wir lauern mit Schmerzen darauf damit wir hier ein bisschen verschont werden können.
Liebe Eltern, am 12. sind wir in Lemans eingerückt. Da hat es Menschen gekostet. Da schossen die Bürger aus Türen und Fenstern. Da haben wir 15.000 gefangen genommen und 400 Wagens mit Proviant, liebe Eltern. Wir sind jetzt soweit in Frankreich gekommen. Noch ein paar Marschtage, dann sind wir am Atlantischen Meer, liebe Eltern. Ich glaube es nimmt jetzt bald ein Ende, denn diese Armee die ist jetzt ganz geschlagen.“