Hamburg. Nur sieben Jahre nach Bergedorfs Durchbruchstraße: 1965 greifen sich die Stadtplaner den Nachbarort. Und Körber erobert das Schloss.
Großstadt-Träume bestimmen Bergedorfs Politik im Jahr 1965: „Neuordnung des Lohbrügger Ortskerns“ titelt die Bergedorfer Zeitung am 23. Januar. Es ist der Auftakt zur Zerstörung von gewachsener Kleinstadt-Idylle in Lohbrügge im Namen der selbstverliebten Stadtplanung der 60er-Jahre. Wer heute auf das Umfeld von Bahnhof, Alter Holstenstraße und Wochenmarktfläche schaut, kann nachvollziehen, wovor erste Kritiker schon damals, am 19. Oktober, in der bz warnten: „Wird das Lohbrügger Kerngebiet veröden?“
Neben der Idee von der autogerechten Stadt bestimmten der Neubau der Bergedorfer Zeitung am Curslacker Neuen Deich und natürlich der zum Philanthropen gewordene Unternehmer Kurt A. Körber die Schlagzeilen. Dem Hauni-Gründer gelang es, das gesamte Erdgeschoss des Schlosses mit seinem „Bergedorfer Gesprächskreis“ dauerhaft zu beziehen. Außerdem kommen die „Rolling Stones“ zu ihrem ersten Gastspiel nach Hamburg, mit der TSG Bergedorf entsteht der mit Abstand größte Verein im Bezirk – und auf der Sternwarte sorgt der Besuch eines echten Astronauten für Aufregung.
Polizeischutz für CDU-Chef nach Zustimmung zum Umbau Lohbrügges
Gleiches gilt für die Emotionen rund um Lohbrügges neue „innere Ordnung“: Nach dem einstimmigen Votum der Bezirksversammlung für die entsprechenden Bebauungspläne erhält CDU-Fraktionschef Franz Rohr anonyme Drohanrufe und wird sogar unter Polizeischutz gestellt, wie unsere Zeitung am 2. Oktober 1965 berichtet. Tatsächlich ist es erstaunlich, dass sich Bergedorfs Stadtplanung kaum sieben Jahre nachdem die heutige B5 als Durchbruchstraße durch Bergedorfs historische Vorstadt geschlagen wurde, nun auch noch an die Zerstörung des benachbarten Lohbrügge macht.
Geplant und beschlossen werden 1965 breite Straßenanbindungen vom jetzt fast fertigen, gut 6000 Wohnungen und 20.000 Menschen großen Lohbrügge-Nord ins Bergedorfer Zentrum. Um die vielen Menschen aus dem damals größten Neubaugebiet Norddeutschlands mit ausreichend vielen Geschäften und vor allem Parkplätzen zu versorgen, sahen die Stadtplaner keine andere Möglichkeit, als den alten gewachsenen Lohbrügger Ortskern zu einer modernen Einkaufsstadt mit großen Kaufhäusern und „Hochgaragen“ zu machen.
Vorgaben des Bebauungsplans locken Spekulanten nach Lohbrügge
Damit das gelingen konnte, hatten Bezirksamt und Politik die vielen Hundert Grundeigentümer schon 1963 mit einer Veränderungssperre belegt, also dem Verbot von Um- und Ausbauten ihrer teils winzigen, überwiegend betagten und einfachen Häuser. Zwei Jahre später folgte nun das, was quasi den Weg zum Zwangsverkauf an Großinvestoren ebnete: Der Bezirk schrieb Mindestgrundstücksgrößen von 5000, teils 10.000 Quadratmetern vor.
Was Kaufhäuser nach Lohbrügge locken sollte, öffnete die Tür für Immobilienspekulanten – und stieß die vielen betroffenen kleinen Grundeigentümer vor den Kopf. Bei einer Versammlung des Bergedorfer Bürgervereins im überfüllten „Holsteinischen Hof“ in Lohbrügge entlud sich die angestaute Wut, wie unsere Zeitung am 19. Oktober 1965 berichtet: „Was geschieht mit den Menschen, die in diesem Gebiet ansässig sind und die hier ihre Geschäfte betreiben? Es handelt sich hier nicht nur um eine harmlose Verschönerung. Es geht doch um eine Anzahl von Existenzen, die vernichtet werden können“, wird ein Wortbeitrag zitiert aus der „sachlichen Diskussion, die aber nichtsdestoweniger recht lebhafte Formen annahm“.
Erhoffte Kaufhäuser wie C&A, Kaufhof und Horten bleiben Lohbrügge fern
Bergedorfs Stadtplanungschef, Dipl.-Ing. Sporkert, hielt dagegen, indem er auf die Kaufkraft der 20.000 Menschen hinwies, die die Großwohnsiedlung Lohbrügge-Nord nun bald erreicht haben werde: „Die große Gefahr bedeutet doch Billstedt. Dort reihen sich die großen Kaufhäuser.“ Die frisch von der Bezirksversammlung beschlossenen Bebauungspläne seien die Grundlage, dem etwas entgegenzusetzen, damit, „die Lohbrügger Bevölkerung auch in Lohbrügge kaufen kann“.
Es war das Prinzip Hoffnung, das in den folgenden Jahren tatsächlich Großteile des Lohbrügger Zentrums dem Abrissbagger preisgab. Doch die erhofften Kaufhäuser wie C&A, Kaufhof und Horten blieben aus. Einzig das sogenannte „Haspa-Hochhaus“ am Lohbrügger Markt wurde realisiert. Viele andere Grundstücke lagen dagegen als Baulücken lange brach, erst Mitte der 80er-Jahre siedelte sich mit dem heutigen Marktkauf-Center ein größeres Einzelhandelszentrum in Lohbrügge an.
Das Planungsziel „autogerechte Stadt“ wird in Lohbrügge umgesetzt
Doch auch wenn das Versprechen der Stadtplaner, die dörfliche Idylle Lohbrügges für ein attraktives, modernes Zentrum zu opfern, nicht eingelöst wurde: Zum Leidwesen vieler Bewohner hielten sie beim Thema autogerechte Stadt Wort. Denn gebaut wurden einerseits die beiden „Versorgungsstraßen“ Hein-Möller-Weg und Ludwig-Rosenberg-Ring, die die neue Fußgängerzone durch Lieferzonen und Hunderte Stellplätze für Pkw ergänzen sollte. Andererseits starteten schon 1965 die Vorarbeiten zur Verbreiterung des vierspurigen Beckerkamps als direkter Verbindung nach Lohbrügge-Nord.
Diese und viele weitere „moderne“ Straßen zerstörten auch das weitere Umfeld der neuen Einkaufsstraße. Und sie hätten beinahe sogar den bis heute beliebten Wochenmarkt aus dem Zentrum verbannt. Erst in letzter Sekunde verhinderte die Bezirksversammlung ein Hochhaus, das die Planer gern als „Begrenzung des neuen Gebiets“ auf dem Marktplatz errichtet hätten, wie die Bergedorfer Zeitung am 10. Juli 1965 berichtet. Es sollte etwa die doppelte Anzahl von Etagen des „Haspa-Hochhauses“ haben. Der Wochenmarkt selbst wäre auf den Schulhof der heutigen Schule Leuschnerstraße verlegt worden.
Stadtplaner wollten den Lohbrügger Markt zur riesigen Kreuzung umbauen
Den Lohbrügger Markt sahen die Stadtplaner als riesige Kreuzung: Der bis 1967 tatsächlich vierspurig ausgebaute Beckerkamp klaute ihm im Osten rund 15 Meter, wobei der Markt auf der anderen Seite durch das Abknicken der Leuschnerstraße im Norden des Platzes aber einige Meter dieses zuvor bis zur Lohbrügger Landstraße durchlaufenden Weges hinzubekam. Der Beckerkamp selbst wurde bis zur B5 verlängert und war als östliches Ende der nördlichen Hamburger Ringstraße gedacht. Sie sollte von Blankenese über Rahlstedt nach Lohbrügge verlaufen, wurde aber nie gebaut.
Doch zurück zur Großkreuzung Lohbrügger Markt: Weil die Alte Holstenstraße im Plan zur Fußgängerzone wurde, sollte die Lohbrügger Landstraße zwischen Sander Treff und heutigem Kulturzentrum Lola nach Norden in den heutigen Leuschnerpark abknicken und auf dem alten Marktplatz den vierspurigen Beckerkamp kreuzen.
Von hier war nun die neue Alte Holstenstraße geplant, die weiter über die Bille bis zur Chrysanderstraße geführt werden sollte. Hinzu kam noch eine weitere, als „dritte Verbindung“ bezeichnete neue Straße, die mit einer Verbreiterung des Grasredders im Bergedorfer Villengebiet begonnen und als riesige Brücke Eisenbahn und Bille überspannt hätte, und in Lohbrügge schließlich in die Stormarnhöhe gemündet hätte. Natürlich als weitere große Kreuzung mit dem Beckerkamp.
Veto der Bezirksversammlung rettet Lohbrügger Wochenmarkt
Beide Bille-Querungen scheiterten letztlich schon im Frühjahr 1965 am Veto der Bezirksversammlung, wie die Bergedorfer Zeitung am 22. Mai aus einem interfraktionellen Antrag der drei Bezirksversammlungsparteien SPD, CDU und FDP zitiert: „Die Fläche des Lohbrügger Marktes muss auch in Zukunft in bisheriger Größe erhalten bleiben.“ So wurden beide Projekte zunächst vertagt und verschwanden schließlich wegen fehlender Finanzierung aus Hamburg ganz in der Schublade.
Dasselbe Schicksal ereilte auch das Projekt der Fußgängerzone in der Alten Holstenstraße. Obwohl sogar ein Fußgängertunnel unter dem Beckerkamp zur Lohbrügger Landstraße bereits projektiert war, machte das Ausbleiben des Baus der neuen Alten Holstenstraße einen dicken Strich durch die Pläne. Erst mit dem Bau des Suba-Centers, heute Marktkauf, 1985 wird die Idee der Lohbrügger Fußgängerzone umgesetzt. Es ist der Abschluss eines zwei Jahrzehnte dauernden Planungsdesasters, das Martin Denkhaus in „Die Alte Holstenstraße“ ausführlich beschreibt, dem ersten Band der Lohbrügge-Trilogie des Kurltur- & Geschichtskontors.
Parkpalette am Bahnhof wird 1965 Bergedorfs erstes öffentliches Parkhaus
Nicht schnell genug ging es Bergedorfs Politik 1965 aber mit dem Bau des bis dahin einzigen öffentlichen Parkhauses im Bezirk: Auf der Lohbrügger Seite des Bergedorfer Bahnhofs entstand im Sommer die bis heute erhaltene Parkpalette, die auf ihren zwei Ebenen immerhin Stellflächen für knapp 200 Pkw bietet. Aufmerksam wird der Bau auch von unserer Zeitung begleitet, bis es kurz vor der Eröffnung eine Hiobsbotschaft gibt: „Parkhaus-Benutzung nur mit ,park-and-ride‘-Plakette“ titeln wir am 20. August – die Bahn wollte die Stellflächen ihren S-Bahn-Kunden vorbehalten.
Doch kurz darauf können die Bergedorfer aufatmen, zumindest ein bisschen: Nur zwischen 6 und 9 Uhr ist die Plakette Pflicht. Außerhalb dieser Zeit darf jeder seinen Wagen hier kostenlos abstellen. Tatsächlich ist der Parkplatzmangel in Bergedorf 1965 ein Dauerbrenner. Händeringend sucht das Bezirksamt nach neuen Stellflächen. Angesichts der rasant wachsenden Blechlawine sind die von Bezirksamtsleiter Wilhelm Lindemann am 27. November in der Bergedorfer Zeitung präsentierten Zahlen winzig: „Insgesamt 840 Pkw-Stellplätze stehen zurzeit zur Verfügung, davon 565 auf Plätzen und 275 an Straßenrändern.“
ADAC-Ortsklub verteilt 30.000 Parkscheiben an Bergedorfer
Damit der Mangel zumindest etwas abgemildert wird, startet Bergedorfs ADAC-Ortsklub im August 1965 die in ganz Hamburg aufmerksam verfolgte „Aktion Parkscheibe“: 30.000 Stück werden über die Geschäfte in der Innenstadt verteilt und sogar von Soldaten aus den Wentorfer Kasernen in einer nächtlichen Steckaktion unter die Scheibenwischer parkender Autos geklemmt.
In Absprache mit der Verkehrspolizei wurde die Parkzeit in Bergedorfs und Lohbrügges Innenstadt so auf maximal zwei Stunden begrenzt. Einzige Ausnahme bildeten die wenigen Flächen, auf denen schon seit 1961 die ersten exakt 52 Parkuhren Bergedorfs standen. Fazit unserer Zeitung am 11. November: „Parkscheiben sind nicht mehr wegzudenken“.
Diskussion um den Sinn einer Fußgängerzone im Sachsentor
Für Bergedorfs Hauptgeschäftsstraße Sachsentor werden dennoch Forderungen immer lauter, den nur noch als Einbahnstraße Richtung Westen fließenden Verkehr endlich ganz zu verbannen: Eine Umfrage unserer Zeitung vom Sommer 1965 fördert sogar bei den Ladeninhabern eine knappe Mehrheit für die Fußgängerzone zutage. Vorausgesetzt, es werden zwei vom Bezirksamt bereits geplante Projekte realisiert, wie wir am Wochenende 3./4. Juli schreiben: „1. In unmittelbarer Nähe des Sachsentors müssen genügend Parkplätze vorhanden sein. 2. Zwei parallel laufende Ladestraßen und Verlängerung der Schlossstraße und Hinterm Graben müssen fertiggestellt sein.“
Textilhauschef Herbert Penndorf hält allerdings dagegen, wie unsere Zeitung schreibt: „Schließlich könne man den modernen Menschen vom Auto nicht trennen. Er wolle gesehen werden mit seinem Fahrzeug aus Gründen des Sozialprestiges und diesem müsse der Geschäftsmann entgegenkommen.“
„Iduna-Hochhaus“ an der Bergedorfer Straße holt sogar Sternwarte in die City
Derweil entsteht am Rand der City, gleich direkt an der Bergedorfer Straße das bis heute markante „Iduna-Hochhaus“. Von der gleichnamigen Versicherung gebaut und Ende 1969 fertiggestellt, ist der neungeschossige Bau vor allem für Büros konzipiert, die kurz darauf auch Sitz des Projekts „Europäische Südsternwarte“ wurden, das bereits 1962 von den Wissenschaftlern der Bergedorfer Sternwarte ins Leben gerufen worden ist und heute in Garching bei München sitzt.
Innerhalb des Bezirks sollte das „Iduna-Hochhaus“ einziges Bergedorfer Gegenstück zur stadtplanerischen Komplett-Umgestaltung des Lohbrügger Ortskerns bleiben – und das einzige Großprojekt, das von den hochtrabenden Vorhaben für die Bebauung am Rand der mitten durch Bergedorf getriebenen Durchbruchstraße tatsächlich realisiert wurde: „Das neue ,Iduna‘-Haus schließt eine wesentliche Lücke in der Bebauung der Bergedorfer Straße und wird entschieden dazu beitragen, das Einkaufszentrum der Bergedorfer Innenstadt zu beleben“, schreibt die Bergedofer Zeitung am 10. Juli 1965.
Neubau der Bergedorfer Zeitung entsteht am Curslacker Neuen Deich
Zu diesem Zeitpunkt wird im gut 500 Meter südlich gelegenen Gewerbegebiet bereits an der Zukunft unseres Verlages gearbeitet: „25.000 Zeitungen in einer Stunde“ lautet die Überschrift eines Artikels am 19. Juni über den rasanten Fortschritt der Bauarbeiten am Curslacker Neuen Deich, dem künftigen Sitz der Bergedorfer Buchdruckerei von Ed. Wagner. Als erstes wird hier das neue Druckhaus gebaut, weil die neue, hochmoderne 110 Tonnen schwere Rotationsmaschine den Traditionsstandort am Bergedorfer Markt überfordert hätte.
Tatsächlich geht der Wunsch von Verlagschef Reinhard Wagner in Erfüllung und die Weihnachtsausgabe der Bergedorfer Zeitung ist 1965 die erste, die am neuen Standort Lehfeld/Curslacker Neuer Deich gedruckt wird. Dort schließen sich weitere Bauabschnitte an, bis zu Ostern 1967 schließlich der gesamte Verlag samt Redaktion und Buchdruck umgezogen ist. Während der alte Sitz 1969/70 dem Bau des Kaufhauses Kepa zum Opfer fällt, bleibt nur die Geschäftsstelle der Bergedorfer Zeitung in der Innenstadt. Sie bezieht neue Räume im „Iduna-Hochhaus“.
Kurt A. Körber sichert sich das Schloss als „friedlicher Eroberer“
Derweil sichert sich der Unternehmer und Hauni-Gründer Kurt A. Körber als „friedlicher Eroberer“ das Bergedorfer Schloss. Als ihm Kultursenator Hans-Harder Biermann-Ratjen am 7. Mai 1965 mit diesen Worten einen überdimensionalen Holzschlüssel als Symbol für das gesamte Erdgeschoss des Bergedorfer Wahrzeichens übergibt, ist das für Körber mehr als ein Ritterschlag. Er bezieht mit seinem Bergedorfer Gesprächskreis das zuvor auch mit seinem Geld renovierte Erdgeschoss und holt in den folgenden Jahren prominente Wissenschaftler, Politiker und Kulturschaffende nach Bergedorf.
Die Idee, mit seinem „Gesprächskreis zu Fragen der freien industriellen Gesellschaft“ eine Tür zu öffnen zur Überwindung des Kalten Krieges und seiner permanenten Gefahr eines atomaren Angriffs, macht den Unternehmer endgültig zum Mäzen, der über den Untiefen des Alltags steht: „Kurt A. Körber, dem klugen Mann, dem Förderer von Kunst, Wissenschaft und Forschung und vorbildlichen Bürger in Hochachtung und Dankbarkeit“, bekam er von Senator Biermann-Ratjen in seiner Ansprache im Schloss den Ritterschlag.
Bergedorfer Zeitung wird zu Körbers Bewunderer – und zu seinem Sprachrohr
Unsere Zeitung berichtet ausführlich und macht sich auch in den folgenden Monaten geradezu zum Sprachrohr Körbers, indem teils komplette Reden zu seinen Bergedorfer Projekten abgedruckt werden. Dazu gehört auch der nun anlaufende Bau der sogenannten Ingenieurschule, dem Vorläufer der heutigen Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), die als Teil der Neugestaltung Lohbrügges auf dem ehemaligen Ziegeleigelände oberhalb der B5 gebaut wird.
Körber gibt einige Millionen Mark dazu, belässt die Verantwortung und den Löwenanteil der Finanzierung aber beim Senat, den er nun geschickt vor sich her treibt. Körber erweitert sein Tabak-Technikum, die Keimzelle der Ingenieurschule, immer weiter, gründet zudem unter anderem das „Bergedorfer Lehr- und Forschungsinstitut für industrielle Koordinierung“. Alles dient dem Führungskräfte-Nachwuchs seiner Hauni, wird dank seiner Kontakte und seiner mittlerweile fast unantastbaren Persönlichkeit aber wie selbstverständlich zur öffentlichen Aufgabe.
Willy Brandt begeistert 5000 Bergedofer bei Wahlkampf-Rede in Lohbrügge
Die Bergedorfer danken es ihrem einzigen wirklich großen Prominenten, denn tatsächlich hob Kurt A. Körber das Ansehen und das Geld, das in diesen doch eher abseits gelegenen Randbezirk aus der Hansestadt floss, beträchtlich. Nebenbei pflegte er auch eine enge Freundschaft zu Helmut Schmidt, der 1962 als Manager der verheerenden Flutfolgen populär geworden und 1965 als rechte Hand von Kanzlerkandidat Willy Brandt in Bonn in den engsten Führungskreis der SPD aufstieg – und zudem ab 1969 Bergedorfs Bundestagsabgeordneter war.
Am 9. September kam Willy Brandt als Wahlkämpfer nach Bergedorf und wurde nachmittags von 5000 Menschen auf dem Lohbrügger Markt empfangen. Er war „drahtig, männlich, braungebrannt und sichtlich gut in Form“, schreibt unsere Zeitung tags darauf - und auf der zur Wahlkampf-Bühne umfunktionierten Ladefläche eines Lkw umrahmt von der Veerlanner Speeldeel in Tracht samt „riesigem Gemüsekorb“ auch ziemlich schlagfertig: „Die jetzige Bruch-Koalition hat kein Recht darauf, dass ihr Mandat von den Wählern verlängert wird. Es ist kein Wunder, wenn sich niemand zu einer Debatte mit mir vor die Fernsehkameras getraut hat.“
Zum Staatsbesuch der Queen täglich Sonderseiten in Bergedorfer Zeitung
In Bergedorfs Parteienlandschaft war 1965 auch die NPD noch eine feste Größe in Bergedorf. Sie stellte hier mit dem 38-jährigen Speditionskaufmann Hans-Heinrich Traun sogar einen der sechs Direktkandidaten für den Bundestag. Am Ende siegte bei der Wahl am 19. September die CDU/CSU, doch die SPD verzeichnete einen „beachtlichen Stimmenzuwachs“ von 36,2 auf 39,3 Prozent, wie unsere Zeitung am Montag danach titelt. Eine Woche später werden Willy Brandt und Helmut Schmidt gezeigt, die sich „zu einem Allparteienkabinett“ mit CDU und FDP bereiterklären. Doch die setzen ihre Koalition fort, Ludwig Erhard bleibt Kanzler.
Ganz andere Prominenz begeistert im Mai die Massen: Queen Elizabeth von England und Prinz Philip kommen zum ersten großen Staatsbesuch nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland. Bis zum Finale in Hamburg reisten sie fast zwei Wochen durch die Bundesrepublik und wurden zu einem medialen Großereignis. Auch die Bergedorfer Zeitung widmete dem gekrönten Traumpaar täglich den Titel und teils mehrere Sonderseiten.
Rolling Stones in Hamburg – und ein echter Astronaut besucht die Sternwarte
Deutlich kleiner und weit wenigrt begeistert berichtet die Bergedorfer Zeitung im September 1965 vom ersten Konzert der Rolling Stones in Hamburg: „Es ist überstanden, die Hansestadt ist die ,Rolling Stones‘ wieder los“, heißt es nach den beiden Konzerten vom 13. September. Tatsächlich hatte es 47 Festnahmen und acht Verletzte gegeben.
Einen Monat später kommt Prominenz aus den USA sogar direkt nach Bergedorf: John Glenn, der 1962 als erster Amerikaner, aber mehr als zehn Monate nach dem Russen Juri Gagarin, die Erde in einem Raumschiff umkreiste, machte auf seiner Europa-Reise Station auf der Sternwarte. Bei seinem Rundgang über das Gelände schaute er auch durch eines der Teleskope: „Ich sehe gerade die Russen auf dem Mond landen!“, waren die ersten Worte, die der spätere Senator von Ohio den verdutzten Wissenschaftlern sagte – und die es am 6. Oktober 1965 auch zur Titelzeile unserer Sonderseite zu seinem Besuch brachte.
Vor 3000 Menschen: Bürgermeister Weichmann weiht KZ-Gedenkstätte ein
Es war die Zeit des Wettlaufs der beiden Machtblöcke auf dem Weg zum Mond, den die Amerikaner vier Jahre später, am 16. Juli 1969, schließlich für sich entscheiden sollten. Dass es dabei mal nicht um atomare Drohgebärden samt der latenten Gefahr eines Dritten Weltkriegs zwischen den Supermächten handelte, ließ auch die Bergedorfer aufatmen. Sie hatten das Grauen der Nazi-Diktatur schließlich in direkter Nachbarschaft: 1965 wurde aus dem ehemaligen Konzentrationslager Neuengamme, in dem von der SS mindestens 42.900 Menschen getötet worden waren, eine Gedenkstätte.
„Ich bitte Sie um Vertrauen in das neue demokratische Deutschland“, sagte Hamburgs Bürgermeister Herbert Weichmann bei der Eröffnungsfeier, der die Bergedorfer Zeitung am 8. November eine komplette Seite widmet: „Über 3000 Menschen weihten gestern in einer eindrucksvollen Feierstunde die neue Gedenkstätte“, berichtet unsere Zeitung vom Auftritt des Bergedorfer Kammerchors unter Leitung von Hellmut Wormsbächer und der Rede des ehemaligen KZ-Häftlings Jean-Almé Dolidier, nach dem heute die Straße zur Gedenkstätte benannt ist. Besonders beeindruckte das Einweihungsgeschenk seiner Landsleute: „Ehemalige französische Insassen des Lagers hatten einen Kranz mitgebracht, der aus dem Stacheldraht des Konzentrationslagers geflochten worden war.“
TSG Bergedorf entsteht aus Bergedorfer Turnerschaft und „Spiel und Sport“
Das so geläuterte Bergedorf schaute 20 Jahre nach dem Krieg allerdings weniger zurück in die Vergangenheit, als viel lieber optimistisch in die Zukunft. So hatten schon im Januar 1965 die Bergedorfer Turnerschaft von 1860 und der Verein Spiel und Sport Bergedorf durch ihre Fusion den neuen Großverein Turn- und Sportgemeinschaft Bergedorf, kurz TSG, gebildet. Zusammen stiegen sie mit damals 3000 Mitgliedern direkt in die Liga der fünf größten Hamburger Sportvereine auf, die die TSG mit heute rund 10.000 Vereinssportlern nie wieder verlassen hat.
Die Vielfalt des neuen Angebots reichte laut Sonderseite unserer Zeitung vom 16. Januar 1965 von diversen Turn- und Gymnastikgruppen über gleich zwei Spielmannszüge und die üblichen Ballsportarten sowie Leichtathletik, Tennis, Tischtennis, Judo und Schwimmen bis zum damals schon legendären, quasi eigenen Ferienlager in Behrensdorf an der Ostsee.
Eine geradezu beliebige Vielfalt, die sich da unter dem von Grafiker Bruno Karberg entworfenen TSG-Wappen gebildet hatte, die manchem offenbar Angst machte, hier könnte die familiäre Vertrautheit des Vereinslebens auf der Strecke bleiben. Der Vorstand hält in der Bergedorfer Zeitung dagegen: Man werde „kein Warenhaus für Leibesübungen sein“, sondern trotz der neuen Größe „auch ideelle und seelische Werte fördern“.
Katholische Kirche St. Marien abgerissen: Neubau kostet 1,2 Millionen Mark
Groß wird 1965 auch Bergedorfs Katholische Kirche, die am Reinbeker Weg ihre kleine, gut 100 Jahre alte Marienkirche abreist. Sie macht Platz für ein geräumiges neues Gemeindezentrum und vor allem für ein riesiges Gotteshaus mit 470 Plätzen samt frei stehendem, 30 Meter hohen Glockenturm. „Die voraussichtlichen Kosten dieses Kirchenneubaus betragen 1,2 Millionen Mark“, schreibt unsere Zeitung am 17. Juli.
Empfindlich teuer wird es 1965 auch für Autofahrer, die betrunken am Steuer sitzen: Die Fahruntüchtigkeit wird von 1,5 auf 1,2 Promille herabgesetzt. Was aus heutiger Sicht noch immer unverantwortlich hoch ist, sollte damals helfen, die immensen Unfallzahlen einzudämmen. In einem Interview mit unserer Zeitung nennt Amtsgerichtsdirektor Otto Stegemann Zahlen: 1964 gab es in Bergedorf 153 Verhandlungen wegen Trunkenheit am Steuer, während es 1957 nur 42 waren.
Fahruntüchtigkeit wird von 1,5 auf 1,2 Promille herabgesetzt
Dennoch sorgt die Herabsetzung der Fahruntüchtigkeit offenbar allgemein für Kopfschütteln, wie der Vorspann unseres Artikels verrät: „Für Autofahrer in Bergedorf wird es immer gefährlicher, sich nach Alkoholgenuss ans Steuer zu setzen. Sie brauchen sich nicht das Geringste im Verkehr zuschulden kommen zu lassen. Allein ein Blutalkoholgehalt von 1,2 Promille genügt für eine sechswöchige Gefängnisstrafe ohne Bewährung und einige Monate Führerscheinentzug.“
Derweil soll in Bergedorf 1965 nicht nur Lohbrügges Ortskern für die Autofahrer fallen. Die Leser unserer Zeitung verfolgen auch das „Tauziehen um die Wentorfer Straße“ (9. Juli) um die von der Stadtplanung geforderte deutliche Verbreiterung, die „Notfalls mit Enteignung“ (13. Juli) durchgesetzt werden müsse. Entwarnung gibt es am 22. November immerhin für die Holtenklinker Straße, die nun nicht mehr wie der Beckerkamp in Lohbrügge auf 24 Meter und damit vier Fahrspuren verbreitert werden soll.
Hamburg plant neue Umgehungsstraße von Boberg bis zur Rothenhauschaussee
Hintergrund ist eine neue Umgehungsstraße, die die chronisch überlastete, erst sieben Jahre junge B5 im Zentrum Bergedorfs entlasten soll. Oberbaudirektor Otto Sill stellt sie der erstaunten Bezirksversammlung Ende Mai vor: Statt der von Bergedorfs Politik bereits 1963 genehmigten südlichen Umgehung, die etwa den Verlauf des heutigen Sander Damms nehmen und über den Frascatiplatz weiter bis zum Mohnhof geschlagen werden sollte, favorisieren Hamburg jetzt ein weit größeres Projekt.
„Es handelt sich um die südwestliche Ortsumgehung, wie sie jetzt nach langwierigen Untersuchungen entworfen wurde“, beschrieb Sill am 20. Mai, was unsere Zeitung bereits einen Monat zuvor aus der Hamburger Baubehörde erfahren hatte: „Abzweigend von der Bergedorfer Straße an der Einmündung Lohbrügger Landstraße geht es nach Süden den Dünenhang hinunter bis zum Billwerder Billdeich und von dort bis an die künftige S-Bahnstation“, schreiben wir am 24. April.
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Grund für diese Trassenführung ist das jetzt hier geplante Bergedorf-West mit seinem späteren S-Bahnhalt Nettelnburg. „An der Station Kreuzung der Bundesbahngleise und Weiterführung entlang des Bahnkörpers durch das Sanierungsgebiet um den Weidenbaumsweg. Überquerung des Schleusengrabens mit Endpunkt Frascatiplatz“, berichten wir. Von dort aus verlaufe die Umgehungsstraße „über das VHH-Gelände und hinter dem Brookdeich bis an die Einmündung in die Rothenhauschaussee“.
Die weiteren Pläne des Oberbaudirektors erinnern an politische Dauerbrenner, die bis heute unerledigt sind: Um die Ortsumgehung komplett zu machen, brauche es „von der Rothenhauschaussee im Raum Börnsen einen Anschluss an die B207“. Auch ein Anschluss an die 1965 unter anderem als Straßenbrücke über das Geesthachter Stauwehr gerade entstehende B404 von Kiel bis Lüneburg sei in Form der schon länger diskutierten „Marschenstraße“ erforderlich – aber noch Zukunftsmusik.