Hamburg. Das Hallenbad ist 1964 noch nicht ganz fertig, da gibt es bereits weitere Pläne. Für Aufregung sorgt hingegen eine andere Immobilie.
Geschichte wiederholt sich immer zweimal, schrieb einst der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Und wer genau 60 Jahre zurückschaut, in die Zeitungsberichte des Jahres 1964, der entdeckt zumindest Parallelen zur Gegenwart. Brüdervölker bekämpfen sich auch damals, wenngleich nicht in der Ukraine, sondern im blutigen Zypernkonflikt. Der Kalte Krieg schafft ein unsicheres Lebensgefühl, Westen und Osten stehen sich misstrauisch gegenüber, drohen sich auch atomar. Und selbst im kleinen, lokalen Bereich ist in Bergedorf manch ein Aufreger damals wie heute nur allzu aktuell: Arbeitskräfte und auch Lehrer fehlen, Wohnungsbau und Parkplatznot sind große Themen – das Wirtschaftswunder hat nicht nur Sonnenseiten.
Die gedeihende Wirtschaft treibt die Menschen vor sich her. „Lebensstandard steigt weiter“, berichtet die Bergedorfer Zeitung am 16. September und rechnet vor, dass mehr als die Hälfte des bundesdeutschen Sozialprodukts für den privaten Verbrauch verwendet werden: „Ein Tausender im Jahr für Luxus“, so die Schlagzeile. Die Folge des zunehmenden Wohlstands lässt sich überall beobachten. Auch Bergedorf muss weiter wachsen, es wird gebaut und optimiert. Und das nicht immer zur Zufriedenheit der Menschen.
Der Bille-Bad-Neubau ist nur eines von vielen Bauthemen 1964 in Bergedorf
Lohbrügge-Nord – oder, wie es damals zunächst hieß: „Nord-Lohbrügge“ – ist quasi das Oberbillwerder jener Zeit. 1961 war der Bau begonnen worden. Und 1964 berichtet unsere Zeitung meist wohlwollend über die Baufortschritte, die „schmucken Neubauten“ an der Goerdelerstraße und die „350.000. Hamburger Nachkriegswohnung“, die hier entsteht. Doch es gibt auch Probleme, etwa mit dem schwierigen Bauuntergrund. Und als schließlich die ersten Bewohner einziehen, fühlt sich manch einer fremd in dem neuen Quartier, das gebaut wurde, um die Wohnungsnot der Nachkriegszeit zu beenden.
Denn um die Lebensqualität ist es noch nicht zum Besten bestellt: Es fehlen Versorgungseinrichtungen, es fehlt am Grün. Bezirkspolitiker Franz Rohr (CDU) stellt damals fest, „daß die Bewohner der neuen Wohnungen zunächst sehr glücklich über ihr neues Heim wären, daß nach einer gewissen Zeit aber doch ,das Meckern einsetze‘. Nach seiner Auffassung durchaus zu Recht“, so berichtet unsere Zeitung aus einer Bezirksversammlung. Im Bergedorfer Parlament werden nun Forderungen laut, schnell mehr Geld aus dem Hamburger Haushalt für Grünanlagen einzufordern.
Das Thema Bauen ist das ganze Jahr hindurch vorherrschend, neue Projekte formen das Bergedorf, wie es die Menschen teils heute noch kennen. So wird die Mohnhof-Kreuzung zwischen April und September in ihrer jetzigen Form umgebaut. Auf der Lohbrügger Bahnhofsseite wird mit dem Bau von Park-and-Ride-Parkplätzen begonnen. Es werden Debatten geführt, ein neues Geschäftszentrum zu bauen, im Bereich Alte Holstenstraße oder am Frascatiplatz. Erst 1973 wird allerdings das CCB eröffnen. Und es fällt 1964 die Entscheidung, einen neuen S-Bahnhalt am Oberen Landweg zu bauen.
„Das lange Hin und Her um den Bau eines weiteren Bergedorfer Stadtteils, ,Bergedorf-West‘, ist um eine Neuigkeit bereichert worden“, schreibt die Bergedorfer Zeitung am 15. September 1964: „Kürzlich faßte die Bundesbahndirektion Hamburg den Entschluß, dem Bau einer S-Bahn-Station ,Oberer Landweg‘ grundsätzlich zuzustimmen.“ Das Landesplanungsamt hatte seine Zustimmung zum Bau des neuen Stadtteils Bergedorf-West an einen zusätzlichen Bahnhof geknüpft. Nun also soll die neue Station kommen, die heute als S-Bahnhalt Nettelnburg bekannt ist. 1970 wird sie tatsächlich eröffnet – nachdem 1967 mit dem Bau von Bergedorf-West begonnen worden war.
1964 werden Pläne für eine Ingenieursschule an der Lohbrügger Kirchstraße vorgestellt
1964 kündigt sich zudem ein weiterer wichtiger Neubau an: die Errichtung einer Ingenieursschule im Bereich Ulmenliet, Höperfeld, Lohbrügger Kirchstraße. Am 17. Juli zeigt die Bergedorfer Zeitung die Pläne einer Schule aus mehreren langgestreckten Gebäuden. Und schreibt: „Nach fünfjähriger Planungsarbeit wurde gestern abend der Bergedorfer Bezirksversammlung das Modell der künftigen Ingenieursschule vorgestellt. Dr. Körber, Inhaber der Hauni-Werke und Initiator dieser Schulneugründung referierte über die innere Planung des großen Instituts, während Architekt Peter Schweger dem Parlament die äußere Form der Schule erläuterte.“ Allein der erste Bauabschnitt werde 40 Millionen Mark kosten .
Die „fortschreitende Technik und Industrialisierung“ mache die Ausbildung weiterer Ingenieure notwendig, zitiert die bz den Unternehmer Kurt A. Körber. Eine sechssemestrige Ausbildung für künftige „Produktionsingenieure“ soll in der neuen Schule geboten werden. Auch habe er Geld für ein Studentenwohnheim gewinnen können, das die Johann-Carl-Müller-Stiftung in der Nähe bauen werde, so Körber. Seine Pläne werden später Realität: 1972 wird die neue Fachhochschule, die heutige HAW, fertiggestellt. Auch ein Studentenwohnheim entsteht.
Vorangeschritten ist 1964 bereits eine andere Baustelle: „Zügige Arbeit an der Schwimmhalle“, vermeldet die bz im März, und zeigt die Handwerker, die am Bille-Bad werkeln, dem Vorläufer des jetzigen, 2005 eröffneten Bades: „Nicht nur die äußere Gestalt der Bergedorfer Schwimmhalle nimmt allmählich konkrete Formen an“, heißt es damals. Auch im Inneren der Halle und in den Nebengebäuden seien die Handwerker „gut vorangekommen“. Im Januar war zudem die Entscheidung gefallen, nach der Fertigstellung der Schwimmhalle auch das dazugehörige Freibad ganz neu zu bauen – mit zwei großen Außenbecken und einer vergrößerten Liegewiese.
Doch längst nicht alle Bauvorhaben begeistern die Bergedorfer. Ein echter Aufreger des Jahres ist der geplante Ausbau des Grasredders im Villengebiet. Die Straße soll zur Verbindungsstraße zwischen Bergedorf und Lohbrügge werden und dafür von elf auf 18 Meter verbreitert werden. Doch die Anwohner formieren sich zur Interessengemeinschaft, wehren sich massiv gegen den Ausbau ihrer Straße zur „Rennstrecke“. Die 50 Haus- und Grundeigentümer „werden bis zur letzten Instanz um die Erhaltung ihrer jetzigen Straße prozessieren“, zitiert die bz am 4. September den Sprecher der Gemeinschaft. Der Protest wird wirken: Obwohl der Bebauungsplan längst fertiggestellt ist, wird das Vorhaben im November schließlich fallengelassen.
Das gesamte Inventar des Gasthof Stadt Hamburg kommt unter den Hammer
Ebenfalls ein heißes Eisen ist in 1964 der Leerstand des Gasthofes Stadt Hamburg im Sachsentor. Der erst 1959 wiederaufgebaute, historische Gasthof hat sich zum „Sorgenkind der Gastronomie“ entwickelt. Denn der bisherige Pächter streitet mit Stadt und Bezirk über Ausbau und Erweiterung des Baus, fordert insbesondere eine bessere Küche. Baukosten samt Anbau: etwa 250.000 Mark. Der Pachtvertrag platzt und ein Nachfolger findet sich zunächst nicht. Bezirksamtsleiter Lindemann droht im Februar: „Wenn sich nicht bald ein neuer Pächter findet, ist ab 30. März endgültig Schluß.“
Eine Nachricht, die „wie eine Bombe“ in Bergedorf einschlägt. Würde dies das Aus für den Gasthof sein? Doch die Stadt entschließt sich, für 30.000 Mark das Innere zu sanieren, versteigert deshalb die gesamte Einrichtung des Hauses: Am 27. April 1964 kommt die „gut erhaltene Gesamteinrichtung des 1959 mit Glanz, Gloria und Glückwünschen wiedereröffneten Gasthofes“ unter den Hammer – von der Kaffeemaschine über Gläser, Karaffen, Vorhänge und Teppiche bis zum Mobiliar. Der Andrang ist riesig. Unter anderem geht ein Klavier für 2000 D-Mark weg, ein Küchenherd für 200 Mark. Die Debatte über die Zukunft des Gasthofes setzt sich indes auch in der Bezirksversammlung fort. Im Juni schließlich die erlösende Nachricht: Die Bavaria- und St. Pauli-Brauerei möchte als dritter Pächter den denkmalgeschützten Gasthof übernehmen. Tatsächlich wird am 29. November 1964 Eröffnung gefeiert.
Was bewegt die Bergedorfer sonst noch in diesem Jahr, das ihnen einen schönen, heißen Sommer und sogar weiße Weihnachten beschert? In den Vier- und Marschlanden ist die Aufregung über ein neues Deichgesetz groß, mit dem nach der großen Flut 1962 die Deiche überwiegend in öffentliches Eigentum überführt werden sollen. Es wird trotz der Proteste beschlossen. Die Bergedorfer, von denen immer mehr ein Auto besitzen, ärgern sich hingegen über fehlende Parkplätze im Zentrum. Und die bz titelt: „Autofahrer stöhnen: Warum immer mehr Parkuhren an Bergedorfs Geschäftsstraßen?“ Auch in der heimischen Wirtschaft gibt es Neuigkeiten: Kerzen Gies verlässt Bergedorf und siedelt nach Glinde über, die Stocksche Ziegelei in Lohbrügge stellt ihren Betrieb ein. Die VHH wollen vergrößern und kündigen angrenzenden Kleingärtnern am Schwarzen Weg.
Draußen in der weiten Welt geschehen weit dramatischere Dinge. In den USA, wo der Ku-Klux-Klan im Mai zwei Männer ermordet hatte, kämpfen schwarze Menschen immer vehementer für ihre Rechte. Am 2. Juli wird schließlich die Rassentrennung aufgehoben. Aktivist Martin Luther King erhält den Friedensnobelpreis. Der Kalte Krieg setzte sich fort, China zündet testweise eine Atombombe. In New York beginnt die Weltausstellung. Die Beatles belegen mit fünf Singles Platz eins bis fünf der US-Charts – eine nie da gewesene Situation. Und die Weltwirtschaft wächst und wächst.
„Aufsehenerregende Serie“ über die hohe Zahl unehelicher Kinder
Das ist auch dieser neuen Technik zu verdanken, die nun immer mehr von sich reden macht, den Computern. Auch in der Bergedorfer Zeitung wird der Fortschritt in Medizin und Technik in einigen Artikeln gewürdigt. Neugierig macht zudem die Zukunft des Autos, in dem die Menschen vielleicht „bald wohnen und arbeiten werden“, wie unsere Zeitung spekuliert.
Doch die Fortschrittsliebe hat ihre Grenzen. Dem Deutschland des Jahres 1964 haftet noch immer stark der Muff der Nachkriegsjahre an, und Bergedorf ist da keine Ausnahme. Skeptisch wird etwa beäugt, dass sich die jungen Menschen gerne zu einem ominösen Tanz namens Twist treffen. „Jugendschutz vor schweren Aufgaben“, heißt es in der bz vom 7. März, die von „Razzien in Twistlokalen“ berichtet. Und besorgt wird berichtet, dass die Zahl der unehelichen Babys „noch nie so hoch“ war: „60.000 im Jahr!“, heißt es entsetzt. Eine „aufsehenerregende Serie“ wird dazu versprochen.
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Auch von Gleichberechtigung oder Inklusion ist 1964 wenig zu spüren. Geistig behinderte oder dunkelhäutige Menschen werden sprachlich deutlich ausgegrenzt, Frauen herablassend mit Ratschlägen versorgt. In einer Kolumne mit dem Titel „Mädchen sind schön wie Teppiche“ beschreibt ein Mann ausführlich, wie er mit einem Händler um einen wunderschönen Teppich feilschte. Doch weil der Händler immer weiter mit dem Preis herunterging, erschien der Teppich plötzlich billig.
Ein Gleichnis natürlich, denn der Autor hatte zuvor ein Mädchen getroffen, „so schön“, dass er schon von Hochzeit träumte. „Aber als sie vorschlug, mit mir in ein Espresso mit einer Musikbox zu gehen und sich schon in der ersten Nacht ohne Widerstand küssen ließ“, da war es aus. Ein Kuss am ersten Abend? Pfui! „Mach dich nicht billig“, rät der Mann, der die Schöne ja offenbar zuerst geküsst hatte. „In der Liebe wollen wir Männer gern den vollen Preis zahlen, den echten Preis bezahlen.“ Dem Autor wäre heute der mediale Shitstorm sicher.
Ob es solchen wertvollen Ratschlägen zu verdanken ist oder auch nicht: In Bergedorf finden auch 1964 wieder viele Paare zueinander, geben ihre Verlobung über die bz bekannt. Es wird hier und anderswo ein Jahr werden, in dem so viele Babys zur Welt kommen wie selten zuvor: Der Jahrgang 1964 ist mit 1,35 Millionen Babys der geburtenstärkste Jahrgang seit 1945, heißt es im Demografie-Portal. In Bergedorf weiß die bz im Juli zu berichten, welche Namen die frischgebackenen Eltern ihren Babys besonders gern geben. Thomas und Sabine führen damals im Bezirk die Hitliste der hiesigen Babynamen an. Aber auch neue Trends würden sich abzeichnen, verrät das Bergedorfer Standesamt. Nordische Namen sind im Kommen! Thorsten, Sven, Kerstin, Andrea und Elke sind gefragt. Jene Kinder, die nun bald in Rente gehen.