Hamburg. 1960 bringen Bundeswehr-Lkw Hunderte Männer vom Bergedorfer Bahnhof in die Bismarck-Kaserne – „mit Lederkoffern statt Pappkartons“.

Die Welt ist im Umbruch. 1960 wird noch heiß über den Algerienkrieg diskutiert, während Fidel Castro die wichtigsten Unternehmen auf Kuba verstaatlicht. Unterdessen sprechen Chruschtschow und Nehru vor der UNO-Vollversammlung über die vom Kremlchef geforderte Reorganisation der UNO. Und Amerika schaut auf seine Wahlen am 8. November: Nach achtjähriger Präsidentschaft wird Dwight D. Eisenhower nun von John F. Kennedy abgelöst.

Unterdessen will das Bundesatomministerium das von deutschen Wissenschaftlern entwickelte Verfahren zur Uran-Gewinnung beim Bundespatentamt als „Geheimsache“ erklären, damit es „nur für friedliche Zwecke verwendet werden“ könne. Nahezu zeitgleich wird nach sieben Jahren im Bundestag der „Landesverräter Alfred Frenzel“ als Spion enttarnt, der das westdeutsche Raketenprogramm gut kennt.

Rückblick auf 150 Jahre bz: Bundeswehr rückt in Bismarck-Kaserne in Wentorf ein

Zudem tobt noch der „Fernsehstreit“, wobei die Deutsche Bundespost mit dem Aufbau einer zweiten Senderkette beginnt – für das zweite öffentlich-rechtliche Fernsehprogramm (ZDF). Was aber interessiert die Bergedorfer besonders? Da wird über das neue „Farbfernsehen bei Operationen“ gestaunt, die Abschaffung der Sonntagsarbeit diskutiert, Tuberkulose und Kinderlähmung ein Kampf angesagt.

In Leserbriefen wird zudem mit Eifer über die Abschaffung der Prügelstrafe im Klassenzimmer debattiert: Das sogenannte Züchtigungsrecht des Lehrers solle nicht zu einer „allzu harten Bestrafung eines Dummejungenstreiches“ führen: Der Rohrstock gehöre ins Museum, was aber „kein Freibrief für Rabauken“ sei, kommentiert unsere Zeitung.

Auch die neue Kegelsporthalle im Lohbrügger „Holstenhof“, der Hubschrauber-Landeplatz am Boberger Unfallkrankenhaus und das 100-jährige Bestehen der Bergedorfer Turnerschaft beschäftigen unsere Leser. Unterdessen wird im Bergedorfer Rathaus eine große Neuerung vorbereitet: die „System-Müllabfuhr mit der Bereitstellung stadteigener Gefäße“.

Trauer um Bergedorfs Bürgermeister und Senator Friedrich Frank

Nicht nur Müllmänner werden gebraucht: Im Oktober vermeldet die Zeitung „200 ausländische Arbeiter in Bergedorf“, allein das Bergedorfer Eisenwerk beschäftige 25 Griechen und Spanier, habe am Gewerkschaftsweg extra ein Wohnheim für 45.000 Mark errichtet. Viele weitere Arbeitskräfte werden gebraucht, laut Anzeigenseiten insbesondere Frauen: Die Jurid-Werke suchen eine Fremdsprachen-Stenotypistin, da werden Packerinnen ebenso gebraucht wie eine Büglerin und Presserin, eine Hausgehilfin oder eine Verkäuferin für die Porzellan-Abteilung im Glunz-Kaufhaus.

1960 wird eine verfilmte Aufführung des Deutschen Schauspielhauses Hamburg gezeigt – mit Gustaf Gründgens als Mephistopheles und Will Quadflieg als Faust.
1960 wird eine verfilmte Aufführung des Deutschen Schauspielhauses Hamburg gezeigt – mit Gustaf Gründgens als Mephistopheles und Will Quadflieg als Faust. © Picture Alliance/United Archives | 90060/KPA

Sie alle übrigens freuen sich gerade auf ein großes Vergnügen, denn mit Spannung wird der in Hamburg erstaufgeführte „Faust“-Film erwartet, eine „bühnenechte Leinwandkopie der weltberühmt gewordenen Inszenierung des Hamburger Schauspielhauses“ mit Gustaf Gründgens.

Aber auch eine traurige Nachricht ereilt die Bergedorfer: Viele sind betrübt über den Tod von Friedrich Frank am 10. September 1960. Er ist seit 1918 als Chefredakteur der SPD-Zeitung „Bergedorf-Sander Volksblatt“ bekannt und aus der Stadtvertretung der damaligen Stadt Bergedorf, wo er 1931 zum Bürgermeister gewählt wurde – bis die Nazis an die Macht kamen. Im Juli 1945 ernannte ihn dann die britische Besatzungsmacht zum Leiter des Ortsamtes Bergedorf, wurde er zudem Senator in Hamburg.

Schon 1968 wurde der Friedrich-Frank-Bogen nach dem ehemaligen Bergedorfer Verwaltungsleiter benannt, aber erst 2013 kam eine Erläuterung dazu, die hier von den SPD-Genossen Fritz Manke (r.) und Jürgen Schenk in Bergedorf-West präsentiert wird.
Schon 1968 wurde der Friedrich-Frank-Bogen nach dem ehemaligen Bergedorfer Verwaltungsleiter benannt, aber erst 2013 kam eine Erläuterung dazu, die hier von den SPD-Genossen Fritz Manke (r.) und Jürgen Schenk in Bergedorf-West präsentiert wird. © Thomas Voigt

Sicherlich herausragend für unsere gesamte Region ist eine Nachricht vom 3. Oktober 1960: „Jetzt hat Wentorf endlich wieder Soldaten“, steht in der Bergedorfer Zeitung. Weiter: „Auch die Reinbeker und Bergedorfer werden dafür sogen, dass sie sich während ihrer Dienstzeit wohlfühlen werden.“ Zwei Tage zuvor, am Sonnabend, war der offizielle Einmarsch des II. Bataillons des Flugabwehrraketenlehr- und Ausbildungsregiments zu erleben. Eine große Menschenmenge säumt „trotz des Nieselregens“ die Straße, als die Ausbildertruppe – „im Stahlhelm und mit Karabiner“ – pünktlich um 10 Uhr in die Bismarck-Kaserne marschiert, begleitet vom Osdorfer Musikkorps der Luftwaffe.

Ans Mikrofon tritt zur „herzlichen Begrüßung“ der Kreispräsident Gustav Drevs: „Wir bedauern, dass nach zwei Kriegen die Welt noch immer nicht zur Ruhe gekommen ist, dass die Bundesrepublik zu ihrer eigenen Sicherheit und im Rahmen der Nato-Verpflichtung gezwungen wurde, eine Wehrmacht zu schaffen. Wir freuen uns, dass sich sie viele alte Soldaten, trotz allen Anfeindungen, wieder zur Verfügung stellten und viele junge Soldaten hinzugekommen sind“, rief er den Ankömmlingen zu. Weiter noch: „Es wird unsere größte Aufgabe sein, um die sittliche und gesellschaftliche Stellung der Soldaten zu ringen. Dieses Verständnis werden Sie im ganzen Kreis Lauenburg finden.“

„Junger Bundesbürger in Uniform“ ließ sich von einer Taxe chauffieren

„Sogar Polstermöbel in den Mannschaftsstuben“ sind unserem Journalisten aufgefallen, der von der neuen Kasernen-Einrichtung mit Klubsesseln, Bücherschränken und geblümten Tischdecken schwärmt, zudem vermerkt: „Die Metallbetten haben durchweg Auflegematratzen.“ Noch mit Hochdruck werde überall in der Bismarck-Kaserne gearbeitet, die ein „Schmuckkästchen“ werden möge: „Nach den Anstrengungen dieses Dienstes soll sich der junge Bundesbürger in Uniform wohlfühlen.“

Von 1960 bis 1971 war Wentorf Standort für ein Luftwaffenausbildungsregiment der Bundeswehr. Zwischendurch gab es auch fröhliche Gespräche der Verteidigungstruppe mit der hübschen Wirtin Helga Meyer im „Gasthaus Voss“. Das Foto stammt aus der Reihe „Archivbilder: Wentorf bei Hamburg“, im Jahr 2006 herausgegeben von Hildegard Ballerstedt, William Boehardt und Wolfgang Blandow.
Von 1960 bis 1971 war Wentorf Standort für ein Luftwaffenausbildungsregiment der Bundeswehr. Zwischendurch gab es auch fröhliche Gespräche der Verteidigungstruppe mit der hübschen Wirtin Helga Meyer im „Gasthaus Voss“. Das Foto stammt aus der Reihe „Archivbilder: Wentorf bei Hamburg“, im Jahr 2006 herausgegeben von Hildegard Ballerstedt, William Boehardt und Wolfgang Blandow. © bgz | Archivbilder Wentorf

Nicht mehr mit Pappkartons oder „Soldatenkisten“, sondern mit Lederkoffern ziehen die ersten Rekruten ein. Mehrere Male müssen die Bundeswehr-Lkw zum Bahnhof Bergedorf pendeln, „um all die jungen Männer, die aus dem Westen der Bundesrepublik nach Wentorf eingezogen worden sind, in die Kaserne zu bringen“, schildert der Reporter und wundert sich: „Einer kamen sogar per Taxe an.“

Und offenbar fühlen sie sich wohl: „Soldaten und Mädchen feierten“, berichtet die Bergedorfer Zeitung am 28. November aus dem Kurhaus Jägersbronnen, wo auch Wentorfs Bürgermeister Dr. Knust zu Gast war. Während die Kasernenkapelle „mit Waschbrett, Rumpelbaß und Schlaggitarre“ aufspielt, ist die Stimmung groß: „Um die von Beginn an herrschende Fröhlichkeit noch zu steigern, wurde ein Stangentanz arrangiert“, schreibt der Journalist, der staunend beobachtet, wie die Soldaten, „flach ans Parkett gepreßt“, unter den nur 25 Zentimeter hoch liegenden Stange durchschleichen.

Wentorfs Kasernen waren auch Gefangenenlager und Notunterkunft

Doch bei allem Spaß hier ein kleiner Blick auf die Vorgeschichte des Wentorfer Kasernen-Standortes: Die 1936 bis 1938 errichtete Doppelkaserne für die Wehrmacht diente während des Zweiten Weltkriegs teilweise als Lager für Gefangene und Zwangsarbeiter. Später wurde hier eine Notunterkunft für sogenannte „Displaced Persons“ eingerichtet. Das waren im Weltkrieg verschleppte Menschen, von denen viele nun in die USA, nach Kanada oder Australien übersiedeln wollten. Inzwischen waren auf dem insgesamt 32,2 Hektar großen Gelände Schulen und Sanitätszentren zu finden, eine Radiostation, ein Kino, Sportstätten und Kirchen.

So erging es den sogenannten Displaced Persons in Wentorf: Bevor sie eine Einreisegenehmigung in die USA erhielten, mussten sie ein Gesundheitsattest vorlegen und nachweisen, dass sie dem amerikanischen Staat nicht zur Last fallen würden. Foto: Archivbilder „Wentorf bei Hamburg“
So erging es den sogenannten Displaced Persons in Wentorf: Bevor sie eine Einreisegenehmigung in die USA erhielten, mussten sie ein Gesundheitsattest vorlegen und nachweisen, dass sie dem amerikanischen Staat nicht zur Last fallen würden. Foto: Archivbilder „Wentorf bei Hamburg“ © nn | NN

Es folgte die Unterbringung von Flüchtlingen und Übersiedlern aus der DDR. Schon zwei Jahre zuvor, 1958, hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer das Lager besucht und zu 5000 Flüchtlingen aus den ehemals deutschen Ostgebieten gesprochen. 1960 sodann nahm die Bundeswehr die militärische Nutzung wieder auf und stationierte zunächst eine Luftwaffenausbildungseinheit, eine Marinestammabteilung und ein Fernmeldebataillon. Es folgten ab 1970 der Stab der Panzergrenadierbrigade 16. Ende 1994 schließlich wurde die militärische Nutzung der Kasernen aufgegeben. Für 37 Millionen DM erwarb die Landesentwicklungsgesellschaft Schleswig-Holstein die Flächen der Bismarck- und der Bose-Bergmann-Kaserne vom Bund und verkaufte sie weiter an private Investoren, die schließlich 1500 Wohnungen für 3100 Menschen bauten.

Richtfest für das erste Hochhaus am Ladenbeker Furtweg in Lohbrügge

Wobei wir mit dem Stichwort Bauen wieder auf das Jahr 1960 blicken: Während in Hamburg gerade die neue Fleisch-Großhalle eingeweiht wird, zudem das neue Polizeipräsidium am Berliner Tor hochwächst, spricht Hamburgs neuer Erster Bürgermeister Dr. Paul Nevermann (SPD) beim „Größten Richtfest in Bergedorfs Geschichte“ – gemeint ist ein „Sammelrichtfest für 558 Wohnungen“: 448 davon entstehen am Wiesnerring und 110 im „ersten Bergedorfer Hochhaus mit acht Stockwerken“ – am Ladenbeker Furtweg.

In Lohbrügge-Nord indes (gerade erst ist der Ziegelei-Schornstein am Beensroaredder gesprengt worden) soll es noch höher hinausgehen: Als „größtes geschlossenes Bauvorhaben des Hamburger Städtebaus“ werden am 16. November die Pläne im Spiegelsaal des Rathauses vorgestellt. Das neue Aufbaugebiet, berechnet für 200 Einwohner je Hektar, sieht Hochhäuser mit bis zu 15 Geschossen vor.

Ein entsprechendes Modell bleibt wochenlang im Textilhaus Penndorf zu bestaunen – immer gepaart mit der Aussicht, dass mit der U-Bahnverlängerung nach Billstedt bald auch ein Halt im neuen Stadtteil kommen möge: „Lohbrügge-Nord wird auf alle Fälle eines nicht mehr fernen Tages an das Hamburger U-Bahnnetz angeschlossen – das geht aus den Plänen der SPD-Bürgerschaftsfraktion eindeutig hervor“, schreibt die Bergedorfer Zeitung am 11. Oktober 1960.

Ernst Rowohlt verlegte in dem von ihm gegründeten Rowohlt Verlag in Reinbek seit 1950 auch die bekannte Taschenbuchreihe rororo.
Ernst Rowohlt verlegte in dem von ihm gegründeten Rowohlt Verlag in Reinbek seit 1950 auch die bekannte Taschenbuchreihe rororo. © picture-alliance / dpa | DB Zander

Auch andernorts wird kräftig gebaut, so feiert etwa die Wentorfer Bücherei (mit 2500 Büchern) ihre Einweihung. Die katholische Grundschule an der Chrysanderstraße – immerhin eine Million Mark Baukosten – soll noch vor Weihnachten fertig werden. Auch entstehen etwa 1900 Wohnungen für Hinschendorf-Nord (Reinbek zählt schon 10.736 Einwohner). Während weltweit getrauert wird um den am 16. November 1960 in Los Angeles gestorbenen Schauspieler Clark Gable, sind die Reinbeker vor allem betrübt über den Tod von Ernst Rowohlt, den „hoch geehrten und umstrittenen“ Verlagsgründer. „Er war tätig bis zum letzten Tage für die von ihm über alles geliebte Literatur“, schrieben seine Mitarbeiter in der Todesanzeige: „In der Nacht vom 1. zum 2. November verloren wir unser liebes Väterchen“, heißt es liebevoll.

Prominenz aus Lohbrügge: Schlagersänger und Trompeter „Billy Mo“

Manch andere Wortwahl wäre heutzutage undenkbar. 1960 aber ist ein Artikel noch überschrieben mit „Polizeibeamter erschoß in Notwehr zwei Zigeuner“. Doch die diskriminierenden Bestimmungen „bei der Prüfung von Negern, die weiße Schulen besuchen wollen“, soll bald ein Ende haben: Das Oberste Bundesgericht weist die amerikanische Stadt New Orleans am 14. November 1960 an, mit der Aufhebung der Rassentrennung an Schulen zu beginnen.

Der Jazz-Trompeter Billy Mo (mit bürgerlichem Namen als Peter Mico Joachim 1923 auf Trinidad geboren) lebte mit seiner Familie einige Jahre lang am Schulenburgring in Lohbrügge. Neben seinem berühmten Schlager mit dem Tirolerhut sang er auch oft die „Bierdeckel-Polka“ oder „Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen“.
Der Jazz-Trompeter Billy Mo (mit bürgerlichem Namen als Peter Mico Joachim 1923 auf Trinidad geboren) lebte mit seiner Familie einige Jahre lang am Schulenburgring in Lohbrügge. Neben seinem berühmten Schlager mit dem Tirolerhut sang er auch oft die „Bierdeckel-Polka“ oder „Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen“. © picture-alliance / dpa | Nestor Bachmann

Unterdessen wird in Bonn Ende Oktober zur ersten „deutsch-afrikanischen Woche“ eingeladen, wobei Delegierte der Republik Zentralafrika „von Bundestagspräsident Gerstenmaier empfangen wurden, dem sie sechs riesige Elefanten-Stoßzähne überreichten“. Zu jener Zeit ist in Deutschland der dunkelhäutige Schlagersänger „Billy Mo“ sehr bekannt, vor allem für seinen Song „Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut“. Der auf Trinidad geborene Jazz-Trompeter, der mit Frau und zwei Kindern in Lohbrügge wohnt, zählt 1960 zu den 60 Privatspendern, die der „Aktion Ruhebänke“ gefolgt waren: „Billy Mo“ stiftet auf jeder Seite des Bergedorfer Bahnhofs eine Ruhebank für ältere Mitbürger.

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Die Senioren freuen sich vor allem auf den Neubau an der Holzhude: Zum Jahresende, am 21. Dezember 1960, folgt das Richtfest für das Bergedorfer Lichtwark-Haus, einer „Stätte gemeinschaftlich-nachbarlicher Begegnung und Betätigung“. Darüber werden wir genauer in unserer nächsten Serienfolge berichten.