Der Bergedorfer Gesprächskreis ist seit 50 Jahren ein politisches Frühwarnsystem. Die Kanzlerin dankte den Akteuren mit einer Rede.
Berlin/Hamburg. Ein Bundespräsident a. D., ein ehemaliger Bundeskanzler, dazu die amtierende Bundeskanzlerin als Festrednerin - viel mehr geht nicht, wenn eine Privatorganisation ihr 50-jähriges Bestehen feiert. Der Rang der Gäste sagte am Freitag deshalb alles über die fast schon mythische Bedeutung des Bergedorfer Gesprächskreises, der seit 1961 politische Akteure in vertraulicher Runde, jenseits aktueller Zwänge zusammenbringt.
Aber während Richard von Weizsäcker mittlerweile 60-mal dabei gewesen ist und Helmut Schmidt immerhin 15-mal, war Angela Merkel in ihrer politischen Frühzeit nie eingeladen. Anlass genug für Klaus Wehmeier, den stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Körber-Stiftung, kräftig Asche auf sein Haupt zu streuen. Das "Früherkennungssystem" für politische Talente und spätere Entscheidungsträger, auf das man in der Stiftung bis heute stolz sei, habe im Fall Merkel "absolut" versagt, räumte Wehmeier beim Festakt im Berliner Konzerthaus zerknirscht ein. Umso mehr wisse man es zu schätzen, dass die Bundeskanzlerin gekommen sei. Als Merkel schlagfertig konterte, die Angelegenheit sei offenbar "disproportional" gewesen - "Weil ich den Bergedorfer Gesprächskreis schnell für etwas Interessantes gehalten habe!" -, hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.
Danach wurde es jedoch schnell wieder ernst. Die Kanzlerin erinnerte in ihrer außenpolitischen Rede daran, welche Hoffnungen sich vor 20 Jahren an den Fall des Eisernen Vorhangs geknüpft hätten und wie schnell die Euphorie damals der Ernüchterung gewichen sei. "Spannungen", sagte Merkel, "die durch den Ost-West-Konflikt überdeckt wurden, haben sich plötzlich entladen." Zu den klassischen Territorialkonflikten seien die asymmetrischen Bedrohungen des Terrorismus gekommen, und die deutsche Politik habe daraus vor allem die Erkenntnisse gezogen, dass Deutschland Konflikte nicht alleine lösen könne, dass aufstrebende Schwellenländer mehr Verantwortung übernehmen müssten und dass der Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio nicht ausgeschlossen werden könne. Mit Blick auf die am 21. September bevorstehende Uno-Generalversammlung, auf der es um die Anerkennung des Palästinenserstaates durch die Vereinten Nationen gehen wird, erklärte Merkel, Deutschland werde sein Abstimmungsverhalten vor allem von einer Frage abhängig machen: "Was ist am Tag danach, und welche Entscheidung wird uns nicht zurückwerfen?"
Der Mittlere Osten ist mit seinen politischen Verwerfungen übrigens oft Thema des Bergedorfer Gesprächskreises gewesen. Immer wieder hat man sich auf diesem Forum bemüht, politische Gegner miteinander ins Gespräch zu bringen und das vermeintlich Undenkbare zu denken. Seit ein paar Jahren flankiert durch den Körber Dialogue Middle East eine Art Spezial-Think-Tank.
Der Bergedorfer Gesprächskreis sei "ein Trainingslager für alle, die bereit sind, die Grenzen der eigenen Disziplin, der jeweiligen Parteien und Interessen zu überschreiten", hat Richard von Weizsäcker einmal gesagt, der nicht nur der Rekordteilnehmer des Gesprächskreises ist, sondern seit 1995, drei Jahre nach Körbers Tod, auch den Vorsitz führt.
Allerdings ist der eine oder andere bei diesem Training dann doch etwas überfordert gewesen. Zum Beispiel der Historiker Herbert Bertsch, der in Ostberlin das Deutsche Institut für Zeitgeschichte leitete und 1970 in Leningrad - zwei Monate, bevor Willy Brandt im Kreml den Moskauer Vertrag unterzeichnete - heftig mit Günter Grass aneinandergeriet. Damals diskutierten Ost- und Westdeutsche mit den Russen über die europäische Entspannungspolitik im Allgemeinen und das deutsch-deutsche Verhältnis im Besonderen. Und Bertsch reagierte schon allergisch, als Günter Grass von der Runde Verständnis für die in der Bundesrepublik herrschende Verunsicherung anmahnte. Nach dem Motto: "Das sind nicht etwa neue Nazis, sondern Menschen, die den Wunsch haben, es möge jetzt vonseiten der DDR etwas Sichtbares auf uns zukommen, damit auch in der Bundesrepublik Vertrauen in die neue Ostpolitik gewonnen werden kann." Regelrecht außer sich geriet Bertsch, als Grass mit Blick auf die zwei Jahre zurückliegende Niederschlagung des Prager Frühlings erklärte: "Ich möchte nicht weiter darauf eingehen. Wir im Westen haben zu viel Dreck am Stecken, um den Moralrichter abgeben zu können. Nur ein persönliches, und wenn Sie wollen, ein gesamtdeutsches Wort sei dazu gesagt: Für viele von uns war es besonders beschämend, erleben zu müssen, dass zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert deutsche militärische Einheiten bei der Besetzung der Tschechoslowakei eine Rolle gespielt haben." Da ging Bertsch hoch wie eine Tellermine. "Niemand von uns", fuhr der marxistische Hardliner Grass an, "hat das Recht, ein gesamtdeutsches Wort zu sprechen - das gesamtdeutsche Wort gibt es nicht!"
Die Öffentlichkeit erfuhr von solchen Händeln bestenfalls zeitversetzt, denn ein Kennzeichen der Bergedorfer Gespräche war und ist es, dass sie hinter verschlossenen Türen stattfinden; und dass man sich schon die Mühe machen muss, die anschließend veröffentlichten Protokolle zu lesen, wenn man wissen will, was in diesen immer interessant, oft sogar oft illuster besetzten Runden wie debattiert wurde.
Angefangen hat alles 1961. Damals beschloss der Hamburger Unternehmer Kurt A. Körber, Entscheidungsträger mit Vertretern anderer Disziplinen zusammenzubringen. "Nur in offener und selbstkritischer Zusammenarbeit aller Kräfte", so der Mäzen und Stifter in seiner Eröffnungsrede, könne "die freie Welt ihre gesellschafts- und wirtschaftspolitische Ordnung behaupten und sich gegenüber totalitären Herausforderungen bewähren". Helmut Schmidt hat Körber am Freitag in Berlin einen "großartigen Burschen" genannt. Einen genialen Tüftler - Körber hielt auf gut 200 Erfindungen Patente -, der immer den Drang gehabt habe, etwas Neues zu machen: "Technisch, aber auch politisch".
Inzwischen blickt Körbers große politische Erfindung auf fünf erfolgreiche Jahrzehnte zurück. Zunächst tagte man im "Historischen Gasthof Stadt Hamburg", 1964 zog man in den Spiegelsaal des Bergedorfer Rathauses um, ein Jahr später ins Schloss. 1970 wählte man zum ersten Mal einen internationalen Tagungsort, 1973 traf man sich in Wien, 1975 erstmals in Moskau.
Seitdem haben sich mehr als 2000 Regierungs- und Parteienvertreter, Diplomaten, Wirtschaftswissenschaftler, Historiker, Politologen und - zuweilen - Prominente wie Grass an dieser informellen Art des Austauschs beteiligt. Ging es in den ersten Jahrzehnten vorrangig um Ost-West-Themen - Kalter Krieg, deutsche Teilung, Perestroika -, so erweiterte das Gremium nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sein Spektrum.
In den 90er-Jahren wendete man sich dem Nahostkonflikt zu, danach blickte man verstärkt auf China. Die Tagungsorte waren und sind Teil des Programms: Tallinn (1992), Warschau (1995), Jerusalem (1996), Istanbul (1997), Baku (1998), Peking (2000), Belgrad (2002), Isfahan (2003), Kairo (2005), Damaskus (2008), Beirut (2009), Washington (2010). Die Liste ließe sich beliebig ergänzen, insgesamt hat der Bergedorfer Gesprächskreis bislang 148-mal getagt, an diesem Wochenende findet der 149. auf Einladung des Bundespräsidenten in Schloss Bellevue statt. Thema: "Europa und Asien: Partner in einer neuen Weltordnung?"
Bis heute wird der Bergedorfer Gesprächskreis von der Körber-Stiftung getragen. Seit 50 Jahren spielt dieses Forum, dem in Krisenzeiten zuweilen der Part eines politischen Frühwarnsystems zukam, eine gewichtige Rolle in der internationalen Politik. Die Erklärung liegt für Klaus Wehmeier, der im Vorstand der Körber-Stiftung den Bereich Internationale Politik verantwortet, auf der Hand: "Wenn die offizielle Diplomatie beispielsweise bei Eskalation eines politischen Konflikts die Gespräche aussetzt und die Beziehungen abbricht, können Stiftungen den Dialog fortsetzen", sagte Klaus Wehmeier gegenüber dem Hamburger Abendblatt. "Entscheidungsträger können in den Foren, die Stiftungen ihnen bieten, mit politischen Akteuren das Gespräch aufnehmen, mit denen sie offiziell nicht kommunizieren dürfen. Und das ist wichtig, denn wer nicht mehr miteinander redet, kann auch keine Konflikte lösen."