Bergedorf. Wie das Konzentrationslager Neuengamme „Vernichtung durch Arbeit“ betrieb: 55.000 Tote und Zwangsarbeit im Auftrag der Nazi-Diktatur.

Das dunkelste Kapitel der Nazi-Diktatur spielte vor 80 Jahren direkt vor den Augen der Bergedorfer: Seit August 1938 baute die SS in einer stillgelegten Ziegelei in Neuengamme ein Konzentrationslager auf. Es sollte das größte in ganz Nord- und Westdeutschland werden – mit 106.000 Inhaftierten, von denen 55.000 den Tod fanden.

Was dort passierte, blieb nicht hinter Stacheldraht und Wachtposten versteckt. Täglich marschierten Trupps ausgemergelter Gestalten unter strenger Bewachung der SS vom KZ Neuengamme über die Deichstraßen bis nach Bergedorf. Zudem gab es feste Außenlager, etwa bei der Holzhandlung Behr oder der Firma Glunz. „Das musste jeder sehen, der an solcher Kolonne vorbeikam. Das waren so dürftige Gestalten, dass es einem wirklich sehr, sehr nahe ging, wenn man an denen vorbei musste, ohne dass man irgendetwas tun konnte, helfen konnte“, zitiert Uta Rosenfeld im Buch „Bergedorf im Gleichschritt“ eine Neuengammerin.

KZ Neuengamme – Zwangsarbeit in Fabriken und Landwirtschaft

Die KZ-Insassen waren für die Nazis wichtig, um auch im Krieg die Wirtschaft aufrecht zu erhalten, vor allem die Rüstungsindustrie. Und weil das Heer der Inhaftierten dafür allein nicht ausreichte, wurde es mit Zwangsarbeitern aufgestockt. „Allein in Bergedorf und seinem Landgebiet waren das spätestens ab 1942 ständig mindestens 2000, die in den Fabriken oder der Landwirtschaft eingesetzt wurden“, schreibt Jörn-Uwe Lindemann ebenfalls in „Bergedorf im Gleichschritt“.

Häftlinge des KZ Neuengamme beim Außeneinsatz. In harter körperlicher Arbeit mussten zur Regulierung der Dove-Elbe Sandmassen bewegt werden.
Häftlinge des KZ Neuengamme beim Außeneinsatz. In harter körperlicher Arbeit mussten zur Regulierung der Dove-Elbe Sandmassen bewegt werden. © KZ-GEDENKSTÄTTE NEUENGAMME | Kz-Gedenkstätte Neuengamme

Neben Kriegsgefangenen waren das zu einem großen Teil gezielt verschleppte junge Menschen im Alter von 15 bis 25 Jahren, vor allem aus Polen, Russland und der Ukraine. Auch sie erhielten Nummern statt Namen, wenig und schlechtes Essen, wurden in den oft in den Fabriken liegenden Unterkünften eingesperrt.

Bergedorfer Zeitung schweigt über das Leid der „Fremdarbeiter“

Beim Verstoß gegen die rigiden Vorschriften oder gar Kontakt mit Bergedorfern drohten drakonische, oft willkürlich festgelegte Strafen: „Die Maßnahmen reichten von körperlichen Züchtigungen bis hin zur Einweisung ins Konzentrationslager“, schreibt der ehemalige Leiter des Bergedorf-Museums, Alfred Dreckmann, in „Zwangsarbeit in Bergedorf“. Und handelte es sich gar um einen Aufstandsversuch, „wurde in Einzelfällen auch die sofortige Erschießung von Rädelsführern angeordnet“.

Wer Hinweise auf diesen Alltag in der Bergedorfer Zeitung sucht, findet fast keine Berichte über die sogenannten „Fremdarbeiter“ – und erst recht nichts über das KZ Neuengamme. Schon 1933 gleichgeschaltet, nimmt das Lokale in unserem Blatt mit fortschreitendem Krieg ohnehin immer weniger Platz ein – bis die Nazis die Zeitung Ende Februar 1943 ganz einstellen. Angeblich aus Papiermangel.

Zuchthaus für Liebesbeziehung zu polnischem Kriegsgefangenen

Doch es gibt einzelne Fundstücke, die Schlaglichter setzen: „Zuchthaus für ehrloses Verhalten einer Frau“ heißt es am 3. März 1941 über einer Meldung, die allerdings aus Schülldorf bei Rendsburg berichtet. Dort war das „sehr intime Liebesverhältnis“ der „Volksdeutschen“ mit einem auf Bauernhof arbeitenden polnischen Kriegsgefangenen aufgeflogen.

Häftlinge des KZ Neuengamme bei einem Außeneinsatz in den Vier- Und Marschlanden. Zu ihrer Arbeit gehörte auch die Instandhaltung und der Ausbau der Deiche.
Häftlinge des KZ Neuengamme bei einem Außeneinsatz in den Vier- Und Marschlanden. Zu ihrer Arbeit gehörte auch die Instandhaltung und der Ausbau der Deiche. © KZ-GEDENKSTÄTTE NEUENGAMME | Kz-Gedenkstätte Neuengamme

Das Urteil eines „Sondergerichts“ in Kiel: Zwei Jahre Zuchthaus für die Frau. Ob der Mann die für solche Fälle vorgesehene Todesstrafe erhielt, wird nicht berichtet. Dafür gibt es den Zusatz: „Das Verhalten des Mädchens war umso verwerflicher, als ihre vier Brüder an der Front kämpfen.“

„Vergiss nie, dass Du Angehöriger des Herrenvolkes bist!“

Wie das Ansehen der vielen „Fremdarbeiter“ zu sein hat, beschreibt Hitlers rechte Hand Hermann Göring um 1940 in einem Flugblatt zum Umgang mit den Polen, die nach der Eroberung ihres Landes durch die Wehrmacht nach Deutschland kommen: „Deutscher! Der Pole ist niemals Dein Kamerad! Er steht unter jedem deutschen Volksgenossen auf Deinem Hof oder in Deiner Fabrik. Sei, wie immer als Deutscher, gerecht. Aber vergiss nie, dass Du Angehöriger des Herrenvolkes bist!“

Ungewollt stellt gerade dieser Aufruf allerdings den Widerspruch der Bevölkerungspolitik der Nazis heraus, die statt der Vernichtung aller „Nichtarier“ ausgerechnet auf ihre Arbeitskraft in der heimischen Wirtschaft angewiesen sind, je länger sich der Krieg hinzieht und immer mehr Soldaten braucht. Das macht sich auch in der Ausrichtung des Konzentrationslagers Neuengamme bemerkbar. Trotz der vielen Toten war es nie als reines Vernichtungslager ausgerichtet – und ist seit der Verlegung sämtlicher jüdischer Gefangener zur „Endlösung“ in osteuropäische Lager wie Auschwitz ab Oktober 1942 „judenfrei“, wie es im Nazijargon heißt.

Nazis machen aus „Vernichtung“ im Krieg „Vernichtung durch Arbeit“

Dennoch ist auch Neuengamme darauf ausgelegt, die Persönlichkeit jedes seiner Häftlinge zu zerstören und ihn letztlich zu töten. Der nationalsozialistische Sprachgebrauch wird deshalb nun von der bis dahin verwendeten bloßen „Vernichtung“ zu „Vernichtung durch Arbeit“ erweitert. Oder wie es im Juni 1942 aus dem Wirtschafts-Verwaltungshauptamt der SS heißt: „Die derzeitige Kriegslage zwingt dazu, die Arbeitskräfte der einsitzenden Häftlinge bis zum Letzten produktiv auszuschöpfen.“

Häftlinge des KZ Neuengamme bei der Arbeit im alten Klinkerwerk auf dem Gelände des Lagers um 1940.
Häftlinge des KZ Neuengamme bei der Arbeit im alten Klinkerwerk auf dem Gelände des Lagers um 1940. © KZ-GEDENKSTÄTTE NEUENGAMME | Kz-Gedenkstätte Neuengamme

Wie die Persönlichkeit der KZ-Insassen gebrochen wird, beschriebt Uta Rosenfeld in „Bergedorf im Gleichschritt“ eindrucksvoll. So wird jeder bei der Aufnahme nach oft tagelanger Anfahrt im Güterzug auf eine Nummer reduziert. Den auf diese Weise namenlos gewordenen Häftlingen werden dann alle Habseligkeiten abgenommen, sie müssen sich entkleiden, werden fotografiert und am ganzen Körper rasiert. Es folgt das Untertauchen in einer Tonne mit Desinfektionsmittel, bevor alle in einfache Sträflingskleidung gesteckt und mit einem aufgenähten Stoffdreieck versehen werden, das ihren Einlieferungsgrund für jeden sofort erkennbar macht.

KZ-Häftlinge durften nur alle vier bis sechs Wochen duschen

Es folgt die Unterbringung in völlig überfüllten, einfachsten Häftlingsbaracken. Es gibt schlechtes und wenig, manchmal gar kein Essen. „Die sanitären Verhältnisse waren katastrophal“, schreibt Uta Rosenfeld. „Die Häftlinge konnten nur alle vier bis sechs Wochen duschen und ihre Wäsche erst nach Wochen, schließlich gar nicht mehr wechseln.“ Infektionskrankheiten gehörten so zum Alltag und breiteten sich in der Enge der Baracken sehr schnell aus.

Doch damit waren die Drangsalierungen der SS noch keinesfalls erschöpft. Noch perfider war das eigens ersonnene Hierarchiesystem der KZ-Häftlinge, das unter dem ständigen Druck der Aufseher gegenseitige Kontrolle und Denunzierungen zum Normalfall machte. So war ein „Blockältester“ in jeder Baracke für Verpflegung, Sauberkeit und Ordnung verantwortlich sowie für das pünktliche Antreten auf dem Appellplatz. Ihm zu Seite standen die „Stubenältesten“, ohne dass die ihm unterstellt waren.

Im KZ gab es sogar ein Bordell mit zehn Häftlingsfrauen

Ebenfalls „selbstständig“ liefen die Arbeitseinsätze: Ein Häftling war als Vorarbeiter verantwortlich, dass die von der SS angeordnete Arbeit bewältigt wurde. Diese sogenannten „Kapos“, oft aus der Gruppe der gefürchteten Kriminellen ausgewählt, bewachten ihre Mithäftlinge, durften sie schikanieren, schlagen – und sogar töten. Dafür setzte die SS teils sogar Belohnungen aus, darunter Besuche im KZ-Bordell, wo ab 1943 zehn Häftlingsfrauen Dienst tun mussten.

SS-Chef Heinrich Himmler 1940, vermutlich bei seinem Besuch im KZ Neuengamme. In diesem Jahr wurde es vom Status eines Außenlagers in den eines eigenständigen Konzentrationslagers erhoben. 
SS-Chef Heinrich Himmler 1940, vermutlich bei seinem Besuch im KZ Neuengamme. In diesem Jahr wurde es vom Status eines Außenlagers in den eines eigenständigen Konzentrationslagers erhoben.  © KZ-GEDENKSTÄTTE NEUENGAMME | Kz-Gedenkstätte Neuengamme

Die Rolle der Kapos beschrieb SS-Chef Heinrich Himmler 1944 so: „Er muss also seine Männer antreiben. In dem Moment, wo wir mit ihm nicht mehr zufrieden sind, ist der nicht mehr Kapo, schäft er wieder bei seinen Männern. Dass er dann von denen in der ersten Nacht totgeschlagen wird, das weiß er.“

Für Einsätze in Firmen wurden die Häftlinge von der SS vermietet

Eingesetzt wurden die KZ-Häftlinge von Neuengamme sehr schnell auch außerhalb des Lagers. Dazu gehörte zunächst vor allem die Regulierung der Dove-Elbe, der Bau des Stichkanals von dort zum KZ und dessen Eisenbahnanschluss. Aber auch zahlreiche Bergedorfer Betriebe nutzen schließlich diese billige Arbeitskraft, wobei unklar ist, ob das teils auf Anordnung der NSDAP erfolgte. Darunter waren neben Glunz und Behr unter anderem die Motorenwerke Jastram, die Großbäckerei Ohde und fast alle Bergedorfer Industriebetriebe.

Häftlinge des KZ Neuengamme bei der Verbreiterung der Dove-Elbe für den Klinkertransport. Diese wurden für den Bau und die Ausbesserung von Hamburger Schulen genutzt.
Häftlinge des KZ Neuengamme bei der Verbreiterung der Dove-Elbe für den Klinkertransport. Diese wurden für den Bau und die Ausbesserung von Hamburger Schulen genutzt. © KZ-GEDENKSTÄTTE NEUENGAMME | Kz-Gedenkstätte Neuengamme

Zudem wurden Häftlingstrupps aus Neuengamme nach den Hamburger Bombennächten beim lebensgefährlichen Aufräumen und der Suche nach Blindgängern eingesetzt. Hier im Auftrag der Hansestadt Hamburg. Bei jedem Einsatz verdienst die SS kräftig mit, denn die KZ-Insassen wurden buchstäblich vermietet – und die Einnahmen verblieben in Himmlers Etat.

Unternehmer kamen ins KZ, um ihr menschliches „Material“ auszusuchen

Wenn Unternehmer Häftlinge anforderten, kamen sie zur Auswahl direkt ins KZ oder seine zahlreichen Außenlager, wie SS-Obersturmführer Karl Sommer aus der Führungsmannschaft des Lagers 1946 zu Protokoll gab: „Sie wurden aufgefordert, von dem vorhandenen Material in dem betreffenden KZ-Lager oder wenn nötig aus mehreren, die für sie am besten geeigneten Arbeitskräfte herauszunehmen. Sie betraten zu diesem Zweck das Innere des Lagers und hatten dadurch Einblick in die Bedingungen, die in dem betreffenden KZ-Lager herrschten.“

So nah war das für die Bevölkerung zwar nicht möglich, aber auch sie wusste genau, was dort ablief. So lässt Autorin Uta Rosenfeld eine Anwohnerin zu Wort kommen: „In allen Gaststätten waren natürlich die SS-Leute zu finden, denn sie hatten viel Freizeit. Wenn sie nicht nach Bergedorf fuhren, dann versuchten sie, hier Anschluss zu finden, auch bei den Bauern. Einige Mädchen waren mit SS-Leuten verheiratet. Das war ganz normal.“

Sonntags lauschten die Neuengammer der Musik der Lagerkapelle

Makaber war das Sonntags-Ritual, wenn die Lagerkapelle spielte und ihre Klänge zur nahen Straße hinüber wehten. Da standen dann die Familien mit Kinderwagen und lauschten: „Sonntagnachmittags war da immer Musik Wo gab es damals schon Musik?“, bestätigte ein Zeitzeuge. Allerdings spielte die Lagerkapelle oft bei Hinrichtungen.

Insassen des KZ Neuangamme wurden von der SS für ihre Außeneinsätze buchstäblich vermietet: Firmen oder Institutionen, die sie anforderten, mussten stundenweise zahlen.
Insassen des KZ Neuangamme wurden von der SS für ihre Außeneinsätze buchstäblich vermietet: Firmen oder Institutionen, die sie anforderten, mussten stundenweise zahlen. © KZ-GEDENKSTÄTTE NEUENGAMME | Kz-Gedenkstätte Neuengamme

Die Bergedorfer Zeitung schweigt dazu. Aber fünf Wochen vor ihrer Zwangseinstellung durch die Nazis druckt sie in der Wochenend-Ausgabe vom 23./24. Januar 1943 einen Artikel über den Besuch in einem Lager für französische Kriegsgefangene. Er zeigt die Fähigkeit des Dritten Reiches, die Wirklichkeit zu verleugnen und ins komplette Gegenteil zu verkehren. Heute gibt es dafür den von Donald Trump geprägten Begriff „alternative Fakten“.

Bergedorfer Zeitung berichtet vom angeblich „menschlichen“ Strafvollzug

Der Autor namens Hans Hauptmann schreibt: „Der Kommandant des Lagers hält auf straffe Manneszucht. Doch ist sein höchstes Bestreben, die Kriegsgefangenen menschlich behandeln zu lassen, ihr Eigenleben unter den beschränkten Verhältnissen zu fördern und aufklärend zu wirken. Alles das, damit die Kriegsgefangenen, wenn sie einmal nach Frankreich zurückkehren, voller positiver Eindrücke von Deutschland und seinen Menschen in ihrem kleinen Kreis zur Völkerverständigung beitragen können. Und die Völker so in sich selbst begreifen können, dass sie in Europa aufeinander angewiesen sind und daher friedlich zusammenleben sollten.“

Dass die Nazis sich der Abscheulichkeit ihrer Gräueltaten zumindest in den Konzentrationslagern bewusst waren, zeigt das hektische Verwischen ihrer Spuren im Angesicht der vorrückenden alliierten Truppen. In Neuengamme wurden kurz vor dem Eintreffen der Briten am 4. Mai 1945 sämtliche Akten und Einrichtungsgegenstände verbrannt und die Leichenkammer sowie das Krematorium gereinigt. Nichts sollte an das jetzt vollständig geräumte Lager erinnern.

Die Häftlinge allerdings wurden auf Todesmärsche nach Norden oder ins KZ Bergen-Belsen geschickt. Viele sollten das nicht überleben. 7000 starben, als britische Flugzeuge am 3. Mai 1945 die mit KZ-Insassen vollgestopften Schiffe „Cap Arcona“ und „Thielbek“ in der Deutschen Bucht vor Lübeck versenkten. Es gilt als sicher, dass die Nazis genau das provozieren wollten, indem sie auf beiden Schiffen nicht etwa die weiße Fahne sondern die Reichskriegsflagge hissten.