Geesthacht. Der Bau ist nur eines von vier Großprojekten, die alle mit der Elbe zu tun haben. Sie werden die Stadt nachhaltig verändern.
Als Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (CDU) am 16. April 1959 Geesthacht zur Einweihung der Schleuse besucht, spricht auch ein 13-jähriges Mädchen zu ihm. Was sie dem Besucher aus der damaligen Hauptstadt Bonn ausrichtete, das weiß Karin Korth, die damals noch Wendt heißt, bis heute. „Ich habe ihm gesagt, dass er einen besonders schönen Blumenstrauß bekommen wird, wenn er wiederkommt und unsere Brücke über die Elbe einweiht“, erinnert sich die heute 79-jährige Geesthachterin. Für Karin Korth ist es bereits das dritte Treffen mit einem Granden der jungen Bundesrepublik. Es sollte nicht das Letzte gewesen sein.
In unserer Serie 150 Jahre Bergedorfer Zeitung geht es heute um das Jahr 1959. Beinahe täglich berichtet unsere Zeitung damals von Gesprächen der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, die im Kalten Krieg um Entspannung bemüht sind. Das Saarland wird 1959 das zehnte Bundesland der BRD und Heinrich Lübke (CDU) als Nachfolger von Theodor Heuss (FDP) deren zweiter Bundespräsident. Im Weltall hat die Sowjetunion die Nase vorn. Am 14. September landen die Russen als Erste eine Rakete auf dem Mond.
Rückblick auf 150 Jahre bz: Geesthacht bekommt die Schleuse
Für Geesthacht ist die Eröffnung der Schleuse das Ereignis des Jahres. Es ist eines von mehreren technischen Großbauprojekten, die in der Nachkriegszeit hier entstehen und die alle miteinander und der Elbe zu tun haben: Pumpspeicherbecken, Staustufe, Schleuse, Elbbrücke.
Als die Schleuse am 16. April eingeweiht wird, säumen Tausende die Schleusenmauern. Damals hat sie übrigens nur eine Kammer. Die zweite Schleusenkammer wird erst 1978 gebaut und 1981 eröffnet. 1959 schreibt unser Reporter Karl Mührl: „Auf den vier Tortürmen knattern Fahnen, ein Musikkorps der Bundeswehr haut mächtig auf die Pauken, als der ,Hugo Basedow‘ mit langsamer Fahrt voraus in die Schleuse einläuft.“ 300 Ehrengäste befinden sich an Bord des Dampfers, darunter auch Karin Korth. Sie erinnert den Verkehrsminister an ihr erstes Treffen am 5. Dezember 1955 anlässlich des Spatenstichs für das Pumpspeicherwerk.
Wie Karin Korth zu Geesthachts Representantin wird
Doch warum ist ein einfaches Geesthachter Mädchen stets bei so hochoffiziellen Anlässen dabei? Die Erklärung ist überraschend banal: „Meine Freundin Renate Hufeld und ich haben damals beide in der Schmiedestraße gewohnt, und ihr Vater Alfred Hufeld war unser Bürgermeister (1958-59, die Red.). Ich hatte lange, blonde Zöpfe und war nicht auf den Mund gefallen. Darum hat er mir die Blumenübergabe wohl zugetraut“, sagt Karin Korth.
Als drei Jahre später Bundespräsident Theodor Heuss die Staustufe in Geesthacht besucht, kam ein Anruf aus dem Rathaus, ob sie es noch einmal machen wolle. Bei Heuss muss Karin Korth heute noch an dessen württembergischen Akzent („I dank ihne schön.“) denken. Und auch, als 1959 die Schleuse eingeweiht werden soll, erinnert man sich an Karin Korth.
Weniger Verkehrstote: Tempo 50 innerorts hat sich bewährt
In Bergedorf beginnt das Jahr derweil mit einer erfreulichen Bilanz. Tempo 50 innerorts hat sich bewährt, stellt die Bergedorfer Zeitung fest. Nachdem im Jahr 1957 fast täglich von schweren, oft auch tödlichen Unfällen auf den ersten fertigen Teilstücken der B5 berichtet wurde, habe sich die Zahl der jährlichen Verkehrstoten in ganz Hamburg nach Einführung des Tempolimits um 92 verringert. Aber 1958 starben immer noch 197 Menschen im Straßenverkehr. Zum Vergleich: 2022 waren 24.
Ab dem 21. Mai 1959 haben es Verletzte in Bergedorf nicht mehr so weit bis ins Krankenhaus. Dann nämlich geht das Unfallkrankenhaus in Boberg nach zweieinhalbjähriger Bauzeit mit sieben Stationen in Betrieb. Wer kein Auto hat, kann ab Oktober erstmals per Direktverbindung mit der S-Bahn von Bergedorf bis zum Hamburger Hauptbahnhof fahren. Zuvor enden die Fahrten am Berliner Tor.
Allerdings ist aller Anfang schwer. Gleich am ersten Tag der durchgängigen Verbindung kommt es wegen einer falsch gestellten Weiche zu einem Zugunglück. Um 16.31 Uhr fährt eine leere Bahn einem vollbesetzten Zug in die Flanke. Glück im Unglück: Es gibt nur zwölf Leichtverletzte.
Januar 1959: Ein fürchterliches Verbrechen schockiert Bergedorf
Bereits am 17. Januar schockiert ein fürchterliches Verbrechen Bergedorf und Umgebung. Der 23-jährige Justizinspektor Klaus Röder aus Reinbek wird durch vier Messerstiche im Bergedorfer Amtsgericht getötet. 700 Menschen kommen später zur Beerdigung. Heute undenkbar: Unsere Zeitung schildert detailliert die Tat, schreibt von einem ersten Stich in den Rücken, einem zweiten in den Oberschenkel und später in die Rippen.
Auch der Täter ist mit Name, Bild und Wohnanschrift in der Zeitung. Hermann Stoll, ein Mittfünfziger aus Lohbrügge, stand vor Gericht, weil er Unterhalt für ein Kind zahlen sollte. Im September stellt ein Gericht fest, dass er in einem Zustand der geistigen Unzurechnungsfähigkeit handelte und weist ihn auf unbestimmte Zeit in eine Heil- und Pflegeanstalt ein.
In Escheburg hält ein Brandstifter die Feuerwehr auf Trab. Im Juni brennt der Bauernhof von Heinrich Wohltorf nieder, im August der Hof von Heinrich Rathje. Nach der zweiten Tat wird der Feuerteufel dingfest gemacht.
Eine Ausgabe der bz kostet damal 15 Pfennige am Kiosk
Eine Ausgabe der bz kostet damals gerade mal 15 Pfennige am Kiosk oder 3,80 D-Mark im Monatsabo. Dafür gibt es, wie heute, täglich einen Comic mit drei Bildern samt Text. Hund „Wurzel“ war noch nicht das Thema. Die erste Jahreshälfte geht es um die Abenteuer von „Pilot Sturm – Der erste Vorstoß ins Weltall“. Später um die Geschichten von „Käpt’n Rob und die rosa Perlen von Samoa“.
In Bergedorf wird der 100. Geburtstag des Bergedorfer Eisenwerkes am 12. April mit drei Sonderseiten bedacht. Später ging dieses an den schwedischen Konzern Alfa Laval samt Umzug nach Glinde im Jahr 1974. Dort, wo das Eisenwerk früher stand, ist heute die Wohnsiedlung Billebogen.
Langsam kommt auch der Wohlstand des Wirtschaftswunders in der Region an. Ein Landarbeiter kann laut einer Werbeanzeige mit „nur“ 3200 D-Mark Eigenkapital ein Haus bauen. Das sind zehn Prozent der Gesamtbaukosten. Pro Monat werden 50 bis 70 neue Telefone in Bergedorf angemeldet, auch die Zahl der privaten Fernseher steigt rasant.
Im Sachsentor eröffnet das Kaufhaus Hertie, Max Schmeling ist dabei
Am 6. Mai öffnet das Kaufhaus Hertie im Sachsentor, durch das damals neuerdings keine Linienbusse mehr fahren. Ehrengast bei Hertie ist Ex-Schwergewichts-Box-Weltmeister Max Schmeling. Auch der historische Gasthof Stadt Hamburg wird als ältester der Hansestadt in neuer Form im Jahr 1959 eröffnet (heute Block House).
Junge Leute gehen damals schon gern aus. 900 jazzbegeisterte Bergedorfer tanzen auf einem Schiff auf einer Fahrt bis nach Geesthacht auf der Riverboat-Shuffle-Party. Verliebte Geesthachter knutschen derweil später in einer versteckten Ecke vom neuen Eiscafé Napoli, das am 19. Juni 1959 öffnet. Die bz schreibt über den Vorgänger des legendären Venezia, es sei „eine echte Perle im großen Kreis der Geesthachter Gaststätten.“
Großbauprojekte sind wirtschaftlich ein Segen für Geesthacht
In Geesthacht geht es, auch dank der Großbauprojekte, wirtschaftlich langsam bergauf. „Die waren ein Segen für die Stadt“, sagt Helmut Knust, der Vorsitzende der Ortsgruppe des Heimatbund und Geschichtsvereins. Die drei an den Bauten beteiligten großen Firmen Möbius, P. Holzmann und E. Hackmack hätten auch die kleinen örtlichen Firmen involviert. Und das in einer Stadt, die nach dem Zweiten Weltkrieg die ärmste Stadt des Bundesgebietes und die mit den meisten Arbeitslosen war.
Die großen Rüstungsfabriken in Krümmel und Düneberg sind nach 1945 geschlossen. Zudem hat sich die Einwohnerzahl durch Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten, darunter viele Pommern, mehr als verdoppelt (1948: 20.364 Bewohner). „Fast jede Familie, auch meine Eltern, haben Flüchtlinge aufgenommen“, weiß Helmut Knust. Die Menschen versorgen sich mit Lebensmitteln aus dem Eigenanbau. Doch mit dem weiteren Bauwerk sei die Stadt endgültig über den „Berg der Not“ (Karl Mührl).
Laufwasserkraftwerk in der Elbe wäre wirtschaftlich nicht rentabel
Vorausgegangen waren Überlegungen aus Hamburg, die immer noch aktuell sind: die Vertiefung des Hamburger Hafens. Damit einher gehen Befürchtungen, die Elbe würde hernach zu schnell fließen. Eine Stelle oberhalb des Altengammer Elbknies wird als ideale Stelle für ein Stauwehr ausgemacht – bis heute übrigens das einzige im Verlauf der Elbe in Deutschland.
Bei den Planungen der Staustufe ist die DDR allerdings nicht mit einbezogen worden. Ein Fehler. Wegen Angst vor Überschwemmungen auf DDR-Gebiet führt diese, gewissermaßen als Strafe, Wasserstraßennutzungsgebühren ein. Daraufhin lenkt die Bundesrepublik ein und senkt das Stauziel am Geesthachter Wehr von 5,65 Meter über NN auf 4 Meter ab. Auf ein bereits damals geplantes Laufwasserkraftwerk wird deshalb verzichtet. Es wäre bei dem niedrigeren Wasserstand unrentabel geworden.
Stauwehr in der Elbe verändert Geesthachts Erscheinungsbild
Durch die Aufstauung des Wassers am Wehr verändert sich die Landschaft aber auch so massiv. Zwischen Altengamme und Tesperhude wird das Gelände um bis zu zwei Meter erhöht. Eine Folge: Der Düneberger und der Altengammer Hafen werden zugeschüttet. „Damals hat sich keiner darum gekümmert“, sagt Helmut Knust. So soll sich an der Stelle des Pumpspeicherbeckens die Hasenburg befunden haben, eine Turmhügelburg aus dem frühen elften Jahrhundert, ähnlich der Ertheneburg in Schnakenbek.
Die aufgestaute Elbe dient derweil als sogenannter Untersee für den Pumpspeicher, der wiederum in Zeiten von Energieknappheit als Reserve für die Hansestadt dient.
Der Schleusenbau ist erforderlich, damit der Fluss für die Schifffahrt passierbar bleibt. Durch den Schleusenkanal entsteht gleichzeitig eine neue Insel in der Elbe. Heute steht die Schleuseninsel unter Naturschutz. Wehr und Schleuse sind wiederum von Beginn an so ausgelegt, dass später auch eine Straßenbrücke darüber gebaut werden kann. Bis die zweite Verbindung von Schleswig-Holstein nach Niedersachsen (neben Lauenburg) eröffnet wird, soll es bis ins Jahr 1966 dauern. Mehrere Elbehochwasser verzögern den Bau.
Nach 14 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien Heimkehr nach Geesthacht
Derweil beschäftigen 1959 die Folgen des Zweiten Weltkriegs die Menschen noch immer. Am KZ Neuengamme soll ein Mahnmal entstehen. Aus dem Tonteich in Wohltorf muss Munition gefischt werden. In Reinbek soll die Zeit vorbei sein, dass Kriegsflüchtlinge in Baracken hausen müssen. Und im November kehrt die 28-jährige Rose Neumann nach 14 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien heim. Mit ihrer Mutter war sie als Kind verschleppt worden, nun trifft sie ihren inzwischen in Geesthacht wohnenden Vater wieder. Die Mutter war in Russland gestorben. Dafür bringt sie ihren eigenen Sohn Wassili (5) mit. Die bz erzählt die Geschichte auf einer ganzen Seite.
Im Sommer stöhnen die Menschen und vor allem die Bauern über eine große Hitzewelle. Zuvor haben am Pfingstmontag haselnussgroße Hagelkörner, die am Ende zehn Zentimeter hoch liegen, die Ernte in den Vier- und Marschlanden vernichtet. Auch damals gibt es schon Probleme mit unerwünschten Tieren. Was heute die Nutrias sind, sind damals Bisamratten. „Einer unserer größten Schädlinge“, heißt es in einem Bericht vom Februar.
Kinder brechen ins Eis ein, und zwei 19-Jährige werden zu Helden
Zu Helden steigen im selben Monat zwei 19-Jährige auf. Beide haben ins Eis eingebrochenen Kindern das Leben gerettet. Hartmut Zimmermann muss mehrfach in die eiskalte Elbe tauchen, um zwei sechsjährige Mädchen zu retten. Nichts Besonderes, sei das gewesen, berichtet Zimmermann, der nach seiner Rettungstat mit einer schweren Erkältung das Bett hüten muss.
Live mit dabei ist dann unser Fotograf Egon Klebe, wie der Maurergeselle Hans Schütt den siebenjährigen Klaus-Dieter Boldt aus dem dünnen Eis des Bergedorfer Schlossteiches zog. Die bz druckt drei Bilder der Rettung. Übrigens: Schütt hatte zuvor schon mal einen anderen Jungen vor dem Ertrinken gerettet.
Minister Hans-Christoph Seebohm schenkt Karin Korth eine Bernsteinkette
Oberhalb der Staustufe Geesthacht häufen sich dagegen die Berichte über Ertrunkene in der Elbe. Die alte Strandbadeanstalt ist im aufgestauten Lauf des Stromes versunken. 1958 gab es neun tödliche Badeunfälle, am 17. Juli 1959 ertrinkt der neunjährige Jürgen Mangels. „Es wird Zeit für ein Freibad“, werden die Forderungen lauter. Der Ratzeburger Kreistag bewilligt im Oktober einen Zuschuss in Höhe von 75.000 D-Mark. Das Freibad wird im Mai 1961 eröffnet.
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Zum dritten und letzten Treffen der inzwischen 21-jährigen Karin Korth mit Minister Seebohm kommt es dann am 14. September 1966 anlässlich der Einweihung der Brücke über die Elbe. Sie hat den versprochenen besonders großen Blumenstrauß dabei und er eine edle Bernsteinkette als Geschenk, die sie heute noch besitzt. Danach bleiben sie bis zu Seebohms frühen Tod 1967 in Kontakt. Seebohm schickt Glückwünsche zu Hochzeit und Neujahr. Die Karte zum Jahreswechsel ergänzt er um eine handschriftliche Notiz. Kurz zuvor ist er aus dem Amt ausgeschieden: „Ein Trost bei diesem frühzeitigen Ende meiner Aufgaben als Verkehrsminister ist doch, daß unsere Brücke noch rechtzeitig fertig wurde.“
Im Geesthacht-Museum im Krügerschen Haus (Bergedorfer Straße 28) läuft noch bis 28. Februar eine sehenswerte Ausstellung aus der Bauphase der Großprojekte. Sie trägt den Titel „Am Wasser gebaut“.