Warum musste das neun Monate alte Baby aus Wilhelmsburg sterben? Dem Abendblatt liegt die Anklageschrift der Staatsanwälte vor. Sie dokumentiert eine Tragödie, die sich vor den Augen der Mutter und ihres Lebensgefährten, aber auch der Behörden abspielte.
Das kleine Mädchen lag rücklings auf dem Fußboden, als die Sanitäter eintrafen. Seine Rippen waren zu sehen, die Lider über den großen, blauen Augen geschlossen. Neben dem Mädchen stand sein Kinderbett. Es hatte eine fleckige Matratze. Schmutzige Windeln lagen darin. Das Kind war so dünn, dass es längst nicht mehr so niedlich aussah, wie es Säuglinge in diesem Alter sonst tun. Es hatte sein Kindchenschema verloren.
So nennt es die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft gegen die Mutter und ihren Freund. Das 21-seitige Schriftstück, das dem Abendblatt vorliegt, ist das erschütternde Dokument eines monatelangen Sterbens vor den Augen der Fürsorgepflichtigen und der Hilfsstellen, die offensichtlich nicht genug unternommen haben, um das Leben des Kindes zu retten. Nach Durchsicht aller Fakten, Zeugenaussagen und der medizinischen Gutachten kommt zumindest die Anklagebehörde zu einem eindeutigen Ergebnis: Laras Mutter Jessica und ihr Freund haben nicht nur versagt. Sie haben den Tod des Kindes am Ende sogar billigend in Kauf genommen. Und: Die Mitarbeiter der Sozialen Dienste, die Lara Mia zu Gesicht bekamen, konnten entgegen ihren Aussagen den Zustand des Kindes kaum als normal empfunden haben.
Doch wie konnte es zu dem Drama in Wilhelmsburg kommen, an dessen Ende der Säugling tot aufgefunden wurde? Die Staatsanwaltschaft spricht von böswilliger Vernachlässigung, Misshandlung Schutzbefohlener und versuchter Tötung durch Unterlassen. Der Prozess wird voraussichtlich noch in diesem Jahr beginnen. Er wird sich nicht nur mit dem Leben und Leiden der kleinen Lara befassen, sondern mit einer Tragödie, die lange vor ihrer Geburt begann.
Schwanger mit 17
Jessicas R. wächst zwischen getrennt lebenden, zerstrittenen Eltern auf. Sie ist die jüngste von drei Schwestern. In Wilhelmsburg geht sie zur Schule - manchmal, nicht so oft, dass sie an einen Abschluss denken kann. Von 2007 an laufen Sorgerechtsverfahren beim Gericht in Harburg, der Allgemeine Soziale Dienst Wilhelmsburg entscheidet im Juli 2007 mit der Familie, dass Jessica R. zu ihrem Vater Karl-Heinz R. ziehen soll. Wenig später meldet er dem ASD, dass er erhebliche Schwierigkeiten mit der Tochter habe. Und dass sie nun auch noch schwanger sei. Der ASD Wilhelmsburg übergibt Jessica R. ein Heftchen mit Adressen von Mutter-Kind-Einrichtungen. Dort könne sie sich ja einmal vorstellen und informieren.
Den schüchternen Daniel C., damals 20, lernt sie im Herbst kennen. Stabilität kann auch er ihr nicht geben. Er hatte wegen Schwarzfahrens mit der Justiz zu tun. Aber er kümmert sich liebevoll um die Schwangere. Arbeit haben beide nicht.
Familienhilfe angeordnet
Kümmern will sich ab Dezember 2007 auch der ASD Süderelbe, an den die Wilhelmsburger Kollegen den Fall R. vorher zuständigkeitshalber übergeben haben. Sachbearbeiterin Simone F. lädt zum Gespräch ein. Doch Jessica R. und Daniel C. reagieren nicht. Stattdessen schlägt Jessicas Vater Alarm: Sie schwänze weiterhin die Schule. Er komme immer noch nicht mit dem Kind klar. Er wünsche, dass Jessica auszieht. Zum Beweis legt er Fotos vor, die ein verdrecktes und vermülltes Zimmer zeigen. Jessica R.s Bauch wächst derweil rapide an. Am 13. März, zwei Monate vor Laras Geburt, kommt es endlich zu einem ersten Gespräch. Betreuerin Simone F. schlägt vor, dass Jessica R. sich in eine Mutter-Kind-Einrichtung begibt. Doch die 17-Jährige lehnt alles ab. Jessicas Mutter springt ihrer Tochter bei: "Die schafft das. Ich helfe ihr." Simone F. ordnet sozialpädagogische Familienhilfe durch das "Rauhe Haus" an. Zehn Wochenstunden. Der freie Träger kooperiert mit dem ASD. Gut einen Monat später tritt Familienhelferin Marianne K. vom "Rauhen Haus" auf den Plan. In einem Gespräch, das sich "Erziehungskonferenz" nennt, willigt Jessica ein, künftig dreimal wöchentlich von ihr besucht zu werden. Die formulierten Hilfeziele: "Unterstützung und Beratung bei der Betreuung und Versorgung des Säuglings", "Kontrolle über das Kindswohl" und "Anbindung der jungen Mutter an die Mütterberatung in Wilhelmsburg".
Die Behörde ermahnt die Mutter und ihren Freund: Wenn sie das Kindeswohl gefährdeten, wird das Kind in Obhut genommen.
Probleme mit kaltem Babybrei
Am 21. April 2008 übernimmt die Mitarbeiterin des "Rauhen Hauses" die Akte Jessica R. Sie zeigt sich angetan von der Entwicklung in der jungen Familie. Das wird sich nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bis zum Tod des Kindes nicht ändern. Später wird die Betreuerin in einem Gedächtnisprotokoll angeben, dass sie sich bei ihren Besuchen jedes Mal davon habe überzeugen können, dass es Lara gut gehe.
Der Tag, an dem Lara Mia R. im Krankenhaus Mariahilf in Harburg geboren wird, ist ein bedeckter, wolkenverhangener Tag: der 16. Mai 2008. Die Ärzte verzeichnen: Sie ist ein reif geborenes, überdurchschnittlich großes Kind. Körpergewicht: 3630 Gramm, Größe: 54 Zentimeter, Kopfumfang 35 Zentimeter. Die Mutter, Jessica R. (17), ist allein im Krankenhaus. Laras Vater existiert nur im Sinne eines Erzeugers. Er hat den Kontakt zu Jessica nach einem kurzen Techtelmechtel abgebrochen. Ihr Freund, sie nennt ihn bereits "mein Verlobter", unterstützt sie. Seit dem fünften Schwangerschaftsmonat, im Januar 2008, leben die beiden in einer gemeinsamen Wohnung.
Jessica R. stillt das Baby zwei Wochen lang. Danach bekommt es Fläschchen. Zu einem nicht genau feststellbaren Zeitpunkt geben die junge Mutter und ihr Freund dem Baby Brei aus Gläsern. Dies ist wohl der Zeitpunkt, an dem die Probleme mit der Ernährung des Kindes beginnen. Jessica und Daniel bezeichnen das Kind als "krüsch". Sie bringen nicht die Geduld auf, das Baby mit Löffeln zu füttern. Jessicas Schwester Nicole wird sich später an einen Satz erinnern: "Das mit der Flasche war einfacher. Die musste man dem Kind nur reinstecken." Die junge Mutter habe nicht einmal gewusst, dass man Babynahrung warm machen müsse, sagt die Schwester den Ermittlern. Daniel C. sagt später einmal : "Laras Lieblingsessen war Lasagne. Und Fruchtzwerge."
Lara magert dramatisch ab
Marianne K. vermittelt dem jungen Paar eine Drei-Zimmer-Wohnung in Wilhelmsburg. Dort besucht sie sie regelmäßig. Laut Jessica R.s Erinnerung kam Marianne K. in Laras ersten sechs Lebensmonaten zweimal wöchentlich, später noch einmal in der Woche - jeweils für zehn bis 15 Minuten. Laut Jessica habe sich die Betreuerin meist nur um finanzielle Dinge gekümmert. Sie habe über die Essprobleme Bescheid gewusst, nach konkreten Mengen aber nicht gefragt. Es sei richtig, dass die Betreuerin einmal angeregt habe, dass Lara zu einem Kinderarzt solle. Dann habe sich aber keiner weiter darum gekümmert. Was Marianne K. offenbar beruhigt: Jessica R. geht liebevoll mit ihren Haustieren, einer Ratte und einem Hasen, um. Daraus schließt die Betreuerin, dass auch mit dem Kind alles in Ordnung sein werde. Marianne K. lobt später gegenüber den Ermittlern die junge Mutter: Sie selbst habe mehrfach mitbekommen, wie fürsorglich Jessica R. mit Hase und Ratte umgegangen sei. Ja, mehrfach sei sie sogar mit ihnen beim Tierarzt gewesen. Jessicas Vater Karl-Heinz beobachtet mit Sorge die offensichtliche Fehlentwicklung: "Immer wieder hat mich Jessica um Hilfe für ihren kranken Hasen gebeten. Um Hilfe für Lara hat sie jedoch nie gebeten."
Eine Tante ruft den Kindernotdienst
Laut Staatsanwaltschaft bemerken Jessica und Daniel im September 2008, dass Lara dünn geworden sei. Ab Oktober ist sie - nach Ermittlungen - so dünn, dass auch Laien erkennen müssten, dass das Kind nicht gesund ernährt sei. Kurz vor Weihnachten ist Lara so abgemagert, dass ihre Tante sich an den Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) wendet. Doch bis auf einen Anruf des dortigen Mitarbeiters Bernd B. passiert nichts. B. schickt einen Außendienst-Kollegen zur Überprüfung in die Wohnung. Der klingelt, trifft aber niemanden an. Er geht wieder. Es passiert nichts.
Angst vor einem Arztbesuch
Wie Tausende anderer Familien machen Jessica, Daniel und andere Familienmitglieder beim Weihnachtsfest Fotos. Doch die Aufnahmen, auf denen Jessica zu sehen ist, zeigen ein bereits massiv unterernährtes Kind. Einen Monat später besteht laut Staatsanwaltschaft bereits Lebensgefahr wegen Unterernährung. Im Februar 2009 setzt der Großvater Lara Mia in einem Supermarkt auf die Gemüsewaage. Er stellt fest: Sie wiegt nur noch fünf Kilo. 1370 Gramm mehr als bei der Geburt. Lara ist jetzt knapp neun Monate alt. Ihre Haut ist faltig, der Hals dünn, das Gesicht schmal. Ihre kinderärztlichen Standard-Untersuchungen haben die Eltern ab dem dritten Lebensmonat eingestellt. Das Leiden des Kindes, so die Anklage, ist der Mutter und dem Stiefvater gleichgültig geworden. Anrufe der Kinderärztin beantwortet das junge Paar nicht. Obwohl Familienmitglieder und Nachbarn immer wieder Fragen nach der Gesundheit des auffälligen Kindes stellen, geht das Pärchen nicht mit ihm zum Arzt. Laut Staatsanwaltschaft aus Angst, das Jugendamt könnte ihm Lara wegnehmen.
Marianne K. aber hält den Kontakt. Weil sie Jessica die Abnabelung von ihren Eltern ermöglichen und ihr Freiheiten gewähren will, kümmert sie sich während der kurzen Besuche meist um Papierkram. Die Angelegenheiten mit Lara habe die Mutter allein bewältigen wollen, sagt sie. Und: Es habe absolut keinen erkennbaren Grund gegeben, daran zu zweifeln, dass es Lara gut gehe. Die Betreuerin schließt ihr Gedächtnisprotokoll mit den Worten: Sie könne sich überhaupt nicht erklären, wie es zum plötzlichen Tod von Lara gekommen sei.
Die Sanitäter kommen zu spät
Sicher ist, dass Lara am Dienstag, dem 10. März 2009, noch lebt. Am Morgen des 11. März steht zunächst Daniel C. auf und geht eine Runde mit dem Schäferhund. Gegen 10 Uhr erwacht auch Jessica - um ebenfalls zunächst mit dem Hund vor die Tür zu gehen, ohne nach dem Kind gesehen zu haben. Nach der Rückkehr füttert sie ihre Haustiere. Erst dann bemerkt sie, dass Lara nicht mehr atmet. Sie ruft ihren Freund. Der entkleidet das Baby, beginnt nach eigener Aussage eine Mund-zu-Mund-Beatmung. Jessica wählt den Notruf. Die Hilfe, die die Sanitäter leisten können, kommt viel, viel zu spät. Es ist bereits die Leichenstarre eingetreten. Jessica R. und Daniel C. schildern am Nachmittag, was sie am Morgen erlebt haben. Ab dem 12. März sind sie zu weiteren Angaben bei der Polizei nicht mehr bereit.
Auch in wochenlangen Untersuchungen gelingt es Gerichtsmedizinern nicht, die genaue Todesursache festzustellen. Zu viele Einflüsse bleiben unklar. Ein plötzlicher Kindstod ist nicht 100-prozentig auszuschließen. Tatsache ist, dass der Körperfettanteil des Kindes nahezu null Prozent beträgt.