Siegen. Wenn der Kontakt zu anderen Menschen zu purem Horror wird: Drei Siegenerinnen erzählen davon – und wie sie das Problem angegangen sind.

Mit der Zeit hatten sie immer weniger Kontakt zu anderen Menschen. Immer größer wurde die Angst vor Leuten, nicht nur vor Fremden. „Früher habe ich mir alles mögliche ausgemalt“, sagt Michaela Mamuti. Heute nicht mehr. Heute komme sie klar: mit Kollegen, mit Kunden, auch Fremden an der Bushaltestelle, oder im Supermarkt. Und es wird noch besser, sagt die 51-Jährige, ganz bestimmt. Die Arbeit im Kleiderladen der Siegerländer Frauenhilfe habe ihr sehr geholfen. Nicht nur ihr.

„Der Laden“ der Frauenhilfe in Siegen: Wo Zukunftspläne entstehen

Michaela Mamuti und ihre Kolleginnen Olga Pogudin und Sabine Faust waren lange raus aus dem Alltagsleben; lange lebten sie fast nur noch Zuhause. „Der Laden“ an der Friedrichstraße ist nicht nur ein Geschäft, wo es gebrauchte Kleidung und Haushaltswaren und alles mögliche mehr gibt. Er ist auch ein Ort, der Menschen wie den drei Frauen eine Perspektive gibt. Über verschiedene Maßnahmen des Jobcenters sollen sie hier vorbereitet werden auf den Arbeitsmarkt. Raus aus dem Leistungsbezug, mit eigenem Gehalt, eigenen Plänen für die Zukunft, erklärt Leiterin Margrita Naurath.

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Sie leiten die Frauen und Männer an, begleiten sie. „Wir sehen viel Potenzial und viele entwickeln sich sehr positiv.“ Die geförderte Arbeit im Laden als Sprungbrett für den nächsten Schritt; Praktikum, Ausbildung, Anstellung. Eine dauerhafte Perspektive kann „der Laden“ selbst nicht bieten – was Margrita Naurath durchaus bedauert: „Für uns ist das schade, das sind wertvolle Arbeitskräfte. Aber es geht nicht um uns, sondern was ihnen gut tut.“

Siegenerin macht die Erfahrung: Es passiert ja gar nichts Schlimmes

Michaela Mamuti war lange Zuhause, wegen der Kinder, erzählt sie. „Meine Kinder haben immer Vorrang!“ Sie sei immer schon ein zurückhaltender Mensch gewesen, „ich gehe nicht auf Menschen zu“, ihre Tochter habe viel Aufmerksamkeit gebraucht. „Irgendwann gewöhnt man sich dran“; daran, dass da kaum andere Leute sind. Wenn sie mal aus dem Haus musste, habe sie sich immer schnell an Leuten vorbeigeschlängelt, „bloß kein Kontakt!“ Als sie im Laden anfangen sollte, hatte sie erstmal Angst. Würde sie zurechtkommen? Was würden Kunden sagen, was die Kollegen?

Bloß kein Kontakt!
Michaela Mamuti

Es klappte besser als gedacht. In den ersten Tagen habe sie sich noch sehr zurückgezogen und beobachtet. Inzwischen gehe sie auf Kunden zu, fragt, ob sie helfen kann. „Man hat hier die Möglichkeit, langsam wieder reinzukommen“, das habe ihr sehr geholfen. „Sie hat die Erfahrung selbst gemacht, dass nichts Schlimmes passiert, „ich habe an Selbstbewusstsein gewonnen“. Heute sagt sie es, wenn sie etwas stört. Wenn Jugendliche im Bus für alte Leute nicht aufstehen zum Beispiel.

Aus Sibirien nach Siegen: „Mama, Du musst Deutsch lernen!“

Ihre Kollegin Olga Pogudin hatte Angst vor der Sprache. Seit 2004 lebt die 41-Jährige in Deutschland, sie stammt aus Sibirien, war dort selbstständige Friseurin. Sie arbeitete zunächst in einer großen Firma, wo sehr viele Russen tätig waren – sie brauchte die deutsche Sprache nicht, sagt Pogudin. Nachdem die Kinder geboren waren, ging sie früh wieder arbeiten. Aber die Kinder waren oft krank, sie musste viel zuhause bleiben, erzählt sie. „Ich verstehe vieles nicht. Meine Kinder sprechen Deutsch und meine kleine Tochter stöhnt oft: ‚Mama, Du musst Deutsch lernen!‘“

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Seit sie im Laden arbeitet, ist es viel besser geworden. Olga Pogudin steht an der Kasse, kümmert sich um den Umtausch, hat viel Kontakt zu Kunden und Kollegen und muss zwangsläufig mit ihnen sprechen. Auf Deutsch, aber nicht nur. Weil viele Menschen aus Osteuropa herkommen, ist sie jetzt die Dolmetscherin an der Friedrichstraße. Sie möchte die Sprache noch besser lernen, sagt Olga Pogudin. Natürlich möchte sie dauerhaft arbeiten, „ich weiß nicht, was passieren wird. Ich muss erstmal klarkommen.“

Siegenerin fühlte sich allein: „Alle anderen waren so furchtbar selbstbewusst“

„Ich komme aus mir nicht heraus“, sagt Sabine Faust. Sie sei schon immer sehr in sich gekehrt gewesen und solange sie sich erinnern kann, war da immer diese Angst, Fehler zu machen, dafür einen drüber zu kriegen. „Ich war immer eine Zuhörerin, immer in der Ecke.“ Sie habe sich allein gefühlt, alle anderen waren so furchtbar selbstbewusst. Und wenn sie kritisiert wurde, verschloss sie sich nur noch mehr. 27 Jahre lang war Sabine Faust verheiratet, Hausfrau und Mutter. Und kaum mehr. „Ich stehe mir selber im Weg“, sagt sie, das weiß sie auch. Aber die Angst war eben da. „Es sind nur die Gedanken und Fantasien, die man vorher hat. Was passieren könnte. Aber das macht einen am meisten fertig.“ Sie malte sich Schreckensszenarien aus und wartete darauf, dass sie angemotzt wurde. Auch bei der Arbeit, als die gelernte Kinderpflegerin wieder damit anfing. Das machte es nicht besser, im Gegenteil. Es funktionierte nicht.

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Und dann war da der Laden, wo alle so freundlich und warmherzig waren. Wo sie ihr Zeit ließen, ihre Leistungen nicht übersahen, sondern lobten. „Wenn man kein Selbstbewusstsein hat, fühlt man sich so oft zurückgesetzt“, erzählt Sabine Faust. „Gut gemacht! Das braucht jeder Mensch mal.“ Im Laden erlebte sie auch: Sie ist überhaupt nicht allein. Andere haben auch Sorgen, auch die Selbstbewussten. „Jeder Mensch hat Angst und jeder geht anders damit um.“ Das habe ihr sehr geholfen. Als sie neu an der Friedrichstraße anfing und keinen kannte: „Das habe ich körperlich gemerkt.“ Heute sage auch ihre Familie, dass sie sich verändert hat. Dass sie nicht nur zuhört, sondern mehr erzählt. Und sich auch mal wehrt.

Gut gemacht! Das braucht jeder Mensch mal.
Sabine Faust

Die Angst ist nicht weg. Die Unsicherheit ist noch da; wie es weitergeht zum Beispiel. Dass sie vielleicht wieder allein zuhause sein wird. Sabine Faust weiß es nicht. Die Arbeit im Laden läuft irgendwann aus. „Ob die fünf Jahre wirklich reichen... Aber es ist hier besser geworden“, sagt sie. Sabine Faust hat Fortschritte gemacht, sie ganz persönlich. „Durch den Laden. Das ist nicht nur ein Sozialkaufhaus.“

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