Kreuztal. Die Kreuztalerin Ulrike Schreiber ist ihrer Angst auf den Grund gegangen. Die Selbsthilfegruppe spielt dabei eine wichtige Rolle.
Ruhig, gelassen und ganz bei sich wirkt Ulrike Schreiber im Gespräch. Dass die Kreuztalerin sich in einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit Ängsten und Panikattacken engagiert, darauf würde man nicht kommen. Das liegt daran, dass die 72-Jährige gelernt hat, mit ihrer Krankheit zu leben und damit umzugehen. „Ich beherrsche heute die Angst und nicht die Angst mich“, sagt sie selbstbewusst, während sie mit dem Besuch im Esszimmer ihres Hauses sitzt, wo der Kamin flackert, eine Wanduhr tickt und bei einer Tasse Kaffee und Gemütlichkeit das schmuddelige Novemberwetter draußen vor der Tür bleibt.
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Ein sehr langer Weg
Ein Therapeut habe zu ihr gesagt: „Sie sind in ihrer Schwäche stark.“ Doch zu dieser Stärke war es ein langer Weg – ein sehr langer Weg. „Angst begleitet mich von Kindesbeinen an“, erzählt Ulrike Schreiber. Die Ehe ihrer Eltern war zehn Jahre lang kinderlos geblieben. Dann sei sie zur Welt gekommen und anderthalb Jahre später ihre jüngere Schwester. Für ihre Mutter sei es wie eine Erlösung gewesen, verbunden aber auch mit der ständigen Sorge, ihren Mädchen könnte etwas passieren. „Das haben wir als Kinder gespürt.“ Die Spielräume für sie und ihre Schwester seien klein gewesen: „Wir wurden nicht wirklich losgelassen.“ Ulrike Schreiber erzählt offen und ungeschönt. Eins ist ihr dabei aber wichtig. „Es soll nicht so rüberkommen, als ob ich meinen Eltern die Schuld gebe“, betont sie. Im Gegenteil. Ihre Kindheit sei gut gewesen. „Wir wurden verwöhnt.“ Vater und Mutter konnten ja auch nicht ahnen, dass die Ursache für die späteren Ängste und Depressionen ihrer Tochter in der Kindheit gelegt wurden und zwar in der frühesten Kindheit.
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Als Säugling musste Ulrike Schreiber einige Wochen im Krankenhaus verbringen. Damals war es, anders als heute, nicht üblich, dass die Mutter mit dabei war. Die Trennung löste eine Verlustangst aus – „das Urvertrauen war weg“, erzählt die Kreuztalerin. „Meine Mutter konnte nichts dafür.“ Dennoch sei die Bindung zu ihrer Mutter nicht so intensiv gewesen wie zu ihrem Vater. „Ich war ein Papa-Kind.“ Ulrike Schreiber hing im wahren Sinn des Wortes an ihrem Vater. Wenn dieser sich verspätet hatte, hatte die Tochter Angst, ihm könnte etwas zugestoßen sein. „Ich konnte nicht einschlafen, das war nicht normal.“ Als sie aufs Gymnasium ging, musste ihr Vater für einige Wochen ins Krankenhaus. Die junge Ulrike besuchte ihn jeden Tag nach der Schule und verbrachte den gesamten Nachmittag dort.
Erfahrungen aus der Kindheit aufarbeiten
„Das war grenzwertig“, sagt die 72-Jährige in der Rückschau, „ich hätte schon als Kind eine Therapie gebraucht.“ Doch eigentlich habe sie in ihrer Kindheit nichts vermisst. „Ich war auch nicht depressiv.“ Probleme stellten sich erst später als junge Erwachsene ein. Nach der Geburt der ältesten Tochter „erlitt ich einen Nervenzusammenbruch. Da kam alles raus.“ Ulrike Schreiber kam zu einem Nervenarzt – „so hieß das damals“ – in Behandlung. Die Diagnose lautete: Angstneurose und Depression, verbunden mit psychsomatischen Beschwerden. „Ich glaubte, ich sei körperlich krank, hatte Kopfschmerzen, dachte, ich hätte Krebs.“ Sie bekommt Tabletten verschrieben. Eine Frage kreist in ihrem Kopf: „Warum funktioniere ich nicht?“ Sie sei eine Zumutung für ihren Mann gewesen, der sehr viel Rücksicht habe nehmen müssen. „Ich hatte Angst vor dem Tag. Der Tag stand wie ein Berg vor mir. Ich wäre am liebsten nicht aufgestanden“, erzählt die Kreuztalerin. Die Lebensfreude fehlte. Sie habe Menschen beneidet, die gelacht haben.
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„So geht es nicht weiter“, habe sie sich gesagt und schließlich „mutig“ die Nummer eines Psychotherapeuten gewählt. Die erste Verhaltenstherapie habe ihr sehr geholfen. „Ich habe so viel gelernt. Mir ist vieles klar geworden.“ Mit dem Verstand könne man sich alles erklären, doch das Bauchgefühl sei eine andere Dimension – „das bekommt man nicht in den Griff.“ Nach der Behandlung, in der auch das Traumata aus der Kindheit aufgearbeitet wurde, folgten Jahre der Stabilität: „Ich fühlte mich verstanden und ein Stück weit befreit.“ Eine Erkenntnis sei besonders wichtig: „Ich muss für mich Verantwortung tragen.“ Immer wieder habe es auch Phasen der Depression gegeben. Inzwischen zwei Kinder, dazu der Haushalt und eine Arbeit im Fernmeldeamt. Den Beruf kündigt sie schließlich. „Das hätte ich nicht geschafft, beziehungsweise, ich hätte es mir nicht zugetraut. Der Stress. Ich war nicht hundert Prozent stabil.“ 1984 kommt das dritte Kind zur Welt.
Erfahrungen mit der Gruppe teilen
Anfang der 90er Jahre erleidet sie einen Tinnitus – „es war körperlich und psychisch ganz schlimm.“ So schlimm, dass sie sechs Wochen in eine Psychiatrie kam. In dieser Zeit wurde Ulrike Schreiber auf eine neue Selbsthilfegruppe der Ehe, Familie und Lebensberatung des evangelischen Kirchenkreises Siegen für Menschen mit Ängsten und Panikattacken aufmerksam. Die Kreuztalerin geht hin. Gut 30 Jahre ist sie nun Mitglied und Kontaktperson, das heißt, Ansprechpartnerin für neue Mitglieder. „Die Gruppe hat mir bis heute viel gegeben“, sagt sie. Hier ist sie unter Gleichgesinnten, kann alles sagen, fühlt sich ernst genommen und verstanden. „Nur wer selbst Angst hat, versteht meine Erfahrung.“ Der Erfahrungsaustausch ermögliche, Erlebtes zu reflektieren. Die Kreuztalerin macht in der Gruppe positive Erfahrungen, Freundschaften entstehen – „das hätte ich so nicht gedacht.“ In ihrer Freizeit ist sie aktiv, spielte Tennis, fährt Rad, wandert mit ihrem Mann, geht ins Fitnessstudio. Zu Hause liest sie gerne, handarbeitet: „Ich habe gestrickt, gehäkelt, genäht – alles.“ Sie war im Weltladen engagiert, leitet einen Frauentreff und war 20 Jahre im Presbyterium. Mit ihrer Krankheit geht sie offen um.
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Mit der Angst besser umgehen
Bis heute gibt ihr die Gruppe Halt und Sicherheit. Sie käme sicher auch ohne die Gruppe klar, sagt Ulrike Schreiber am Ende des Gesprächs. „Sie würde mir aber fehlen und ist mir wichtig geworden.“ Geblieben ist eine Verlustangst. Wenn sich ihr Mann verspäte, dann beschleiche sie schon ein ängstliches Gefühl, er könne nicht mehr da sein. Von einer Depression will sie nicht mehr sprechen, eher von einer Melancholie oder einer plötzlichen, tiefen Traurigkeit. „Ich kann diese Gefühlsschübe besser einordnen und damit umgehen“, sagt sie, ruhig und gelassen und ganz bei sich.
Kontakt zur Selbsthilfegruppe : Diakonie Selbsthilfekontaktstelle Sieghütter, Hauptweg 3, Siegen, Telefon: 0271/5003131
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