Siegen. Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in der Bevölkerung, weiß Georg Weil. Er erklärt, wie Hilfe aussehen kann.

Ängste sind vielfältiger Natur. Fragen an den Experten Georg Weil, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Suchtmedizin sowie Facharzt für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Notfallmedizin sowie Oberarzt am Diakonie Klinikum Jung-Stilling Siegen und Bethesda-Krankenhaus Freudenberg.

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Was versteht man unter Ängsten?

Angst ist zunächst ein physiologisches Gefühl, das uns vor Gefahren schützt und überlebenswichtig ist. Wer einmal auf die heiße Herdplatte gefasst hat, wird es aus Angst vor erneuten Schmerzen wahrscheinlich nicht wieder tun. Angst ist jedem aus eigenem Erleben bekannt. Angst oder Furcht gehört zu den existenziellen Grunderfahrungen des Menschen. Wenn eine tatsächliche Gefahr oder Bedrohung besteht, empfinden wir Angst, eine Realangst. Neben dem emotionalen Anteil zeigt sich Angst auch auf vegetativer, kognitiver und motorischer Ebene. Als vegetative, körperliche Reaktionen bezeichnet man zum Beispiel Erregung, Schweißausbruch, Herzklopfen, schnellen und flachen Atem und Mundtrockenheit. In höchster Erregung ist die Aufmerksamkeit auf die Gefahrensituation eingeengt, die kognitive Leistungsfähigkeit ist verändert. Der Körper ist angespannt, der Muskeltonus erhöht, er ist auf „Kampf oder Flucht“ vorbereitet. Manchmal sind aber auch die motorischen Reaktionen gehemmt, man ist „vor Angst erstarrt“.

Georg Weil ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Diakonie Klinikum.
Georg Weil ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Diakonie Klinikum. © Siegen | Daniel Weber

Die krankhafte Angst unterscheidet sich in ihrer Qualität der damit verbundenen Empfindungen und körperlichen Reaktionen nicht von einer realen Angst. Die krankhafte Angst tritt jedoch in Situationen auf, die keine tatsächliche Gefahr oder Bedrohung darstellen. Diese Ängste können sich auf äußere Objekte (zum Beispiel Spinnen) oder bestimmte Situationen (zum Beispiel Fahrt mit einem Fahrstuhl, in fremdem Gruppen, freie Plätze) beziehen. Aber auch als bedrohlich empfundene körperliche Sensationen und Gedanken können Ängste auslösen. Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in der allgemeinen Bevölkerung. Den Betroffenen ist der übersteigerte, irrationale Charakter ihrer Angst häufig bewusst, sie fühlen sich jedoch diesen Ängsten ausgeliefert und scheitern oft bei dem Versuch, die Angst in den Griff zu bekommen.

Wie kann man erkennen, dass Angst zum Problem wird und nicht eine vorüber gehende Erscheinung ist?

Kernmerkmal der pathologischen, krankhaften Angst ist die Beeinträchtigung der freien Lebensführung und der Lebensqualität. Wenn die Angst zunehmend das Leben beeinträchtigt, man gewisse Dinge, Orte oder Situationen wegen der Angst meidet und sich davon, entgegen dem eigentlichen Wunsch fernhält, sollte man sich möglichst frühzeitig Hilfe suchen.

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Was versteht man unter Verlustängsten?

Die allgemeinsprachlich als Verlustängste benannten Ängste werden in der psychiatrischen Nomenklatur als Trennungsangst-Störungen klassifiziert. Dabei handelt es sich um eine dem Alter und Entwicklungsstand nicht angemessene massive Angst vor der Trennung von wichtigen Bezugspersonen (im Kindes- und Jugendalter meist bezogen auf die Eltern, im Erwachsenenalter typischerweise bezogen auf Lebenspartner oder Kinder). Beklagt wird Unwohlsein und Angst, wenn das Verlassen des Zuhauses oder eine andere Trennung von der Bezugsperson ansteht. Deswegen erzeugt, je nach Ausprägung schon der Gedanke ans Ausgehen, die Schule zu besuchen oder zu arbeiten, große Angst und Widerwillen, wenn damit eine Trennung verbunden ist. Ist die geliebte Person abwesend, machen sich die Betroffenen exzessive Sorgen, dass der Person ein Unglück zustoßen könnte oder sie äußern die Sorge, dass ihnen selbst etwas zustoßen und dadurch ein Wiedersehen verhindert werden könnte. Häufig werden Alpträume, in denen die Betroffenen katastrophale Trennungserfahrungen berichten. Die Beschwerden sind länger dauernd und nicht nur auf ein einmaliges Trennungsereignis bezogen. Bei Kindern treten häufig körperliche Symptome wie Bauch- und Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Schwindel auf.

Wie werden Ängste behandelt?

Angsterkrankungen sollen grundsätzlich eine multimodale Therapie aus Psycho- und Pharmakotherapie angeboten werden, wobei stets die „Präferenz des informierten Patienten“ berücksichtigt werden soll und als Entscheidungskriterien „Wirkeintritt, Nachhaltigkeit, unerwünschte Wirkungen und Verfügbarkeit“ herangezogen werden sollen. Durch viele Studien ist belegt, dass bei Psychotherapie die spezifisch für Angsterkrankungen entwickelte Psychotherapieangebote hochgradig erfolgreich sind. Die Psychotherapie ist die Behandlungsmethode der Wahl, die breiteste Evidenz liegt für die kognitive Verhaltenstherapie vor.

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Bei der Behandlung von Angsterkrankungen stehen die nicht angemessenen, anhaltenden Angst- und Vermeidungsreaktionen in eigentlich sicheren Situationen. Die kognitive Verhaltenstherapie verfolgt das Ziel, den Patienten zu ermöglichen, gefürchtete Situationen selbstständig wieder aufzusuchen und auf Sicherheitsverhalten zu verzichten. Das eigene Verhalten soll gedanklich, emotional und motorisch im Umgang mit der Angst verändert werden. Durch Expositionsübungen und Verhaltensexperimente können die Patienten gemeinsam mit dem Therapeuten prüfen, ob ihre ursprünglichen Befürchtungen tatsächlich eintreten oder nicht und dabei korrigierende Erfahrungen machen. Nach einer ausführlichen Psychoedukation, in der der Patient die Natur seiner Erkrankung erlernt und versteht, warum er reagiert, wie er reagiert. Grundsätzlich werden vier Therapiephasen unterschieden: Medikamentös können Angststörungen mit sog. Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) behandelt werden. Dies sind Medikamente, die auch zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden und eine nachgewiesene Wirkung auch bei Angsterkrankungen haben. Ob diese alleine eingesetzt werden oder zusammen mit einer Psychotherapie sollte von einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie gemeinsam mit den Patienten, je nach Schweregrad der Erkrankung und den Präferenzen der Patienten, entschieden werden.

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Wichtig ist es, frühzeitig in Behandlung zu gehen, je früher, desto besser. Je früher die Behandlung beginnt, umso leichter ist die Erkrankung zu behandeln und eine Chronifizierung zu vermeiden. Ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder ein psychologischer Psychotherapeut sollte eine gründliche Diagnostik durchführen, um die Diagnose zu stellen und evtl. andere, begleitende psychische Erkrankungen zu erkennen. So zum Beispiel entwickeln viele Angstpatienten als Folge von Rückzug und der erlebten Hilflosigkeit gegenüber der Angst im Verlauf auch Depressionen. Ausdrücklich gewarnt werden muss vor der regelmäßigen und längeren, länger als drei Wochen, Anwendung von reinen Beruhigungsmitteln. Diese wirken zwar gegen akute, starke Angst im Moment, heilen aber die Erkrankung nicht und haben ein sehr hohes Risiko für die Entwicklung einer Abhängigkeit!

Hilfe

Wenn Angst einen übermannt – das rät der Experte: Ein wichtiger Punkt ist die sogenannte „Realitätskontrolle“. Sind meine Ängste real und berechtigt? Schlägt mein Herz nicht einfach nur schneller, weil ich mich gerade fürchte? Wenn man in einer belastenden Situation? Hilfreich ist auch das Erlernen von Entspannungstechniken wie Autogenes Training, um die als angsteinflößend erlebten körperlichen Symptome (schnelles Atmen, Herzrasen) „herunter zu fahren“. Wenn diese Symptome mehrfach auftreten ohne adäquaten Auslöser, sollte man fachärztliche Hilfe in Anspruch nehmen und eine Selbsthilfegruppe aufsuchen.

Kontakt zur Selbsthilfegruppe : Diakonie Selbsthilfekontaktstelle Sieghütter, Hauptweg 3, Siegen, Telefon: 0271/5003131

Gibt es ein Muster an Ursachen?

Angststörungen sind multifaktoriell bedingte Erkrankungen. Eine durch biologische als auch psychosoziale Faktoren erhöhte Angstbereitschaft wirkt prädisponierend. Auf dem Boden einer so erhöhten Angstbereitschaft können durch Lebensereignisse oder Lebensbedingungen eine überschießende Angstreaktion ausgelöst werden. In der Psychotherapie kennt man das „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“. Durch eine erhöhte Angstbereitschaft zusammen mit ungünstigen Bewältigungsstrategien oder Reaktionen der Umwelt, kann es zur Eskalation und Aufrechterhaltung der Beschwerden kommen.

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Wie unterstützend sind Selbsthilfegruppen?

Viele Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, fühlen sich stigmatisiert und schämen sich sogar für die Erkrankung, für die sie gar nichts können. Eine wichtige Erfahrung in einer Selbsthilfegruppe ist es zu sehen, dass man nicht alleine mit der Erkrankung ist und dass es viele andere „normale“ Leute gibt, die auch an dieser Erkrankung leiden. Man kann seine Erfahrungen austauschen und sich einfach mal die Sorgen von der Seele reden bei Menschen, die die Krankheit kennen und verstehen. Auch der Austausch von Tipps, das gegenseitige Ermutigen und Bestärken gehört zu den heilsamen Aspekten der Selbsthilfe. Dort sitzt nicht „der eine Therapeut“, sondern die Gruppe mit all ihren Erfahrungen, mit ihrem Verständnis, ihrer Empathie, aber auch mit ihrem ermutigendem „Anschubsen“, wenn man sich vielleicht vor einem unangenehmen Konfrontationsschritt „drücken“ will, ist „der Therapeut“. Selbsthilfe ist zur Unterstützung einer Therapie und in der Rückfallvermeidung ein ganz wichtiger Punkt.

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