Siegen. Die Angst sich zu blamieren, „doof“ auf andere Menschen zu wirken, ist „extrem gut behandelbar“, sagt der Siegener Psychologie-Prof. Tim Klucken.

Soziale Phobien (auch bekannt als „Sozialphobie“ oder „Soziophobie“) gehören innerhalb der psychischen Erkrankungen zu den Angststörungen. Diplom-Psychologe Prof. Tim Klucken, Uni Siegen, erläutert: Charakteristisch ist hier die Angst, sich zu blamieren; die Sorge, „doof“ auf andere zu wirken. Gerade das Reden in der Öffentlichkeit oder vor anderen Personen meiden Betroffene daher, aber auch soziale Situation wie etwa Partys. Prof. Klucken, Leiter Klinische Psychologie und Psychotherapie, erzählt von einem Patienten, der nicht allein in die Mensa ging: „Er hatte Angst, angestarrt zu werden; dass die Menschen denken würden, er hätte keine Freunde.“

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Betroffene würden sich in der Folge immer mehr abkapseln: Sie meiden Situationen, in denen sie fürchten, negativ beurteilt oder gedemütigt zu werden. „Wenn man große Angst hat, fängt man an zu vermeiden“, so der Direktor der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz in Siegen – man gehe dann nicht mehr hin. Das könne so weit führen, dass Betroffene auch nicht mehr zur Arbeit erscheinen. Es gebe Untersuchungen, dass Soziale Phobien chronisch verlaufen und unbehandelt im Lauf der Zeit immer stärker werden – anders als Depressionen beispielsweise, die in der Regel episodenhaft verlaufen und je nach Phase unterschiedlich stark sind. Damit werden bei Sozialen Phobien auch die Einschränkungen zunehmend größer.

Soziale Phobie nicht mit Schüchternheit verwechseln: Das geht an die Existenz

Diese Störung sei nicht zu verwechseln mit Schüchternheit. „Die Qualität ist ganz anders“, betont Klucken. Soziale Phobien seien geeignet, das wirtschaftliche und soziale Leben der Betroffenen zu zerstören. Dabei seien sie sich über ihre Krankheit im Klaren, im Gegensatz zu vielen anderen Störungen, „sie wollen gerne, trauen sich aber nicht“, erläutert der Experte. Viele Betroffene berichten von einer Demütigung in der Kindheit, oft in der Schule, die eine Art Auslöser für die Erkrankung gewesen sein könnte. „Das ist sicher mit Vorsicht zu genießen“, erläutert Prof. Klucken, denn viele Menschen erleben ein erniedrigendes Referat oder Mobbing durch Mitschüler und bekommen dadurch keine Soziale Phobie. Bei vorbelasteten Menschen könnte ein solches Ereignis die Erkrankung aber initiieren (Vulnerabilitäts-Stress-Modell).

Er hatte Angst, angestarrt zu werden; dass die Menschen denken würden, er hätte keine Freunde.
Prof. Tim Klucken über einen Patienten, der sich nicht allein in die Mensa traute

„Die gute Nachricht: Soziale Phobien sind extrem gut behandelbar“, sagt Tim Klucken. Neben medikamentöser Therapie gebe es in der Psychotherapie sehr wirksame Verfahren; etwa die kognitive Verhaltenstherapie: Dabei sollen Betroffene ihre Befürchtungen aktiv hinterfragen und auf ihren Wahrheits- und Wahrscheinlichkeitsgehalt hin überprüfen. In Übungen kann die befürchteten Situationen konkret aufgesucht, Sicherheitsverhalten gezielt eingeübt werden. Klucken: „Neben der Verhaltenstherapie gibt es noch andere Psychotehrapieverfahren wie die psychodynamischen Psychotherapien, die wirksam sind und empfohlen werden können.“ Wichtig sei in jedweder Therapie ein strukturiertes, manualisiertes, gut untersuchtes Vorgehen.

Siegener Psychologie-Professor: Angst macht im Zusammenleben von Menschen durchaus Sinn

Angst an sich sei auch nichts Gefährliches; sie hat generell durchaus einen Sinn für das menschliche Zusammenleben – zum Beispiel, damit gewisse soziale Normen eingehalten werden und Gesellschaften funktionieren. Es gebe bizarrerweise durchaus viele Lehramtsstudierende, die feststellen, dass sie Unterrichtssituationen nicht mögen und die von einer solchen Therapie für ihren späteren Beruf profitieren können.

Prof. Dr. Tim Klucken, Professor für Klinische Psychologie an der Universität Siegen und Psychotherapeut.
Prof. Dr. Tim Klucken, Professor für Klinische Psychologie an der Universität Siegen und Psychotherapeut. © Uni Siegen | Uni Siegen

Auch weil Krankheitseinsicht fast immer gegeben ist, könne auch Selbsttherapie funktionieren. Es gebe gute Selbsthilfebücher und -gruppen, auch Internet-Interventionen, die nach den selben therapeutischen Prinzipien arbeiten: Ängste hinterfragen und Situationen mit der Realität abgleichen. „Wer sich selbst kritisch hinterfragen kann – umso besser“, sagt Tim Klucken. Dann müsse man es schaffen, sich mit den Angst-Situationen zu konfrontieren. Der Experte rät in jedem Fall zu einer strukturierten Vorgehensweise, ob nun auf eigene Faust oder mit externer Hilfe: „Das ist wie im Fitnessstudio. Angemeldet sein reicht nicht allen, manche brauchen einen Trainer dazu.“

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Den Patienten, der nicht allein in die Mensa wollte, habe er gefragt, ob es denn überhaupt nötig sei, dass ihn alle mögen? „Es ist doch in Ordnung, wenn jemand denkt: Das ist aber komisch, dass der allein zum Essen geht.“ In der Realität folgt aus diesen Gedanken anderer eigentlich immer – gar nichts.

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