Siegen. Leere Brücken, volle Bahnsteige: Ein Team der Uni Siegen konfrontiert Patienten im virtuellen Raum mit ihren Ängsten. Kann das funktionieren?

Das lichtdurchflutete Zimmer löst sich langsam auf, verwandelt sich in einen unterirdischen Bahnsteig. Links und rechts verlaufen die Gleise, ein paar Leute gehen vorbei. Alles wirkt so real – ist es aber nicht. Die Alltagssituation, die manchen Menschen Panik verursacht, besteht nur in der Virtuellen Realität. Ob diese Art der Konfrontation bei der Behandlung von Angststörungen helfen kann, möchte ein Team der Universität Siegen in einer Studie herausfinden. Dafür werden noch Teilnehmerinnen und Teilnehmer gesucht.

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„Angst ist ein Basisgefühl und überlebenswichtig, weil sie uns schützt“, erklärt Dr. Alla Machulska von der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz der Uni Siegen. Im Normalfall signalisiert Angst, dass eine Situation gefährlich ist und verlassen werden sollte. Und sie geht oft mit physischen Reaktionen wie beschleunigtem Herzschlag, schnellerer Atmung oder Schwitzen einher, die einer zügigen Flucht zuträglich sind; oder – vor allem, wenn man in der Menschheitsgeschichte weiter zurückgeht – der Einleitung von körperlicher Gegenwehr.

Universität Siegen: Angststörungen und Phobien mit der VR-Brille behandeln

Problematisch wird es erst, wenn die Angstreaktion stärker ausfällt und länger anhält, als es in der realen Situation passend wäre. Das gilt insbesondere, wenn objektiv betrachtet gar keine Gefahr besteht, die Phobie das Angstprogramm aber trotzdem in voller Intensität auslöst. Beispiel: Es ist durchaus sinnvoll, auf einen wütenden, großen, laut bellenden Hund ängstlich zu reagieren. Wenn dieses Gefühl aber auch bei einem friedlichen Welpen auftritt, läuft es suboptimal. Und wenn diese Angst dazu führt, dass Personen leiden und bestimmte Situationen deshalb meiden, obwohl sie eigentlich zum menschlichen Alltag gehören, sollten Betroffene eine Behandlung in Betracht ziehen.

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Der klassische Weg ist in solchen Fällen die Konfrontationstherapie. Patientinnen und Patienten setzen sich den Situationen aus, die ihnen Schwierigkeiten bereiten, und sollen dabei lernen, damit umzugehen. Damit werden zwei wesentliche Ziele verfolgt. Einerseits sollen die Betroffenen die Erfahrung machen, dass sie die Lage aushalten und sich ihr stellen können. Andererseits soll ein Realitätscheck stattfinden, der die mit der Situation verbundenen Befürchtungen mit dem abgleicht, was tatsächlich passiert – oder besser: was eben entgegen der Angst alles nicht passiert. Sollen ein Therapeut oder eine Therapeutin dabei sein, wird der logistische Aufwand allerdings sehr hoch, wie Alla Machulska erläutert: Orte müssen gemeinsam aufgesucht, eventuell Eintrittsgelder oder sonstige Kosten bezahlt werden – und wie viel Zeit eine solche Sitzung in Anspruch nimmt, sei oft auch nur schlecht zu prognostizieren. Für Behandelnde werde dieses Angebot dadurch mitunter unattraktiver. Und an dieser Stelle setzt das von Prof. Tim Klucken geleitete Projekt der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz an, indem es die Potenziale virtueller Realität untersuchen möchte.

Dr. Alla Machulska gehört zum Team um Prof. Tim Klucken, das an der Uni Siegen die Potenziale von VR-Anwendungen zur Behandlung von Angststörungen erforscht: „Die Patienten sind überrascht, wie sehr man in diese Welt eintaucht.“
Dr. Alla Machulska gehört zum Team um Prof. Tim Klucken, das an der Uni Siegen die Potenziale von VR-Anwendungen zur Behandlung von Angststörungen erforscht: „Die Patienten sind überrascht, wie sehr man in diese Welt eintaucht.“ © WP | Florian Adam

Siegen: Team der Uni erforscht virtuelle Konfrontationstherapie für Angstpatienten

„Generell interessiert uns, welche Möglichkeiten es gibt, Menschen technisch und digital zu unterstützen“, sagt Alla Machulska. Zunächst geht es um wiederkehrende Panikattacken, Agoraphobie (die Angst vor öffentlichen Orten und Menschenmengen) und soziale Phobien (siehe HINTERGRUND am Ende des Textes). Das Team erprobt dabei verschiedene Anwendungen, um den Patientinnen und Patienten im virtuellen Raum das zu bieten, was die Konfrontationstherapie im Analogen leistet: Das Erleben der angstbesetzten Situation, seien es eben der U-Bahnhof, die Schlange im Supermarkt oder der Gang über eine große, menschenleere Brücke. Die Technik ist mittlerweile auf einem Stand, der via VR-Brille sehr realistisch wirkende Simulationen gestattet. „Die Patienten sind überrascht, wie sehr man in diese Welt eintaucht“, beschreibt Alla Machulska die bisherigen Erfahrungen im Zuge der Studie.

Weitere Studien laufen

Wer an der Therapie und der angegliederten Studie teilnehmen möchte oder Fragen hat, kann sich an angstbehandlung@uni-siegen.de wenden.

Die Forscherinnen und Forscher führen derzeit noch weitere Studien zum Einsatz von Virtual-Reality durch: Das Team hat auch eine VR-Therapie für Menschen mit Spinnenphobie entwickelt sowie eine Entspannungs-VR-Anwendung, die vor allem Patientinnen und Patienten mit Depressionen helfen soll.

Trotz der plastischen Darstellung sage ein Teil des Gehirns den Nutzerinnen und Nutzern „Du sitzt auf der Couch und bist sicher.“ Dieser Punkt ist wichtig, weil die Patientinnen und Patienten die Trainings zuhause durchlaufen können sollen, ohne dass Therapeutin oder Therapeut unmittelbar an ihrer Seite sind. Wird das Erleben in der realen Welt unerträglich, befänden sich die Betroffenen mitten in einer Lage, die sie in Panik versetzt und die sie vielleicht nicht ohne Weiteres verlassen könnten. Geschieht dies hingegen während der Simulation, reicht es, die VR-Brille abzunehmen – und man findet sich in der sicheren Umgebung des heimischen Wohnzimmers wieder.

Uni Siegen: Angst-Behandlung mit VR-Brille soll neue Therapiemöglichkeiten schaffen

Ob die Wirkung ähnlich ist wie bei herkömmlichen Therapien, soll die auf zwei Jahre angelegte Studie zeigen. Die Hoffnungen gehen aber noch weiter. Die VR-Trainings werden zwar mit therapeutischen Gesprächen begleitet, außerdem erfolgt selbstverständlich eine intensive Einführung und Anleitung; aber derzeit vorgesehen sind nur sechs Gesprächstermine, während es sonst üblicherweise Dutzende sind. „Wenn also herauskommen sollte, dass unsere Therapie unter gewissen Voraussetzungen ähnlich wirksam ist wie eine herkömmliche, könnte man eventuell in der gleichen Anzahl von Sitzungen mehr Patienten helfen“, betont Prof. Tim Klucken. Dies ist um so relevanter, als die Nachfrage nach Therapieplätzen kontinuierlich hoch ist und während der Pandemie gerade bei den angstbezogenen Problematiken noch einmal zunahm, wie Alla Machulska erläutert. Die ohnehin langen Wartezeiten auf Hilfe wurden dadurch weiter ausgedehnt.

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Zum neuen Standard für alle Betroffenen soll die VR-Behandlung dabei nicht werden. „Digitale Gesundheitsanwendungen werden die klassischen Formen nicht ersetzen“, sagt Alla Machulska. Vielmehr seien diese „eine Zusatzoption, die für einige Menschen hilfreich sein kann“. Welche Behandlung wem hilft, ist eine individuelle Frage. „Es gibt unglaublich viel Bedarf. Aber nicht jeder hat denselben“, erklärt die Psychologin. In jedem Fall hofft sie darauf, dass sich die VR-Möglichkeiten als Überbrückungshilfe für Leute erweisen, die bis zum Beginn ihrer analogen Therapie länger warten müssen. Das wäre höchst wertvoll: „Wir wissen von Angststörungen, dass sie ohne Behandlung chronisch verlaufen.“

Die VR-Brille, die für die Nutzung der Anwendungen erforderlich ist, wird den Patientinnen und Patienten für die Studie zur Behandlung von Angststörungen mittels virtueller Realität an der Uni Siegen zur Verfügung gestellt.
Die VR-Brille, die für die Nutzung der Anwendungen erforderlich ist, wird den Patientinnen und Patienten für die Studie zur Behandlung von Angststörungen mittels virtueller Realität an der Uni Siegen zur Verfügung gestellt. © WP | Florian Adam

HINTERGRUND: Um diese Ängste und Angststörungen geht es in der Studie

Wiederkehrende Panikattacken. Panikattacken können in nahezu jeder Situation auftreten. Bei der Behandlung geht es deshalb nicht darum, die Betroffenen mit einer bestimmten Situation oder einem bestimmten Objekt zu konfrontieren, sondern um den Umgang mit der Attacke an sich – und mit den damit einhergehenden körperlichen Symptomen, wie Dr. Alla Machulska erläutert. Wie bei allen Angststörungen ist hier ein tiefes Verständnis des Angstgefühls entscheidend. Das schließt die Prozesse ein, die davon körperlich ausgelöst werden. Wichtig ist, Symptome wie Atemnot, Herzrasen oder Schwindel auf die Panikattacke zurückführen zu können, anstatt sie als Zeichen etwa von Herzinfarkten oder Schlaganfällen zu deuten und dadurch erst recht in Panik zu verfallen. Zentraler Punkt: Dies gilt, wenn erwiesenermaßen eine Panikstörung vorliegt. Ansonsten ist bei entsprechenden Symptomen, die aus heiterem Himmel auftreten, selbstverständlich der Notruf zu wählen.

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Agoraphobie. Die Angst vor öffentlichen Orten, Plätzen und Menschenmengen hängt meist mit der Befürchtung zusammen, im Notfall keine Chance auf Rettung zu haben: Weil Fluchtwege versperrt sind, weil Räume – etwa fahrende Züge – nicht jederzeit verlassen werden können oder weil man dort nicht zeitnah von Helfern erreicht werden könnte. Wird die Angst zu groß, meiden Betroffene die jeweiligen Orte und Situationen schlimmstenfalls komplett. Bei manchen Ängsten fällt das nicht weiter ins Gewicht: Wer etwa Angst auf hohen Türmen hat, an diesen aber auch keinerlei Interesse hegt, kann einfach auf das Erklimmen verzichten. Geht es aber um die Fußgängerzone, Restaurants oder das Fitnessstudio, sind die Einschränkungen massiv.

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Soziale Ängste. „Das gestaltet sich bei jedem etwas anders“, erläutert Alla Machulska zu den sozialen Phobien. Grob gesagt beruhten diese „auf der Befürchtung: Ich mache etwas und andere bewerten das als schlecht“. Betroffene haben oft Angst vor Kritik oder davor, sich zu blamieren – weil sie beispielsweise schwitzen, sich versprechen oder andere ihre Äußerungen für unqualifiziert halten könnten. „Da geht es bei der Konfrontation weniger um das Aushalten, sondern eher um den Realitätscheck“, sagt die Psychologin. Die meisten Leute würden nämlich in der Interaktion schlicht und ergreifend gar nicht auf das reagieren, über das die Patientinnen und Patienten sich Sorgen machen. Ein Faktor, der bei den sozialen Phobien hinzukommt: Die angstbesetzte Situation ist kaum zu vermeiden, denn „wir sind soziale Wesen“.

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