Mülheim. Auf der Skala von eins bis neun finden sich Schulen niedriger wieder als zuvor. Nach dem Schrecken steht für viele Hoffnung. Woran das liegt.
Wer sich die Mülheimer Zahlen des jüngst neu aufgelegten Schulsozialindex NRW näher anschaut, schreckt zunächst auf: Fast alle Schulen der Stadt standen bei der Erstauflage 2020 besser da. Einigen Einrichtungen attestiert der neue Index sogar einen regelrechten Absturz. Grund dafür sind die sozialen Bedingungen vor Ort. Doch das Ganze hat auch eine gute Seite, führt vielleicht zu Entlastung.
Der Katalog zeigt auf, welche Schulen in Mülheim und anderswo im Land besonders mit sozialen Herausforderungen konfrontiert sind. Es geht um Rahmenbedingungen wie Armut in den Familien oder Migrationserfahrung - nicht um individuelle Arbeit einzelner Schulen. Im Auftrag des Landes hat erneut die Ruhr Uni Bochum das Werk erstellt. Die Autoren verwenden eine Skala mit neun Stufen, wobei eine Eins für die niedrigste Belastung steht und eine Neun für die denkbar höchste. Laut Schulministerium soll der Index zu mehr Bildungs- und Chancengerechtigkeit führen. Mit seiner Hilfe könne man Ressourcen genauer verteilen, hoch belastete Einrichtungen besser unterstützen, zum Beispiel durch zusätzliche Lehrkräfte.
Mülheimer Schulleiterin Vera Glunz freut sich: „Wir sind jetzt endlich gerecht eingeordnet“
Vor vier Jahren hatte die Styrumer Brüder Grimm Schule noch eine Vier - nun steht in der Tabelle neben ihrem Namen eine Sieben. Anders als man vielleicht annehmen könnte, frustriert dieser Fakt Schulleiterin Vera Glunz überhaupt nicht: „Wir sind jetzt endlich gerecht eingeordnet.“ Das Kollegium freue sich über die Note, denn die Vier sei nie zutreffend gewesen. Der Unterschied zu früher habe etwas mit Veränderungen beim Einzugsgebiet zu tun, erklärt sie. „Es ist jedenfalls nicht so, dass plötzlich viel mehr Menschen aus schwierigen Situationen unsere Schule besuchen.“ Die neue „realistischere“ Bewertung habe hoffentlich positive Folgen: „Wir würden uns freuen, wenn sie Berücksichtigung findet bei Stellen und Geldern.“
Ähnlich argumentiert Simone Müller-Dausel von der benachbarten Styrumer Grundschule, für die der Index nun eine Neun aufweist - genauso übrigens wie für die Grundschule an der Zunftmeisterstraße, die Realschule Stadtmitte und die Schule am Hexbachtal. „Wir hatten früher eine Sieben, das fand ich nicht passend.“ Die Bedingungen vor Ort seien besondere: „Wir haben zum Teil furchtbar arme Jungen und Mädchen und einen hohen Anteil von Kindern mit internationaler Familiengeschichte.“ Viele Schüler und Schülerinnen hätten Entwicklungsverzögerungen, die meisten bräuchten für die eigentlich auf zwei Jahre konzipierte Schuleingangsphase drei. Wer mit derart schwierigen Voraussetzungen ins Schulleben starte, brauche deutlich mehr Unterstützung als andere, so die Schulchefin. „Dafür gibt es an den entscheidenden Stellen auch ein Bewusstsein: Man weist uns ausreichend Stellen zu.“ Trotzdem sei man unterbesetzt: „Es bewirbt sich ja keiner.“
Realschulleiterin Sabine Dilbat hofft auf neue Stellen - oder andere Förderung ihrer Schüler
Auch Sabine Dilbat, die Leiterin der von Fünf auf Neun abgestürzten Realschule Stadtmitte, weiß: „Es ist kein Personal auf dem Markt.“ Doch es gebe ja auch andere Fördermöglichkeiten, „darüber müssen wir jetzt mit den entsprechenden Stellen sprechen“. Auch wenn die aktualisierte Bewertung sie zunächst „schockiert“ habe, im Endeffekt sei sie stimmig: „Wir stehen an dieser Schule einfach vor riesigen Herausforderungen. Und können mit dieser neuen Einordnung nun hoffentlich besser arbeiten.“
2020 galt die von Ute Gibbels geleitete Karl-Ziegler-Schule noch als klare Zwei, nun weist die Liste mit einem Mal eine Vier aus. Die Rahmenbedingungen also werden als schwieriger eingeschätzt als jene an den anderen Gymnasien, die bei Zwei oder Drei gelandet sind. „Wir sind jetzt sehr ehrlich abgebildet“, sagt Gibbels dazu. Man bleibe „entspannt“, fürchte nicht, dass der Index missverstanden wird. „Es geht nicht um schlechte pädagogische Arbeit“, es gehe um die Realität vor Ort. In der Vergangenheit habe sich sogar oft gezeigt, dass von Schulen mit größerer Belastung positive Impulse für die pädagogische Arbeit andernorts ausgehen: „Das sieht man ja auch an der Grundschule am Dichterviertel, die für ihre Ideen den Deutschen Schulpreis gewonnen hat.“ Solche Einrichtungen seien oft „einfach früher da, wo andere noch hinkommen“.
Laut Schulchef Andreas Illigen zeigt sich Mülheim mittlerweile als typische Ruhrgebietsstadt
Laut Andreas Illigen, Chef der Schildbergschule und Sprecher der Mülheimer Schulleiter, zeigt der aktuelle Index, dass sich Mülheim mittlerweile eingereiht hat in typische Ruhrgebietsstädte wie Oberhausen oder Bottrop und dass der Förderbedarf höher ist als bis dato oft angenommen. Die Berechnung zeige die Probleme genau auf, „es wurde nachgeschärft“. Seine Schule hat nun eine Drei anstelle einer Zwei. Für die generelle Auswertung seien drei Faktoren entscheidend gewesen: die Anzahl der Kinder mit Förderbedarf in puncto Inklusion, die Anzahl der Kinder mit Migrationshintergrund und das soziale Gefüge im Einzugsgebiet der jeweiligen Schule. Auf den korrigierten Index müsse nun rasch und spürbar reagiert werden: „Die Zahlen sind so deutlich nach oben gegangen, das muss Konsequenzen für die Versorgung mit Lehrkräften haben.“
Genau wie Kollege Ekkehard Witthoff, der die von Zwei auf Vier abgerutschte Realschule Broich leitet, weiß Illigen aber: Lehrer und Lehrerinnen sind Mangelware. „Das Problem ist erfasst, aber noch lange nicht gelöst“, sagt Witthoff. Er hält die Bedarfsanalyse trotzdem für sinnvoll und hofft darauf, „dass nun Bedingungen geschaffen werden, die es sozial schwächeren Schülern ermöglichen, in kleineren Gruppen zu lernen“.
„Es wird neue Stellen geben“, verspricht Schulamtsdirektorin Heike Freitag
Welche konkreten Folgen das „wenig überraschende“ Zahlenwerk für Mülheim haben wird, ist indes noch unklar, sagt Schulamtsdirektorin Heike Freitag. Da die Armut wachse, immer mehr Familien Unterstützung bräuchten, habe sie das Ergebnis vorhergesehen. Und sei sich auch sicher: „Es wird neue Stellen geben.“ Wie die Verteilung aussehen wird, wisse sie allerdings noch nicht. Darüber entscheide das Land. Und es sei zu bedenken: „Mülheim ist im Vergleich zu anderen Städten sehr gut besetzt.“ So erhalte man im Moment - wenn überhaupt - auch nur Lehrkräfte, „die direkt wieder in weniger gut besetzte Städte abgeordnet werden“. Zum 1. Mai beispielsweise seien zwei zusätzliche Kräfte eingestellt worden. „Die arbeiten aber erstmal für zwei Jahre woanders.“
Für Freitag ist der Index eine gute Sache: „Er trägt zu Gerechtigkeit bei.“ Auch sie setzt darauf, dass niemand die Sache mit den Noten missversteht: „Es geht nicht um Stigmatisierung.“ Brita Russack vom städtischen Bildungsbüro weist darauf hin, dass bei der Erstellung des Index nicht nur veränderte soziale Bedingungen eine Rolle gespielt haben: „Es gab auch eine methodische Anpassung.“ Die meisten Schulen fühlten sich nun besser abgebildet. Russack, die ständig mit ihnen in Kontakt steht, schaut mit Zuversicht auf Mülheims Schullandschaft: „Wir haben hier richtig gute Teams, die die Herausforderungen annehmen. Auch an Standorten, die nicht einfach sind, entwickeln sie tolle Konzepte und gehen die Extrameile, weil sie ihre Aufgabe als sinnstiftend und befriedigend erleben. Und weil sie immer wieder spüren: Die Kinder brauchen uns.“
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