Mülheim. Die Schule am Mülheimer Dichterviertel macht so ziemlich alles anders. Für das ungewöhnliche Konzept gab es nun eine renommierte Auszeichnung.
Es liest sich wie ein Helden-Epos, das nun seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat: Vor zehn Jahren war die Grundschule am Dichterviertel von der Schließung bedroht. Das Neubauvorhaben war geplatzt, seit drei Jahren gab es keine Schulleitung mehr. Die Lernstandkontrolle lieferte ein niederschmetterndes Ergebnis: 98 Prozent der Schülerinnen und Schüler erreichten gerade einmal die niedrigste Kompetenzstufe. „Ich habe eine Schule übernommen, die kurz vor dem Sterben stand, um die Eltern einen Bogen gemacht haben“, erinnert sich Nicola Küppers.
Heute ist die Grundschule am Dichterviertel mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet worden, dem anspruchsvollsten und renommiertesten Preis des Landes, vergeben von der Robert Bosch Stiftung und der Heidehof Stiftung. Seine Bedeutung erkennt man unter anderem daran, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den mit 100.000 Euro dotierten Hauptpreis verlieh. Der ging zwar nach Erlangen an die Eichendorffschule, eine so genannte Mittelschule. Aber das sollte die Freude in Mülheim nicht schmälern. Sie hat sich gegenüber 84 weiteren Teilnehmern durchgesetzt und wird (wie vier weitere Finalisten) mit 30.000 Euro bedacht. „Unglaublich viel Geld“, wie Schulleiterin Nicola Küppers in einem emotionalen Statement während der Preisverleihung in Berlin sagte. Ein paar Tränen durften fließen, später sagt sie im Gespräch mit unserer Redaktion: „Natürlich wusste ich damals nicht, ob das Experiment gelingt. Aber ja, es geht. Man kann Bildungsgerechtigkeit herstellen.“
Mülheimer machen Bildung gerecht
Einen „unglaublichen Entwicklungsschub“ attestiert Jurymitglied Thomas Häcker der Mülheimer Schule. „Das Kollegium hat es schrittweise durch viele Maßnahmen geschafft, dass sich die Kinder inzwischen nicht nur leicht über dem Landesschnitt bewegen, sondern dass die Schule auch zu einer Modellschule für Hochbegabung und Inklusion geworden ist“, lobt er.
Was klingt wie im Märchen, ist Ergebnis eines komplett neuen Lernsystems unter Schulleiterin Nicola Küppers, die die Lernerfolge ihrer Schützlinge nicht nur persönlich nimmt, sondern mit System angeht. Das Kollegium hat in den vergangenen Jahren Lehrpläne in Kompetenzraster übersetzt, um daraus individuelle Lernpläne für die Kinder zu entwickeln. Durch permanente Lernzielkontrollen wissen die Lehrer genau, was ein Kind bereits kann und ob es sich in einem Normtempo die Inhalte erarbeitet, ob es schneller oder langsamer ist. Durch jahrgangsübergreifenden Unterricht können die Schülerinnen und Schüler in ihrem eigenen Tempo lernen.
Mülheimer Schüler wäre woanders ausgebremst worden
„Wir haben während unseres Schulbesuches einen Jungen kennengelernt, der zu diesem Zeitpunkt im ersten Jahrgang war. Mit seiner Lernentwicklung in Deutsch bewegte er sich im oberen Bereich der Norm. Doch in Mathematik ging er sozusagen senkrecht durch die Decke. Er beschäftigte sich mit Aufgaben, die Schüler bearbeiten, die schon drei Jahre an der Schule sind. Dieser Schüler würde an einer Schule, in der alle im Gleichschritt laufen müssen, permanent ausgebremst werden. Hier aber kann er sein Potenzial entfalten“, lobt Jurymitglied Häcker. Auch Arbeiten werden nicht mehr gleichzeitig geschrieben, sondern dem individuellen Lernstand entsprechend. Noten gibt es erst in Klasse vier.
Eine andere Sache, die die Mülheimer Schule aus Sicht der Experten besser macht als alle anderen: Der Austausch im Team ist intensiver. Jede Woche bereitet das Kollegium gemeinsam Unterrichtssequenzen vor und bespricht den Lernstand der Kinder. Teamgeist war auch am Tag der Verleihung spürbar. 40 Kinder, Eltern und Lehrkräfte waren gemeinsam nach Berlin gefahren, während gleichzeitig in Mülheim Lehrer und Familien in der Schule zum Public Viewing zusammenkamen - trotz Ferien. „Wir sind eine Einheit“, sagt die Schulleiterin, die die mitgereisten Kinder nach der Verleihung erst einmal auf den Spielplatz schickte, um die aufgestaute Energie loszuwerden.
Bleibt die Frage: Gibt es schon Ideen für das Preisgeld? Schulleiterin Nicola Küppers holt wie immer die Kinder mit ins Boot. Über einen Teil des Geldes sollen sie im Schülerparlament mitbestimmen. Außerdem möchte sie zeitnah ins Schuhgeschäft und eine Ladung waschbarer Gummi-Schlappen in allen Größen einkaufen. „Damit endlich alle Kinder Pantoffeln in der Schule haben.“
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