Mülheim. Amrei Debatin ist OB-Kandidatin der FDP. Im Wahl-Interview schwört sie Mülheim darauf ein, auch mal groß denken zu müssen. Was sie damit meint...
Mit Rechtsanwältin Amrei Debatin geht die FDP in die OB-Wahl am 13. September. Wir trafen die OB-Kandidatin, die aus New York ins Ruhrgebiet zurückgekehrt ist, zum großen Wahl-Interview.
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Frau Debatin, in Mülheim sind Sie ein noch unbeschriebenes politisches Blatt. Sagen Sie mal in drei Sätzen, was Mülheim von Ihnen als OB erwarten könnte!
Debatin: Kurz und knapp: Einen neuen Blick von außen und frische Ideen für Mülheim. Seit zwei Jahren sind meine Familie und ich Wahl-Mülheimer und ich erlebe eine wunderbare und liebenswerte Stadt, die allerdings weit unter ihren Möglichkeiten bleibt. Ich als Oberbürgermeisterin werde Mülheim mit mehr Selbstbewusstsein ausstatten, für neue Mobilität sorgen und die Stadt wirtschaftlich nach vorne bringen.
In Ihrem Programm fordert die FDP die schlanke Stadt. Die Digitalisierung soll helfen, Personalkosten einzusparen und gleichzeitig mehr Service für Bürger und Wirtschaft zu bringen. Sie fordern ein One-in-Two-Prinzip. Was können sich Bürger darunter vorstellen?
Eigentlich ganz einfach: Bürger sind Kunden der Gemeinde. Aufgrund der Digitalisierung werden dort Anliegen nicht nur wesentlich schneller bearbeitet. Auch dass man mit mehreren Anliegen zu einem Menschen in der Verwaltung gehen und dieser meine Themen abarbeiten kann, weil er digital Zugriff auf alle Möglichkeiten einer modernen Stadt hat.
Wie viel Geld wollen Sie im Personalhaushalt einsparen?
Das kann ich Ihnen noch nicht sagen, da stecke ich noch nicht so stark drin. Wenn ich OB werde, werde ich mich auch nicht als alleiniger Anwalt eines FDP-Wahlprogramms verstehen. So geht ja Politik auch nicht. Man muss immer auch schauen, wie man Mehrheiten im Rat orchestriert und gemeinsam organisiert. Ich glaube, dass die Stadtverwaltung insgesamt keine schlechte Arbeit leistet. Jetzt hinzugehen und pauschal zu sagen, wir müssen Leute rauswerfen, das ist nicht meine persönliche Art und auch keine Lösung. Man muss erst einmal gucken, wo man vielleicht schlanker und konsequenter werden kann.
Die Gutachten der Gemeindeprüfungsanstalt haben in Vergleichen mit anderen Städten deutlich aufgezeigt, dass Mülheim mit deutlich mehr Personal unterwegs ist. Darauf beruft sich die FDP ja wahrscheinlich auch, wenn sie in ihrem Programm davon spricht, Personal einsparen zu wollen.
Ich glaube schon, dass Mülheim hier ganz viele Möglichkeiten hat. Auch beim öffentlichen Nahverkehr geben wir ja deutlich mehr aus als in vergleichbar großen Städten. So ist es eben in der Verwaltung auch. Ich glaube schon, dass da ordentlich Potenzial versteckt liegt, welches es zu heben gilt. Nichtsdestotrotz bleibt immer die Frage: Was machen die Mitarbeiter sinnvoll? Ich könnte mir vorstellen, dass man einzelnen Mitarbeitenden andere Aufgabenfelder zuteilt oder dass sie sich neue Bereiche erschließen. Ich will noch mal betonen: Zu sagen, ich werfe erst mal Leute raus, löst keine Probleme für Mülheim.
Zur Person: Amrei Debatin
Dr. Amrei Debatin (58) stammt gebürtig aus Duisburg. Sie hat auch in Essen, Hamburg und New York gelebt, bevor sie 2018 in Holthausen heimisch geworden ist. Debatin ist verheiratet und hat vier Söhne, der jüngste ist 17.
Als Studentin war Debatin aktiv beim Ring Christdemokratischer Studenten, im Sommer 2009 ist sie im Protest gegen die schwarz-grüne Schulpolitik in Hamburg in die FDP eingetreten. Debatin organisierte in Hamburg den Bürgerentscheid gegen die Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre mit.
Die auf Wirtschaftsrecht spezialisierte Anwältin hat sowohl in Hamburg als auch aktuell in Nordrhein-Westfalen als Referentin in einem Untersuchungsausschuss zu Kindermissbrauch mitgewirkt.
Die OB-Kandidatin der FDP hat eine eigene Homepage (amrei-debatin.de) und ist präsent bei Facebook (https://www.facebook.com/amrei.debatin.9).
Die FDP fordert die Einführung eines Digitalausschusses im Stadtrat. Man könnte auch meinen, der 2014 ins Leben gerufene Wirtschaftsausschuss sei ein Kernbetätigungsfeld der Liberalen. Doch am Ende der Legislaturperiode zähle ich gerade einmal fünf FDP-Anträge für diesen Ausschuss. Wie wollen Sie Ihre Partei aus dieser Lethargie erwecken?
Die Freien Demokraten haben mir für die OB-Kandidatur ihr Vertrauen geschenkt. Ich fahre zwar jetzt mit einem FDP-Ticket. Letzten Endes muss ein OB aber kein Parteiprogramm, sondern das umsetzen, was die Bürger ihm/ihr aufgeben. Die Zeiten haben sich geändert. Mit drei Vertretern im Stadtrat ist aber die Ausgangslage nicht wirklich einfach. Eigene Anträge, so sie denn nicht im Konsens mit anderen Parteien stehen, finden nicht viel Gehör. Insofern gehe ich davon aus, dass die Stadträte der FDP immer darauf gesetzt haben, einen Konsens bei Anträgen anderer Fraktionen herzustellen. Mit dem Digitalausschuss wollen wir die Digitalisierung in der Verwaltung und in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens voranbringen. Corona hat uns ja alle gelehrt: Digitalisierung erleichtert das Leben ungemein und es ist viel mehr möglich, als wir uns vorgestellt haben.
Zurück zum Sparen, mitten rein ins Dilemma: Mülheim hat 2,1 Milliarden Euro Schulden. Politische Mitbewerber rufen nach einer Altschuldenlösung, weil die Stadt am Ende ihrer Sparmöglichkeiten angelangt sei. Wie ist Ihre Haltung?
Ich glaube nicht, dass die Stadt am Ende ihrer Sparmöglichkeiten angelangt ist. In Anbetracht von zwei Milliarden Euro Schulden ist natürlich das, was die Stadt sparen kann, ziemlich überschaubar. Eine Entschuldung durch Land oder Bund kann durchaus diskutiert werden. Aber Mülheim muss sich anders aufstellen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir nach einer Entschuldung so wirtschaften, dass wir nicht wieder so ein großes Loch in unseren Haushalt reißen.
Wo kann die Stadt wirtschaftlicher werden?
Wir müssen Mülheim endlich wieder als Wirtschaftsstandort attraktiv machen und Gewerbe von außen ziehen, damit Arbeitsplätze schaffen, Kaufkraft stärken, Gewerbesteuern einnehmen. Ausgeben fängt mit Einnehmen an! So kann man viel mehr für unsere Stadt gewinnen, als wenn wir jetzt anfangen zu sagen, wir sparen bei der Stadtverwaltung drei Millionen oder beim ÖPNV zwei Millionen. Warum denken wir nicht einfach groß und mal anders und sagen zum Beispiel, wir wollen in sechs Jahren am Flughafen den Drohnen-Hub für das ganze Ruhrgebiet haben?
Bürgerinitiativen rennen Sturm gegen die Pläne, in ihrer grünen Nachbarschaft neuen Platz zu schaffen für Gewerbeansiedlungen. Was sagen Sie denen?
Das sind natürlich berechtigte Anliegen. Die werde ich auf keinen Fall vom Tisch wischen. Wir brauchen unsere Grünflächen und Frischluftschneisen. Aber es ist auch wichtig, dass wir Arbeitsplätze schaffen und Gewerbesteuereinnahmen haben. Was nützen uns grüne Wiesen, wenn die Menschen auf der anderen Seite arbeitslos sind? Wir müssen genau schauen, wo wir Gewerbe ansiedeln können. Es gibt sicherlich Flächen an Mülheims Rändern, die man sinnvoll nutzen kann. Die wichtigen Anliegen vieler Bürgerinitiativen sind für unsere Stadt wichtig. Doch nur wenn wir Geld einnehmen, hat die Stadt Handlungsspielräume.
Fulerumer Feld?
Ich weiß nicht, ob das unbedingt sein muss.
Winkhauser Tal?
Zu einzelnen Flächen kann ich jetzt nicht Stellung nehmen. Man wird die Bewertungen für alle Flächen im Einzelnen prüfen müssen. Fakt bleibt: Wir brauchen mehr Gewerbeflächen. Aber man sollte erst einmal dem Ratsbeschluss folgen und zunächst einmal Brachflächen und vorhandene Gewerbeflächen ertüchtigen.
Aber auch an der Nahverkehrsdebatte hat sich die FDP in den vergangenen Jahren erst gar nicht mehr groß beteiligt. Wie sieht Ihr Nahverkehr der Zukunft aus, der gleichzeitig auch nicht so viel Defizit einfährt wie aktuell?
Auch da ist immer so ein Kleinklein in der Diskussion. Wir müssen völlig neu denken. Die Menschen wollen nicht mehr in einer Riesen-Straßenbahn fahren. Die brauchen wir vielleicht nur morgens zu Stoßzeiten. Wir müssen Mobilität viel individualisierter denken. In Monheim und beispielsweise Hamburg gibt es etwa zurzeit sehr vielversprechende Versuche, mit elektrischen, selbst fahrenden Kleinbussen bestimmte Linien in einem engen Takt abzufahren. So was stelle ich mir auch für Mülheim vor. Dann fährt man eine Strecke mit dem selbst fahrenden Kleinbus und den Rest mit dem Fahrrad. Wir müssen aber auch an Senioren denken, behinderte Menschen oder an Familien mit kleinen Kindern, die nicht Fahrrad fahren können. Deswegen muss der ÖPNV so sein, dass es für jeden ein Angebot gibt, barrierefrei.
Also einmal den großen Radierer über Mülheims Liniennetz bewegen und neu planen?
Ich würde schon das, was wir haben, versuchen zu erhalten. Aber ich würde sehr genau nachrechnen, ob wir mehrere Straßenbahnspuren brauchen oder man es nicht auf eine Spur reduzieren kann. Oder müssen wir tatsächlich den ganzen Tag lang mit langen Straßenbahnen fahren, obwohl sie nur morgens voll sind? Wenn ich an der Zeppelinstraße bin, fährt die Straßenbahn regelmäßig nur mit drei Personen. Das ist ein Trauerspiel.
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Überraschend fordert die FDP nicht die Umstellung auf reinen Busverkehr, sondern lediglich die Übergabe der Schieneninfrastruktur von der Ruhrbahn zur Stadt. Was soll das bringen außer Ergebniskosmetik bei der Ruhrbahn?
Ich glaube schon, dass es was bringt, weil die Stadt dann alleine die Hoheit über das Schienennetz hat und viel besser selbst entscheiden kann, wo sie mit dem Netz hin will.
Also am Ende doch die Stilllegung heute unwirtschaftlicher Strecken.
Die erste Frage ist, warum sie unwirtschaftlich sind. Vielleicht ließe es sich ja wirtschaftlich gestalten. Aber es geht ja damit los, dass wir nicht einmal eine vernünftige Fahrgastzählung haben. Da gibt es so viel, was neu aufgestellt werden muss. Wir müssen das Bestehende unter die Lupe nehmen und unsere Mobilität neu denken. Da muss Mülheim mal über den Tellerrand schauen, was anderswo schon versucht wird. Da passt es überhaupt nicht, dass die Ruhrbahn jetzt 80 Dieselbusse angeschafft hat – und das ganz Neue daran sind die Außenspiegel und Sensoren für das Linksabbiegen. Übrigens ohnehin eine gesetzliche Vorgabe. Das kann ich doch heutzutage nicht mehr so machen. Ich kann auch nicht eine ökologisch saubere Straßenbahn durch einen Dieselbus ersetzen. Da denken mir die Planer viel zu klein, an den Bedürfnissen der Menschen vorbei und auch nicht im Sinne der Umwelt.
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„Wo es die Haushaltssituation zulässt, wollen wir Entlastungen auf den Weg bringen“, fordert die FDP in ihrem Programm unter anderem, die Grundsteuer wieder abzusenken. Ist das nicht realitätsfern, zumal Corona der Stadt noch gewaltige Zusatzbelastungen beschert hat? Wie soll die Gegenfinanzierung aussehen?
Es steht ja nur drin, wenn es Spielraum für Entlastung gibt. Aber: Je höher die Steuerlast ist, umso mehr schreckt dies die Menschen ab, sich hier anzusiedeln. Aber je mehr sich in Mülheim ansiedeln, umso mehr nimmt die Stadt auch bei einer geringeren Steuerbelastung ein.
Sehen Sie eine realistische Chance, die Grundsteuer innerhalb der nächsten fünf Jahre wieder zu senken?
Ja. Dafür muss nur der Wille da sein bei der Stadt, sich anders aufzustellen. Wir werden die Stadt nicht von jetzt auf gleich entschulden können. Es würde sich auch lohnen, eine gewisse Schuldenlast vor sich her zu tragen, um sinnvolle Investitionen zu machen, die helfen, die Bürger wieder zu entlasten. Vielleicht für den ÖPNV oder die Anbindung Mülheims an ein Flugtaxi-Netz. Mülheim muss als Start-Up-Standort attraktiv werden, zum Beispiel durch eine intensive Zusammenarbeit mit der Hochschule Ruhr West. Wir könnten einfach mal was ganz anderes machen, um Mülheim attraktiv zu machen für Menschen und Unternehmen von außen, die Steuern und Arbeitsplätze in die Stadt bringen.
Durch die Finanzaufsicht sind Mülheims jährliche Investitionen auf 15 Millionen gedeckelt. Also würden Sie die Schulsanierungen hintanstellen?
Nein, auf gar keinen Fall. Ich habe selber vier Kinder und weiß, wie wichtig gute Schulen sind. Man muss mal die Schulleiter zusammentrommeln und fragen, was genau passieren muss. Sicherlich kann man vieles in Eigenregie in den Griff bekommen. Da müssen wir dann auch Eigeninitiative fördern.
Nehmen wir mal die Gesamtschule Saarn. Da kann ja nicht die Schulleiterin hingehen und sagen: Diese millionenschwere Sanierung stemmen wir mal eben selbst.
Nein. Aber die Stadt muss ja nicht alles alleine tragen. Größere Baustellen müssen wir zusammen mit dem Land angehen.
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Sie haben die Wahl: Was ist Ihr Schwerpunktthema, mit dem Sie im Wahlkampf punkten wollen?
Wirtschaft fördern, Mobilität neu denken und Bildung modernisieren. Kurz gesagt: Mülheim zukunftssicher machen. Dazu gehört, auf moderne Technologien zu setzen und junge Start-Ups für Mülheim zu gewinnen. Auch in Hinblick auf die Zusammenarbeitet mit unserer Hochschule und den Max-Planck-Instituten liegen noch viele Synergien brach. Ziel ist es, mit der Wirtschaftsförderung Handlungsspielräume für die Stadt zu erarbeiten und Arbeitsplätze zu schaffen.
Diskutabel klingen Ihre Vorstellungen zur Belebung der Innenstadt: Masterplan Ruhrquartier, Mietzuschüsse für neue inhabergeführte Läden, mehr Freizeit und Kultur. Was genau wollen Sie anstoßen?
Wir wollen Anreize setzen, damit sich wieder inhabergeführte Läden ansiedeln und wir nicht zugepflastert werden mit Filialketten und Ein-Euro-Läden. Ich glaube, Mülheims Innenstadt ist besser, als viele denken. Aber einige Mülheimer gehen nicht mehr in die Innenstadt, allenfalls zu Ruhrbania. Ein paar Leuchtturmprojekte müssen helfen, die Innenstadt für Bürger attraktiver zu machen.
Was schwebt Ihnen beim Masterplan Ruhrquartier vor?
So wie wir Ruhrbania entwickelt haben, müssen wir auch andere Bereiche entwickeln. Angefangen vom Areal der Hauptpost bis hin zum Grundstück, auf dem das Gesundheitsamt steht.
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Die Entwicklung der Ruhrbania-Felder 3 und 4 hängt ja schon lange in der Luft, weil der Kämmerer für die Gebäude noch einige Millionen Wert in den Büchern stehen hat und dort kostenfrei jede Menge Verwaltungsmitarbeiter unterbringen kann.
Es stört mich, wenn der Kämmerer so denkt. Dann passiert gar nichts. Da muss man einfach mal kreativ sein. Da könnte viel mehr Geld drinstecken, wenn man es gemeinsam mit Investoren löst. Angefangen von Ärztehäusern gibt es in unserem Leben viele Bereiche, vor allem im Gesundheitsbereich, wo wir gerne eine Innenstadt-Anbindung hätten. Da fehlt ein Oberbürgermeister oder eine Oberbürgermeisterin, die es dann auch schafft, ein gutes Projekt zu entwickeln und die Ratsmitglieder und, noch viel wichtiger, die Bürger dafür zu begeistern.
Die FDP nennt sich die Flughafen-Partei, weil sie immer für eine Zukunft des Flugbetriebs plädiert hat. Wie sehr sehen Sie die Chancen dafür gestiegen?
Sehr. Ich glaube, dass der Flughafen ein unglaubliches Plus für Mülheim ist. Wir würden einen sehr großen Fehler machen, wenn wir den Flughafenbetrieb einstellen würden. Und der Flughafen ist übrigens mehr als Flugbetrieb.