Herne. Vor 65 Jahren eröffnete die Stadt Herne in Hammelbach ein Kinderkurheim. Tausende Herner fuhren hin – und machten gute und schlechte Erfahrungen.

„Hammelbach“, dieses Wort löst bei vielen Hernern Erinnerungen aus – gute wie schlechte. In dem Örtchen Hammelbach, gelegen im idyllischen Odenwald, stand ein Kinderkurheim der Stadt Herne. Tausende Kinder wurden dorthin geschickt, um an Gewicht zuzulegen, Kraft zu tanken und fit zu werden. Vor 65 Jahren wurde das Erholungsheim eröffnet.

Die Wahl für das neue Kinderkurheim der Stadt Herne fiel auf ein 27.000 Quadratmeter großes Grundstück in 500 Metern Höhe außerhalb der 1000-Seelen-Gemeinde Hammelbach in Südhessen. Dort im Odenwald, so schrieb die Herner Zeitung am Eröffnungstag im Januar 1956, gebe es „Klimareiz“ und „echte Luftveränderung“. Beides hätten die „Industriekinder“ aus Herne dringend nötig: Sie hätten Gesundheitsschäden, hervorgerufen „durch die Hast der Zeit und die Unrast verschiedener Umwelteinflüsse“. In dem Heim, so die Herner Rundschau am selben Tag, soll es zuallererst „Gewichtszunahmen geben“. Wichtig sei aber auch, „daß die Kinder seelisch gesunden“.

Herne: Sieben Kuren über sechs Wochen pro Jahr führte die Stadt durch

Ein Blick ins Gebäude: ein „Kleinod in dem Schatzkästlein aller städtischen Bauten“, hieß es in der Herner Zeitung.
Ein Blick ins Gebäude: ein „Kleinod in dem Schatzkästlein aller städtischen Bauten“, hieß es in der Herner Zeitung. © Bildarchiv der Stadt Herne

„Großartig“ sei die Einrichtung an der Herner Allee geworden, so die Rundschau weiter. Das „herrliche Heim an einem Waldhang mit Südlage sei „sinnvoll im Grundriß angeordnet, architektonisch besser, als chronische Pessimisten es sich je denken konnten, und bei allem ohne Kosten über das Notwendige hinaus“. Apropos Kosten: Immerhin 1,3 Millionen Mark investierte Herne in das städtische Heim, viel Geld schon für damalige Verhältnisse. Hinzu kamen jährliche Zuschüsse im sechsstelligen Bereich. Dafür, so die Herner Zeitung, könne das Gebäude aber einmal „getrost als das Kleinod in dem Schatzkästlein aller städtischen Bauten betrachtet werden“. Und überhaupt: Das Haus diene „in seiner Zweckbestimmung ausschließlich der Gesunderhaltung unserer Herner Jugend“. „Und dafür“, so hieß es weiter, „sollten uns die 1,3 Millionen DM nicht zu schade sein.“

Sieben Kuren über meist sechs Wochen pro Jahr führte die Stadt für die Herner Kinder im rund 350 Kilometer entfernten Hammelbach durch. Jeweils rund 80 Mädchen und Jungen zwischen sechs und 14 Jahren nahmen daran teil. Aufgeteilt waren sie in vier Gruppen, die jeweils fünf Schlafzimmer zur Verfügung hatten. Jede Gruppe habe ihre „Mutti“, beschrieb es die Herner Rundschau. Und: „Für das Wohl der Kinder wirken 16 Köpfe Personal einschließlich der Kindergärtnerinnen und der Krankenschwester.“

Teilnehmer machten gute und schlechte Erfahrungen

„Der Jugend unserer Industriestadt soll es Freude und Erholung bringen“, sagte Oberbürgermeister Robert Brauner am Eröffnungstag, der mit einer städtischen Delegation in den Odenwald gereist war. Diese Hoffnung erfüllte sich in den folgenden Jahren nicht bei allen. Der Herner Journalist und Autor Friedhelm Wessel hat nur gute Erinnerungen. Zweimal, in den späten 1950er Jahren, sei er als 12- und 14-Jähriger in Hammelbach gewesen, einmal im Sommer, einmal im Winter. „Ich habe viel Spaß gehabt“, erzählt der 76-Jährige der WAZ. Zwar sei der Tagesablauf streng durchstrukturiert gewesen, etwa mit sonntäglichem Kirchenbesuch. Die vielen Wanderungen seien aber schön gewesen, und Freizeit habe es genug gegeben: „Draußen haben wir natürlich Blödsinn gemacht.“ Zu einigen Mitfahrern habe er noch heute Kontakt.

Generationen von Herner Kindern wurden nach Hammelbach geschickt, hier ein Bild aus dem Sommer 1956.  
Generationen von Herner Kindern wurden nach Hammelbach geschickt, hier ein Bild aus dem Sommer 1956.   © Bildarchiv der Stadt Herne

Jörg Wilms (51) und Ute Zielberg (62) haben dagegen schlechte Erfahrungen gemacht. Beide seien zu dünn gewesen und deshalb mit sechs beziehungsweise acht Jahren vom Gesundheitsamt nach Hammelbach geschickt worden – alleine mit dem Zug. Der Aufenthalt, sagen beide zur WAZ, sei traumatisch gewesen. Großes Heimweh habe sie geplagt, immer wieder seien Tränen geflossen. Gekümmert habe sich niemand. Am schlimmsten seien die Mahlzeiten gewesen: „Wir mussten alles essen, ob man wollte oder nicht“, so Wilms. Das habe manchmal Stunden gedauert, Erbarmen hätten die Kindergärtnerinnen nicht gezeigt, sagt Zielberg. Im Gegenteil: Den Willen der Kinder brechen, das sei die Erziehungsmethode gewesen. Jahrelang hätten diese Erfahrungen sie begleitet, sagen beide, noch heute kochten sie gelegentlich hoch. Jörg Wilms macht niemandem Vorwürfe: „Das war eine andere Zeit, die Erziehungsmethoden waren anders“, sagt der Industriemeister.

Gut 20 Jahre nach der Eröffnung war Schluss. Hernes Kinder waren nicht mehr unterernährt, und die Eltern konnten sich eigene Reisen leisten, mit der ganzen Familie. Die Stadt gab das Kurheim auf und vermietete das Haus 1977 für 20 Jahre an den Evangelischen Kirchenkreis Herne. Der renovierte das Gebäude, schuf 66 Doppelzimmer und machte eine Freizeitstätte draus. Vergebens: Die Menschen strömten nicht nach Hammelbach. Schon 1986 bat der Kirchenkreis die Stadt um Aufhebung des Mietvertrags, erst 1996 kam es dazu.

Gebäude ist heute nur noch wie ein Rohbau

So sieht das „Haus Herne“ heute aus. Das Grundstück mit dem Gebäude wurde gerade wieder verkauft.
So sieht das „Haus Herne“ heute aus. Das Grundstück mit dem Gebäude wurde gerade wieder verkauft. © Marco Schilling

Über Jahre versuchte die Stadt, das Grundstück mit dem Heim loszuwerden, haben wollte es niemand. Erst recht nicht für 3 Millionen Euro, die Herne zunächst forderte. 2007 wurde das Objekt dann für 1,4 Mio Euro im Internet angeboten, verkauft wurde es aber erst 2012 – für nur 500.00 Euro an einen Schmuckhändler, der dort eine Bildungseinrichtung unter anderem für Jagdkunde plante. Da war die Stadt ihren „Klotz am Bein“ endlich los.

Und heute? Das vermeintliche „Kleinod in dem Schatzkästlein aller städtischen Bauten“ steht weiterhin auf den Wiesen, unansehnlich und ungenutzt. „Es ist quasi ein Rohbau“, sagt Markus Röth, Bürgermeister von Grasellenbach, der übergeordneten Gemeinde. Ein „weißer Ritter“ sei noch nicht aufgetaucht, der das Gebäude Instand setze, sagt er zur WAZ. Immerhin: Das Dach sei noch in Ordnung.

Im Dezember nun habe das Grundstück wieder den Besitzer gewechselt. Was der neue vorhabe, wisse er nicht, sagt der Bürgermeister. Die Gemeinde hätte das Areal gerne selber übernommen, habe den Zuschlag aber nicht bekommen. Das Grundstück sei „super schön“, Baurecht gebe es aber etwa für Einfamilienhäuser nicht. Der Investor könne nur das bestehende Gebäude nutzen, auch der Umbau in Wohnungen sei denkbar. Offenbar, so Röth, wolle der neue Besitzer eine Schafswiese aus seinem Land machen.

Das Gebäude könnte dann weiter verfallen. Die Hammelbacher, so der Bürgermeister, wären darüber zwar nicht glücklich, aber hätten sich an den Zustand längst gewöhnt. Und die Herner Allee? Die soll ihren Namen behalten: Die sei ja „ein wesentlicher Bestandteil“ des Ortes.

Die weiteren Teile der WAZ-Serie „Herne historisch“