Gladbeck. Mit den Nachrichten aus der Ukraine kommen Bilder und Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg wieder hoch. Drei Gladbeckerinnen erinnern sich.

Wenn sie die Augen schließen, sind sie da: die Bilder vom Krieg. Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, hat sich kaum vorstellen können, noch einmal so nah mit Tod und Zerstörung konfrontiert zu werden. Doch mit der aktuellen Situation in der Ukraine kommen die Bilder von einst zurück. Drei Seniorinnen aus Gladbeck erinnern sich und sprechen aus, was sie bis dato nie erzählt haben.

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Von Katrin Walger-Stolle und Thomas Schönert

Der ohrenbetäubende Lärm, wenn in der Nähe Bomben einschlagen; der Anblick der Menschen, die in Kellern Sicherheit suchen; das nagende Gefühl von Hunger; das Hämmern des Herzens, wenn die Angst um die Liebsten und das eigene Leben einem die Kehle zuschnürt. Das alles haben Antonie Masuhr (95), Irene Holz (90) und Erika Knod (88) am eigenen Leib erfahren.

Seniorin aus Gladbeck: „Die Leute in der Ukraine tun mir so leid“

Die drei munteren Seniorinnen sind Bewohnerinnen und Heimbeiratsmitglieder im Marthaheim. Ihre Kriegserfahrungen sind eine Last, die angesichts der Medienberichte aus der Ukraine schwerer als sonst drückt. Das Trio kann sich gut in die Lage der Flüchtlinge hineinversetzen. Die Angst um Angehörige – die kennen sie. Ebenso unvergessen ist der Krach der Sirenen, der einem durch Mark und Bein fährt. Antonie Masuhr, seit drei Jahren Bewohnerin des Marthaheims: „Die Leute in der Ukraine tun mir so leid!“

Claudia Friedrichs, Leiterin des Sozialen Dienstes im Marthaheim, ist Jahrgang 1962. Sie hörte sich interessiert die Berichte der Seniorinnen an.
Claudia Friedrichs, Leiterin des Sozialen Dienstes im Marthaheim, ist Jahrgang 1962. Sie hörte sich interessiert die Berichte der Seniorinnen an. © FUNKE Foto Services | Jörg Schimmel

Die Bueranerin Irene Holz, die seit zehn Jahren im Marthaheim zuhause ist, sagt: „Ich kann keine Nachrichten gucken. Wenn ich Sirenen höre, zucke ich zusammen.“ Die 90-Jährige gibt zu, dass sie lieber auf Serien umschaltet. Die haben keine Berührungspunkte mit dem Thema Ukraine. „Alle, die den Weltkrieg mitgemacht haben, kriegen bei den aktuellen Nachrichten Angst“, meint Holz.

Mitbewohnerin Erika Knod erzählt: „Manchmal liegst du im Bett und fängst an zu weinen.“ Tagelang habe sie nicht schlafen können. Vieles treibt die 88-Jährige um. Das Bild eines kleinen ukrainischen Jungen auf der Flucht hat sich in ihr Gedächtnis gebrannt – wie ihre eigenen Kriegserfahrungen. „Ich konnte nicht darüber reden“, so Knod, „das Thema Krieg wurde in der Familie nicht angerührt.“

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Und nun rollen wieder Panzer in Europa, fast vor der eigenen Haustür, detonieren Granaten, fliegen Bomber. Ja, bei solchen Nachrichten kommen längst verschütt geglaubte Ereignisse und Szenen wieder hoch, bestätigen die Damen nickend. Antonie Masuhr berichtet: „Ich war 13, als der Krieg angefangen hat, das war ganz schlimm. Einmal ist eine Bombe aufs Haus gefallen: vier Tote, auch ein Baby.“

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Irene Holz entsinnt sich, dass ein Flugzeug in der Nähe von Schloss Berge Bomben abgeworfen habe. Sie sei bei Angriffen mit ihrer Großmutter in den Bergwerkstollen der Zeche Hugo gelaufen: „Es musste alles sehr schnell gehen.“ Deshalb hätte alles, was wichtig gewesen sei wie beispielsweise Dokumente, schön ordentlich parat gelegen. „Daher kommt es wohl, dass unsere Generation so sehr auf Ordnung bedacht ist“, mutmaßt die 90-Jährige. Claudia Friedrichs, Jahrgang 1962 und Leiterin des Sozialen Dienstes im Marthaheim, weiß noch: „Wenn meine Mutter in den Keller flüchtete, durfte sie die Tasche mit den Papieren nicht vergessen.“

Marthaheim Gladbeck

Das Diakonische Werk Gladbeck-Bottrop-Dorsten betreibt das Seniorenzentrum Marthaheim an der Hermannstraße. In dem Jugendstil-Gebäude mit Neubau leben derzeit 74 Menschen, beim Gros handelt es sich um Frauen. Claudia Friedrichs, Leiterin des Sozialen Dienstes, sagt: „Die Männer machen bei uns etwa ein Dutzend aus.“

Es gibt im Gladbecker Marthaheim drei Wohnbereiche. Erika Knod, Antonie Masuhr und Irene Holz freuen sich: „Wir haben alle Einzelzimmer!“

Schnell, schnell – das war aber beileibe nicht immer möglich. Erika Knod – „ich sitze seit sieben Jahren im Rollstuhl“ – schildert: „Meine Mutter hatte das Bein gebrochen und war auf die schweren Krücken angewiesen. Der Bunker war damals an der Rentforter Straße. Es gab oft schon Entwarnung, ehe wir dort angelangt waren. Es war grausam.“ Drei ihrer Cousins seien gefallen. Das habe der Tante so zugesetzt, „dass sie gestorben ist“. Sie sei schon gar nicht mehr in den Luftschutzbunker geflüchtet. Eine Bombe habe die Tante zwar nicht getroffen, aber sie starb dennoch – an Herzschmerz. Knod: „Mein Bruder kam aus dem Lazarett mit einem Handkarren am Bahnhof West an.“

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Antonie Masuhr hatte Glück in all’ dem Unglück: „Mein Vater war auf Zeche, nicht im Krieg.“ Der Bruder von Irene Holz „wurde erst eingezogen, als der Krieg so gut wie vorbei war. Mein Mann war Maurerpolier und ist nicht eingezogen worden“.

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Hunger haben sie alle drei gelitten. „Als mein Vater wiederkam, hat er Ähren auf den Feldern gesammelt. Aus einem Besenstiel hat er einen Dreschflegel gemacht“, sagt Knod. Mitbewohnerin Holz, die im Gegensatz zu den anderen beiden Damen beim Bund deutscher Mädels war: „Da gab es wenigstens etwas zu essen.“

Die Gladbeckerinnen beten für einen baldigen Frieden

Die Seniorinnen sehen „die Nachrichten aus der Ukraine sehr kritisch“: „Das russische Volk wird doch belogen!“ Sie wünschen sich, dass die Kriegsmaschinerie zum Stillstand kommt, die Waffen schweigen. Dafür beten sie. In Gedanken sind sie bei den Menschen im Kriegsland: „Wir fühlen uns sehr verbunden mit der ukrainischen Bevölkerung.“ Ein Tisch im Foyer, dekoriert mit einer Kerze, einer Ukraine- und Regenbogenfahne zeugen davon. Ein menschliches Peace-Zeichen stellte die Belegschaft. Und ein Apfelbäumchen wurde gepflanzt – in der Hoffnung auf baldigen Frieden.

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