Gladbeck. . Marco Spohr ließ Gladbecker Soldaten des 1. Weltkriegs zu Wort kommen. In einer szenischen Lesung vermischten sich Erinnerungen und Fakten.
Vor dem geistigen Auge ziehen die Bilder vorüber: zerlumpte, ausgemergelte, verdreckte Soldaten in Schützengräben. Gewehre dröhnen, Regen prasselt auf die Männer nieder, Verwundete schreien. Die sichere Welt da draußen im Vollmondschein, jenseits der Fenster des VHS-Hauses, entrückt immer stärker dem Bewusstsein aufmerksamer Zuhörer – sie sind ganz gefangen in diesem Albtraum aus Blut und Brutalität. Ein Kapitel deutscher Geschichte, das der Schauspieler Marco Spohr ins Hier und Jetzt zurückholt. Anlass für diese szenische Lesung ist das Ende des Ersten Weltkriegs.
Kurt Tucholsky: „Krieg dem Kriege!“
Die Stimme, die die unfassbaren Grausamkeiten auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs beschreibt, schwillt an, brüllt, lässt die Zuhörer aus ihren Gedanken aufschrecken. Das Grauen ist fast greifbar. Die Gladbecker Soldaten Franz Riesener, Wilhelm Heinrich Brinkhaus und Ernst Haufe haben ihre Ängste, Gefühle und Erlebnisse an der Front aufgeschrieben – sie machten aus ihren Herzen keine Mördergrube, berichteten schonungslos an ihre Lieben in der Heimat. „Sie sahen die Kameraden fallen. Das war das Schicksal fast bei allen:/Verwundung, Qual wie ein Tier, und Tod/... und man trug sie fort und scharrte sie ein./Wer wird wohl der nächste sein?“ – Spohr rezitiert diese Zeilen aus der Feder von Kurt Tucholsky, der „Krieg dem Kriege! Und Frieden auf Erden“ forderte.
Kapp-Putsch, Arbeiter- und Soldatenrat
Stadtarchivarin Katrin Bürgel ergänzt die bewegenden Berichte der Männer mit nüchternen Fakten – zum Beispiel über die Zustände in Gladbeck. Ein Fünftel der hiesigen Bevölkerung war eingezogen, etliche Betriebe gingen deswegen zugrunde; Frauen nahmen die Arbeitsplätze ihrer Männer ein, die Menschen an der Heimatfront litten Hunger, sollten die letzten Zuckungen des Kriegs mit der Herausgabe persönlicher Ersparnisse und Besitztümer verlängern. Doch die Bevölkerung war „des langen Krieges überdrüssig“, sehnte Frieden und Ordnung herbei. Spohr lässt Heimkehrer Johann Terwellen zu Wort kommen. „Wie ein Lauffeuer“ verbreitete sich die Nachricht über seine Ankunft in Rentfort. Nachbarn eilten herbei, um ihn zu begrüßen. Elternhaus und Heimat – die Angelpunkte seines Gedankens „Frei sein!“
Weitere Auftritte
Der Hagener Schauspieler Marco Spohr hat bereits mehrere Male in Gladbeck zum Thema „Erster Weltkrieg“ gelesen. Bei diesen Abenden handelt es sich um Kooperationen von Stadtarchiv und Volkshochschule.
Spohr wird auch im kommenden Jahr zweimal – im Zusammenhang mit dem 100. Stadtgeburtstag – in Gladbeck zu erleben sein.
Und gingen die Wünsche der leidgeplagten Bürgerschaft mit dem Kriegsende am 11. November 1918 in Erfüllung? Mitnichten. Kriegsversehrte – 52 Gladbecker waren als Schwerbeschädigte in Recklinghausen gemeldet und bekamen laut Stadtarchivarin Bürgel Rente – betteln um Arbeit: „Ich versichere, dass ich meine Pflicht tun werde.“ Männer drängen zurück auf ihre früheren Stellen. Unruhige Zeiten kommen auf die Bevölkerung zu: Spartakisten, Kapp-Putsch, Arbeiter- und Soldatenrat. Bürgel zieht als Quelle lokaler Ereignisse Artikel aus der Gladbecker Zeitung heran. Unruhen, Aufständische – die Bevölkerung kommt nicht zur Ruhe. Spohr erhebt die Stimme, lässt eine Faust auf die Tischplatte niederdonnern.
Unruhen und Todesurteile
Durch den Mund des Hagener Schauspielers Spohr spricht der Geistliche Theodor Tensundern. Er spendete zum Tode Verurteilten seelischen Beistand: „Ich selbst habe mit ihnen geweint.“ Der Schauspieler hebt die Arme und verschränkt die Hände hinter seinem Kopf – als wenn er vor ein Erschießungskommando tritt.
Mit den Worten Tucholskys endete der Vortrag: „Denkt an Todesröcheln und Gestöhne./Drüben stehen Väter, Mütter, Söhne./Schuften schwer, wie ihr, ums bißchen Leben./Wollt ihr denen nicht die Hände geben? Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben/Überm Graben, Leute, überm Graben!“ – Tosender Beifall gab’s für den eindringlichen Abend.