Essen. Tolerante Swifties auf der Toilette und ein Ministerpräsident in Hollywood: Das erlebten unsere Reporter am Rand des Jahres 2024.

Wenn in NRW etwas Relevantes vor sich geht, sind unsere Reporterinnen und Reporter nicht weit. Hier erzählen sie, was sie am Rand großer Ereignisse 2024 erlebt haben: von sichtbar bewegten Ministern bis zu einem besonderen 104. Geburtstag 

8. Januar: Streiks der Lokführer

GDL-Streik
Stillstand. Der Bahnhof Bochum während des Streiks. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

„Es macht uns keinen Spaß, die Leute stehen zu lassen“, schickt der Lokführer gleich vorweg, um dann zu erklären, warum er trotzdem drei Tage lang streiken wird. Patrick Hohmann arbeitet bei der DB Region, seine Stammlinien sind die S-Bahnen S1 und S6 zwischen Düsseldorf und dem Ruhrgebiet.

Die Fahrgäste reagieren zunehmend genervt auf die Streiks, die schon vor Weihnachten begonnen haben. Ich auch. Das liegt auch am polternden Auftreten des GDL-Chefs Claus Weselsky. Der will sich in seinem letzten Tarifkonflikt ein Denkmal setzen und neben einer kräftigen Lohnerhöhung auch die Wochenarbeitszeit von 38 auf 35 Stunden verkürzen.

Stefan Schulte, Ressortleiter Wirtschaft
Stefan Schulte, Ressortleiter Wirtschaft © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Der immer lauter werdende Ärger der Leute über einen zu lauten Gewerkschaftsboss lässt vergessen, worum es eigentlich geht. Das belastet auch Patrick Hohmann, denn er will nichts anderes als seine Fahrgäste auch: „Der aktuelle Zustand der Bahn ist so katastrophal, dass sich etwas ändern muss“, sagt er.

So teilt er mit ihnen zum Beispiel die vielen Verspätungen. Wegen der vielen Baustellen sei es derzeit kaum möglich, pünktlich zu sein, klagt er, betont gleichwohl, woran viele nicht denken: „Wir haben dann auch später Feierabend.“ Dabei türmten sich Überstundenberge auf, von der 38-Stunden-Woche könne eh keine Rede mehr sein. Mein Verständnis wächst.

Am Ende gibt es wie immer einen Kompromiss, mit dem alle leben können. Wenn Patrick Hohmann recht hatte, wollen nun vielleicht bald mehr junge Menschen Lokführer werden, die Bahnen sind pünktlicher und wir alle kommen abends früher nach Hause. Gehofft werden darf weiter.  (Stefan Schulte)

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15. Januar: Protest gegen die AfD nach Correctiv-Enthüllungen

Das Bündnis „Essen stellt sich quer“  ruft zu einer Kundgebung unter dem Motto „Gegen die AfD – Nie wieder ist jetzt“ am Rüttenscheider Stern auf.
Aufstand der Mitte: 7000 Menschen demonstrierten am 15. Januar in Essen gegen die AfD. Dieses Bild unserer Fotografin Kerstin Kokoska ist eines der NRW-Pressefotos des Jahres. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Es war Uromas letztes rauschendes Fest. Der 104. Geburtstag dieser großartigen Frau, deren Jugend von zu viel Leid, Hunger und Rassismus geprägt war. Nach der Feier beschließen wir, gegen die AfD auf die Straße gehen. Gegen den Rechtsruck und Demokratiefeinde aufzustehen, das schulden wir auch ihrer Generation.

Jennifer Schumacher, Ressortleiterin Kultur
Jennifer Schumacher, Ressortleiterin Kultur © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Zwei Tanten schließen sich spontan an. Mutter, Schwiegermutter und der Sechsjährige sind auch dabei, als die Menschenmassen mit Protestschildern und Parolen skandierend durch Essen ziehen. Dass sich das Kind Wochen später noch zu „Scheiße AfD!“-Rufen hinreißen lässt, darüber sieht die elterliche Sprachpolizei großzügig hinweg.

7000 Menschen ziehen an diesem Abend über die Rüttenscheider Straße. „Damit sich das mit den rechten Idioten, die Omis Jugend auf dem Gewissen haben, nicht wiederholt“, poste ich an diesem Abend auf Instagram. Für einen kurzen und euphorischen Moment bin ich an diesem eiskalten Januarabend so naiv zu glauben, dass sich der Rechtsruck mindestens abbremsen lässt.

Doch obwohl im Sommer sogar noch viel mehr Menschen in Essen gegen die AfD demonstrieren werden, wird die Partei bei den Wahlen in Ostdeutschland erschreckende Erfolge einfahren. Uroma muss das nicht mehr erleben. Sie ist wenige Wochen nach der Demo gestorben. (Jennifer Schumacher)

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14. April: Leverkusen wird Deutscher Meister

Bayer Leverkusen - Werder Bremen - Jahreschronik 2024
Ciao, Vizekusen! Leverkusens Trainer Xabi Alonso wird von seinen Spielern nach dem Gewinn der Meisterschaft gefeiert © DPA Images | Rolf Vennenbernd

Man könnte das ganze Treiben unübersichtlich nennen, aber das wäre eine absurde Untertreibung. In den Katakomben der BayArena, dort, wo es sonst von den Mannschaftskabinen in Richtung Rasen geht, herrscht das blanke Chaos, es drängt sich Kamerateam an Kamerateam, dazwischen laufen Spieler herum, deren Frauen und Kinder, Trainer, Verantwortliche und einige Edelfans.

Und viele, sehr viele Kameramänner samt Reportern, die alle dabei sein wollten an jenem 29. Spieltag der Saison 2023/24, an dem sich Historisches tut: Bayer Leverkusen ist nach einem 5:0 gegen Werder Bremen Deutscher Fußballmeister, beendet die elfjährige Dauerregentschaft von Bayern München.

Sebastian Weßling, Redaktionsleiter Sport
Sebastian Weßling, Redaktionsleiter Sport © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Ja, Leverkusen, das mehrfach so nah dran war und so tragisch scheiterte, dass Vizekusen zum geflügelten Wort wurde. Und nun spielt ausgerechnet dieses Leverkusen die fast perfekte Saison, nun stürmen oben die Menschen den Rasen und sorgen dafür, dass sich unten die TV-Teams drängen, dass sehr viele Menschen sehr aufgescheucht herumrennen.

Nur einer strahlt mal wieder Ruhe und Gelassenheit aus, selbst als ihn die Spieler während der Pressekonferenz mit Bier übergießen. „Ein bisschen kalt“, sagt der Spanier lächelnd, während das Bier aus den Haaren tropft und beantwortet dann noch zahlreiche Fragen in einem unaufgeregten Ton, als hätte er gerade ein Testspiel gegen eine Kreisauswahl gewonnen und nicht den größten Titel der Vereinsgeschichte. Wer noch nach Erklärungen suchte, warum es Xabi Alonso schaffte, aus Vizekusen Meisterkusen zu machen – der findet in solchen Momenten eine Antwort. (Sebastian Weßling)

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16. April: Wüst oder Merz – das Rennen um die Kanzlerkandidatur

Friedrich Merz und Hendrik Wüst
Freund, Feind, Parteifreund? Hendrik Wüst und Friedrich Merz © picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Es ist erst kurz nach neun am Morgen, aber die kalifornische Sonne hat den letzten Frühdunst schon vertrieben. Ministerpräsident Hendrik Wüst besucht für einige Tage die US-Westküste. Eine Handvoll Journalisten begleitet seine Delegationsreise. An jenem Morgen quält sich der Pressebus die Südseite des Mount Hollywood hoch.

Wüsts Limousine fährt voraus. Laut Programm will der Politiker das Griffith-Observatorium besuchen, die berühmte Sternwarte über den Dächern von Los Angeles. Was will er da bloß? Im Pressebus macht sich Klassenfahrt-Atmosphäre breit. Im Rennen um die Kanzlerkandidatur scheinen sich vor dem CDU-Bundesparteitag Anfang Mai die Dinge klar hin zu Parteichef Friedrich Merz zu entwickeln. Wüst schafft es trotzdem, sich als instagram-tauglicher Politikertypus im Gespräch zu halten, der mit amerikanischer Zukunftslust über NRW-Kleinklein wie Unterrichtsausfall und Kita-Krise zu schweben scheint.

Tobias Blasius, Landespolitikkorrespondent in Düsseldorf
Tobias Blasius, Landespolitikkorrespondent in Düsseldorf © Foto: | Unbekannt

„Er will bestimmt da oben vor dem Hollywood-Schild posieren“, ruft jemand durch den Bus. „Nie-mals“, entgegne ich mit der Entschiedenheit des Routiniers bei solchen Ministerpräsidenten-Trips, „so schmerzfrei ist er nun auch wieder nicht.“ Gelächter, Wetten, allerlei Schauspiel-Politik-Assoziationen. Oben im Griffith Park angekommen, wird von „Team Wüst“ kurz der Lichteinfall gecheckt, dann: Statement. Vorne Ministerpräsident, hinten die berühmten Buchstaben. Verblüfft höre ich zu, im Kopf schon die Überschrift: „Hendrik goes to Hollywood.“ (Tobias Blasius)

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4. Juni: Kampf gegen den Antisemitismus

Das Schicksal des politischen Journalisten ist die Teilnahmslosigkeit. Er muss immerzu kritische Distanz wahren, darf sich nicht einmal mit einer guten Sache gemein machen. An diesem Dienstagmittag scheitere ich an diesem Anspruch kläglich. Im Berliner Bode-Museum verleiht Ministerpräsident Hendrik Wüst die „Mevlüde-Genc-Medaille“ des Landes an Margot Friedländer.

Mevlüde Genc verlor beim rechtsextremen Brandanschlag auf ihr Wohnhaus in Solingen 1993 zwei Töchter, zwei Enkelkinder und eine Nichte. Sie setzte sich trotzdem bis zu ihrem Tod für ein friedliches Miteinander der Religionen und Kulturen ein. Margot Friedländer wiederum hat den Holocaust überlebt und ist nach Jahrzehnten in den USA mit 88 Jahren zurückgekehrt ins Land der Täter, um nachwachsenden Generationen vom Nazi-Terror zu berichten. Sie ist inzwischen 103 Jahre alt.

Als sie ins Bode-Museum kommt, parkt sie ihre Gehhilfe dezent in einer Ecke des marmornen Kuppelsaals. Dass sie von ihrem Leibarzt begleitet wird, merkt man ihr nicht an. Als Wüst der Preisträgerin auf die Bühne hilft und sie sich zur Medaillen-Übergabe behutsam in zwei Sessel fallen lassen, überspielt das der drahtige Ministerpräsident gedankenschnell: „Wir machen das heute mal im Sitzen, das ist leichter für mich.“ Margot Friedländer hält eine Rede und appelliert: „Bitte, seid Menschen!“ Dann tiriliert Max Raabe ein letztes „Irgendwo auf der Welt“ in den sakralen Hall des Museums. Ich klemme den Notizblock unter den Arm und applaudiere. (Tobias Blasius)

13. Juni: Herbert Grönemeyer in Bochum

Herbert Grönemeyer, Konzert, 12.06.2024 Bochum Nordrhein-Westfalen Deutschland *** Herbert Grönemeyer, Concert, 12 06 20
Bochum, ich komm‘ aus dir: Herbert Grönemeyer im Ruhrstadion © IMAGO/kolbert-press | IMAGO stock

Der ältere Herr neben mir im Stadion hat Herbert Grönemeyer eine Woche vorher schon einmal gesehen. „Auf der Waldbühne, in Berlin. Ich bin zu meiner Tochter gefahren, die da wohnt, wir wollten uns Herbie zusammen angucken.“

Moment mal, wollten? „Ja, wir haben echt nicht viel gesehen, unsere Karten galten für Plätze ganz an der Seite, die hätte man eigentlich gar nicht verkaufen dürfen, so wenig haben wir gesehen.“ Und zur Belohnung dafür haben Sie sich dann gleich noch eine Karte für Bochum gekauft? „Nee, wir haben uns beim Veranstalter beschwert“, sagt die Tochter, „und der hat uns zwei Karten für dieses Konzert geschickt, kostenlos.“

Jens Dirksen, Chefreporter Kultur
Jens Dirksen, Chefreporter Kultur © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Es ist, passend zum Star des Abends im Ruhrstadion, ein kurzes Gespräch, das einen für Momente wieder an das Gute im Menschen glauben lässt. Herbert Grönemeyer mag gelegentlich prügelnd auf Fotografen losgehen, wenn er seine Privatsphäre verletzt sieht. Aber er hat immer versucht, seine Fans vor allzu hohen Kartenpreisen zu schützen – Kollegen wie Westernhagen waren da ganz anders drauf.

Und selbstverständlich geht’s ums Geldverdienen, wenn Grönemeyer im September 2025 nicht zweimal unplugged in der Westfalenhalle auftritt, wie ursprünglich geplant, sondern fünfmal. Aber der Effekt der Zusatzkonzerte ist auch: Die Schwarzmarktpreise gehen runter. (Jens Dirksen)  

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27. Juni: Der Prozess gegen Dortmunder Polizisten um den Tod von Mouhamed Dramé

Urteilsverkündung Polizisten-Prozess wegen des Todes von Mouhamed Dramé
Kurz vor dem Urteil am Dortmunder Landgericht: Mouhamed Dramés Brüder Sidy (l.) und Lassana mit einem Plakat, das eine erneute Demo gegen Polizeigewalt ankündigt. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Der Prozess läuft schon ein halbes Jahr, seine Aussage vor Gericht liegt Wochen zurück, jetzt, glaubt sein Rechtsanwalt, ist der richtige Moment: Polizeikommissar Fabian S., der Mann, der auf Mouhamed Dramé schoss, will reden. Es ist ein heißer Tag, diesmal kommt der 30-Jährige, seit zwei Jahren vom Dienst suspendiert, in Sommerkleidung ins Dortmunder Landgericht. Ein ungewöhnliches Ansinnen, dass ein Angeklagter, noch dazu des Totschlags beschuldigt, sich während des laufenden Verfahrens der Presse stellt. Journalisten haben Zweifel, Juristen zeigen Verständnis, S. erklärt: „Ich habe das Bedürfnis, etwas zu sagen.“

Und dann erzählt er in einem eher schmucklosen Anwaltsbüro, mehr als eineinhalb Stunden lang: Wie es ihn schmerzt, dass Unterstützer des Geflüchteten aus dem Senegal ihn einen Mörder schimpfen. Dass es ihn „am schwersten“ trifft, dass sie ihn für einen Rassisten halten. Ihn, der den suizidgefährdeten jungen Mann habe retten wollen. Es gebe nicht nur die Polizei, sagt Fabian S., „dahinter stehen Menschen“. Menschen wie er, der gehofft hatte, nie schießen zu müssen. Aber nun damit leben muss, dass er es tat, sechsmal. „Man weiß, dass es so ist, aber man kann es nicht glauben. Das wird man nicht los.“

Annika Fischer, Redakteurin im Ressort Rhein-Ruhr/Politik
Annika Fischer, Redakteurin im Ressort Rhein-Ruhr/Politik © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Der junge Polizist sagt im Gespräch meistens „man“, als wolle er sich von seinem tödlichen Einsatz distanzieren. Aber er beschönigt nichts, „ich weiß, dass ich für seinen Tod verantwortlich bin“. Er habe getan, was die Kollegen erwartet haben, habe sie vor Mouhameds Messer schützen wollen, ja: müssen. Das sieht nach einem Jahr auch das Gericht so: Nach 31 Verhandlungstagen werden S. und seine vier Kolleginnen und Kollegen am 12. Dezember freigesprochen.

Noch im Saal schreien Mouhameds Freunde: „Das war Mord!“ Danach gehen sie erneut gegen „strukturellen Rassismus“ bei der Polizei auf die Straße. Fabian S. indes bekommt am nächsten Tag Post von seinem Dienstherrn: Er darf wieder arbeiten. Als Polizeibeamter auf Lebenszeit. (Annika Fischer)

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18. Juli: Taylor Swift in Gelsenkirchen

Taylor Swift auf Schalke.
Eines der Konzerte des Jahres in NRW: Taylor Swift versetzte mit ihrer Eras-Tour die Stadt Gelsenkirchen in einen Ausnahmezustand © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Vor dem schmalen Eingang zu den Toiletten in der Veltins-Arena tummeln sich Frauen in bunten Röcken, Glitzerkleidern, mit selbstgebastelten Armbändern und Hochsteckfrisuren. Die Schlange vor den WCs ist vielleicht so lang wie noch nie, denn Frauen sind hier im Fußballstadion auf Schalke normalerweise in der Unterzahl. Aber nicht heute, denn an diesem Abend sind Zehntausende Fans angereist, um ihren großen Star Taylor Swift live zu sehen – bei der Tournee, die in ein paar Monaten als die umsatzstärkste Tour aller Zeiten in die Geschichte eingehen wird.

In wenigen Minuten beginnt das Konzert, noch warten dutzende junge Frauen, Mädchen, Mütter und vereinzelt auch Männer vor den Toiletten – einige von ihnen mit Panik in den Augen. Niemand möchte den großen Auftakt des Konzertes verpassen, wenn Swift in ihrem Glitzer-Body auf die Bühne tritt und „Welcome to the Eras Tour“ ruft.

Theresa Althaus, Redakteurin im Digitalteam
Theresa Althaus, Redakteurin im Digitalteam © Foto: Kerstin Kokoska/ FUNKE Foto Services | Unbekannt

Was sich just in diesem Moment in der Schlange vor den WCs ereignet, erscheint mir daher sinnbildlich für die Swiftie-Community: Eine Mutter drängelt sich mit einem kleinen, weinenden Mädchen an der Schlange vorbei. Das Kind muss offenbar dringend aufs Klo.

Anstatt der Mutter aus Eigennutz den Zugang zum Klo zu verwehren und auf die vielen Wartenden zu verweisen, lassen die Swifties in der Schlange vor mir die beiden großzügig vor – obwohl das bedeuten könnte, dass sie selbst den Beginn des Konzertes verpassen. Wie schön, dass Swifties selbst in Extremsituationen zusammenhalten.  (Theresa Althaus)

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23. August: Der Anschlag auf dem Stadtfest in Solingen

Solingen-Anschlag
Stille Trauer: Eine Kerze am Ort des Anschlags © DPA Images | Christoph Reichwein

Gut zwei Dutzend Reporter drängeln sich um Herbert Reul, diskutieren lautstark, wer nun wie stehen müsse, damit auch jeder das perfekte Bild hat. Politikeralltag, sobald irgendwo mehr als ein Fernsehteam auftaucht. Doch für Reul, einen der erfahrensten Politiker in NRW, ist es sichtbar kein Alltag. Während sich die Reporter sortieren, wischt sich der CDU-Innenminister immer wieder mit der Hand durchs Gesicht. Dann beginnt er zu sprechen, so leise, dass er kaum zu verstehen ist.

Es ist ein Samstagmorgen im August, 1.17 Uhr. Vor wenigen Stunden hat ein Mann auf dem Solinger Stadtfest bei einem Konzert wahllos Menschen mit einem Messer angegriffen, drei Menschen sind tot, zahlreiche weitere verletzt, der Täter ist noch auf der Flucht. Reul hatte vor dem Fernseher gesessen, als er von der Nachricht erfuhr und ist sofort nach Solingen gefahren.

Oliver Hollenstein, Nachrichten- und Themenchef
Oliver Hollenstein, Nachrichten- und Themenchef © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Trotz der späten Stunde verbreiten sich in den Sozialen Medien die Gerüchte. Der Täter habe Allahu Akbar gerufen, er sehe südländisch aus, heißt es. Reul und auch die Polizei bleiben ruhig: Zu alldem könne man noch nichts sagen.

Doch die Gerüchte bestätigen sich. 24 Stunden später wird sich der Täter stellen: ein Flüchtling, der eigentlich längst das Land hätte verlassen haben sollen. Seine Tat wird nicht nur die Stadt Solingen noch lange beschäftigen, sondern hat auch die deutsche Migrationsdebatte verändert. (Oliver Hollenstein)

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18. September: Das Drama um Thyssenkrupp

ThyssenKrupp in Essen.
Harter Konflikt: Ein Demonstrant, verkleidet als Thyssenkrupp-Chef Lopéz, demonstriert, wie sich der Kurs des Vorstands für die Mitarbeiter anfühlt. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Thyssenkrupp-Chef Miguel López ist gerade auf dem Weg zum feinen Düsseldorfer „Industrie-Club“, wo die Wirtschaftspublizistische Vereinigung im Beisein von Ministerpräsident Hendrik Wüst ihr 75-jähriges Bestehen feiert, als ihn plötzlich auf offener Straße drei Stahl-Beschäftigte ansprechen.

Einer der Männer trägt eine Maske mit López-Gesicht und verteilt Handzettel, auf denen „Guerilla Stahl“ steht. Auch drei Tagen zuvor ist der Masken-Mann schon unterwegs gewesen. Vor dem „Stahlgipfel“ Mitte September in der Duisburger Mercatorhalle spricht er unter anderem Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link und Ministerpräsident Wüst an. Wie also würde López auf den wütenden Stahlarbeiter, der ihn ins Lächerliche ziehen will, reagieren?

Essen - Kommentarbild Ulf Meinke
Ulf Meinke, Redakteur im Wirtschaftsressort © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Was nach Konfrontation riecht, entwickelt sich überraschend zu einem konstruktiven Gespräch. Der Masken-Mann und seine Kollegen berichten von ihren Sorgen um den Job und die Zukunft ihrer Familien. López spricht über die schwierige Lage der Stahlindustrie und seine Gesamtverantwortung für den Thyssenkrupp-Konzern.

Am Ende der Begegnung gibt López den Mitarbeitern sogar seine Handynummer, um ein weiteres Treffen zu vereinbaren. Der Konzernchef regt an, gemeinsam Pizza essen zu gehen. Nach Monaten der Eskalation ist es eine versöhnliche Geste. Einstweilen bleibt der spontane Moment der Annäherung aber ohne große Auswirkungen. Im Kampf um die Arbeitsplätze von Thyssenkrupp Steel stehen die Zeichen der Zeit mehr denn je auf Sturm. (Ulf Meinke)

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8. Dezember: Zehntausende Syrer feiern in Essen

Syriendemo in Essen
Tausende Menschen der syrischen Community demonstrieren und feiern in Essen am Sonntag, 8. Dezember 2024. Foto: Svenja Hanusch / FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Freunde schreiben mir: „Komm, hier am Berliner Platz ist eine Demo“ Ich nehme die S-Bahn, die mich sonst zur Arbeit bei der WAZ bringt. Doch heute steige ich aus und gehe nicht ins Redaktionsgebäude, sondern biege rechts ab in den Park. Dicht an dicht stehen SyrerInnen. Grüne Fahnen wehen, Syrer rufen: „Freiheit! Einheit! “

Ich halte mein Mikrofon und mein Handy bereit, will mich dahinter verstecken. Hinter meiner Rolle als Journalistin. Ich bahne mir einen Weg durch die Menge. Ich denke, hier kann ich ein Video drehen, hier kann ich Interviews führen.

Volontärin Heba Alkadri im FMO
Heba Alkadri, Volontärin © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Aber dann kommt ein anderer Gedanke: Nein. Heute nicht. Heute fühlte es sich anders an. Die unsichtbare Linie zwischen mir und den Demonstranten ist verschwunden. Ich will nicht berichten, ich will fühlen. Ich bin eine Syrerin, deren Land gerade befreit wurde. Die Energie der Menge umgibt mich. Die Kälte, der Druck, die To-do-Listen schmelzen dahin, es bleibt ein Gedanken: Das Regime ist gefallen.

Der Platz, den ich sonst nur durch das Redaktionsfenster sehe, hat sich verändert. Er ist jetzt ein kleines Stück Heimat. Ein Ort, an dem 11.000 Stimmen nach Freiheit schrien, und unter diesen Stimmen fand ich eine, die ich lange vergessen hatte - meine eigene. (Heba Alkadri)

So haben wir berichtet