Essen. Der Tag der Befreiung Syriens ist historisch. Etwas Demut angesichts des Augenblicks täte uns gut, statt sofort über Abschiebung zu reden
Man muss nicht einmal bis nach Damaskus fahren, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was in Syrien gerade geschieht. Wer die Freudenfeiern am Sonntag in Essen und anderen Städten des Ruhrgebiets erlebt hat, der weiß: Auch hier bricht massenhafter Jubel aus, weil ein geknechtetes Land aus den Händen eines barbarischen Schlächters befreit wurde, dessen Clan es fünf Jahrzehnte lang im Würgegriff hielt. Auch hier weinen Menschen Tränen der Erleichterung, Menschen, die oft selbst unter den Schrecken des Regimes gelitten haben und aus dem Land mit guten Gründen geflüchtet sind. Menschen, die manches zurücklassen mussten, was ihnen lieb und teuer war.
Ein Moment wie der Fall der Berliner Mauer
Wir, nunmehr oft seit Jahren ihre neuen Nachbarn, sollten uns das in diesem Moment einmal bewusst machen, ehe wir die möglichen Folgen für Deutschland diskutieren: Es ist der Berliner Mauerfall, es ist die Freilassung Nelson Mandelas, es ist ein historischer Moment, völlig unabhängig davon, welchen Verlauf die Zukunft Syriens nehmen wird. Dazu gehört, dass wir uns mit ihnen erst einmal freuen sollten und nicht am Tag danach als erstes darüber debattieren, wie wir ihnen möglichst schnell beim Kofferpacken helfen können. Das Thema kommt noch früh genug auf die Tagesordnung.
Wer es heute populistisch auflädt, der handelt verantwortungslos. Leider überbieten sich die ersten schon mit wenig brauchbaren Vorschlägen, als gelte es um jeden Preis, bloß nicht den Rechtsextremen die Deutungshoheit zu überlassen. Dabei eignet sich der Wahlkampfmodus gerade für ein derart sensibles Thema ganz und gar nicht. Wenn ein Politiker wie Jens Spahn am Tag des Sturzes von Baschar al-Assad über Charterflüge und Prämien schwadroniert für jeden, der geht, dann zeugt das nicht nur von mangelndem Fingerspitzengefühl, sondern von fehlendem Einschätzungsvermögen: Die Aufständischen, die Assad vertrieben haben, sind ein unberechenbar zusammengewürfelter Trupp, der sich kaum seriös einschätzen lässt. Es ist eine Islamistengruppe. Es gibt also Gründe, sich für Syrien zu freuen, es gibt aber auch Gründe, sich um Syrien zu sorgen.
Asylanträge liegen nicht grundlos auf Eis
Selbstverständlich wird der Aufenthaltsstatus von Flüchtlingen überprüft, syrische Asylanträge liegen nicht grundlos seit heute auf Eis. Manche werden Deutschland unter Zwang verlassen, viele aber dürften freiwillig in ihre Heimat zurückkehren, weil sie dort Familien haben, weil sie dort gebraucht werden beim Wiederaufbau eines geschundenen Landes. Andere haben bei uns in den vergangenen Jahren ihre Heimat gefunden, haben Kinder, die hier geboren wurden, immerhin 70 Prozent der syrischen Männer haben laut Bundesagentur einen festen Job in Deutschland, auch das ist Teil einer komplexen Wahrheit. Wer bleibt und geht, diese Frage lässt sich nicht so fix beantworten wie mancher sich das wünschen mag. Es gilt für seriöse Politik, nicht gleich wieder falsche Erwartungen zu wecken.
Vergessen wir aber vor allem eines nicht: Kein arabisches Volk hat für seinen Kampf um Würde und Freiheit einen höheren Preis bezahlt, als die Syrerinnen und Syrer. lhnen am Tag der Befreiung das Gefühl zu vermitteln, dass man sie nun so schnell wie möglich loswerden will, wird diesem Augenblick ganz gewiss nicht gerecht. Ein bisschen Demut kann uns da nicht schaden.