Düsseldorf. Der Solinger Landtagsabgeordnete Josef Neumann war am Tatabend in der Nähe, er kennt die Opfer und das Trauma der Stadt. Was wird nun?
Dieser Anruf, der eine Satz, und sofort ist alles wieder da. Josef Neumann treibt sich am 23. August, einem Freitagabend, mit ein paar Freunden auf dem Solinger Stadtfest herum. Lokale Bands spielen auf drei Bühnen. Für ihn sind solche Termine immer die schönste Verbindung von Privatleben und Politik. Man unterhält sich und wird angesprochen, erfährt hier dieses und erklärt dort jenes.
Der 63-jährige SPD-Politiker ist seit 2010 viermal hintereinander direkt für den Solinger Wahlkreis in den Landtag gewählt worden. Neumann gilt als eine Art Personifizierung der guten alten Zeit der Sozialdemokratie in ihrer verloren gegangenen „Herzkammer“ NRW. Polnisches Aussiedlerkind, Hauptschule, gelernter Werksteinhersteller, später Heilerziehungspfleger, Gewerkschaftssekretär, Politiker. Über Jahrzehnte engagiert in der Behinderten- und Flüchtlingshilfe, immer nah bei den Leuten. Einer, der schon mal „richtig“ gearbeitet hat und das Leben nicht nur aus dem Juso-Debattierclub kennt.
Um 21.45 Uhr, acht Minuten nach dem ersten Notruf, meldet sich Stadtfest-Organisator Philipp Müller bei Neumann auf dem Handy: „Josef, ist der Oberbürgermeister zufällig in Deiner Nähe, es ist etwas Schlimmes passiert?“ Sofort hätten ihn zwei Gedanken durchzuckt, berichtet Neumann mit dem Abstand von gut fünf Wochen. Der erste: „Was ist mit den Jungs?“ Seine Söhne, 17 und 13 Jahre alt, sind mit ihren Cliquen auch auf dem Stadtfest. Die Neumanns wohnen nur eine Viertelstunde Fußweg entfernt. Der zweite Gedanke: „Nicht schon wieder.“
In Solingen werden sofort Erinnerungen an den Brandanschlag 1993 wach
Neumann war 1993 junger ÖTV-Gewerkschaftssekretär, als ihn in den frühen Morgenstunden des 29. Mai ein Anruf aus dem Schlaf riss. Großeinsatz in der Unteren Wernerstraße. Dutzende Kollegen von Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei auf den Beinen. Das Haus der türkischen Familie Genc brennt.
Der Anschlag, begangen von lokalen Neonazis, lässt Neumann bis heute nicht los. Mit den Nachfahren der getöteten Familienmitglieder hat er sich angefreundet. Die dicke Prozessakte verwahrt er in einem Büroschrank, als ließe sich das Unbegreifliche wegschließen. Sogar ein Fax, das damals bei der ÖTV einging, hat er aufgehoben. Es ist mit Hakenkreuzen beschmiert.
„Seit dem 23. August läuft in meinem Kopf ein Film ab“, bekennt Neumann. Diese gedrückte Stimmung in der Stadt. Die Mischung aus Trauer und Wut. Die Ohnmacht, dann wieder die diffuse Forderung, dass es „so“ nicht weitergehen könne. Das hat er doch alles schon einmal erlebt.
Der rechtsextreme Brandanschlag von 1993 und der islamistische Terrorakt 2024 seien zwar grundverschiedene Verbrechen, doch Neumann erkennt Parallelen: Wieder wird Solingen zum Symbol gemacht.
Die alte Handelsstadt Solingen ist eigentlich stolz auf seine Zuwanderungsgeschichte
Das Stadtfest zum 650-Jahr-Jubiläum hatte sich eigentlich der „Vielfalt“ verschrieben. Solingen, die alte Handelsstadt für Schneidewaren, ist stolz auf seine Einwanderungsgeschichte. Auf Auslandsreisen wird Neumann schon mal gefragt, wieviele Mitarbeiter „diese Firma Solingen“ eigentlich habe. Vor den Stadtfestbühnen hätten etliche Menschen mit Migrationshintergrund gefeiert, sagt er leise. Neumann atmet schwer und schiebt die Brille den Nasensteg hoch. „Hier hätte jeder aus dem eigenen Umfeld selbst Opfer sein können.“
Er kennt die Toten und Verletzten des Anschlags. Mit einem Musiker, der nur mit einer siebenstündigen Notoperation gerettet werden konnte, hat er zusammen Inklusionsprojekte auf die Beine gestellt. Zart besaitet sei er als Enkel eines Metzgers wahrlich nicht, aber was er in der Tatnacht auf dem Solinger Fronhof, dem beliebten Platz unweit seines Wahlkreisbüros, an Blut gesehen habe – Neumann spricht nicht weiter. Er kennt auch das alte Finanzamt nebenan, das zur Flüchtlingseinrichtung umgebaut wurde. Der Attentäter Issa al H. lebte dort.
Eigentlich sollte der SPD-Mann am Sonntag nach dem Anschlag mit der Osteuropa-Parlamentariergruppe des Landtags nach Budapest reisen. Er hat das sofort abgesagt und sich stattdessen tagelang in Solingen herumgetrieben. Trösten, trauern, ansprechbar sein. „In so einem Moment musst Du Dich als Wahlkreisabgeordneter von den Leuten auch mal schütteln lassen“, findet er.
Die NRW-Behördenfehler vor dem Attentat: Unverständnis über das Wegducken
Neumann bekam einiges zu hören. Auch im Netz hagelte es Beleidigungen. Das Attentat hat die Politik insgesamt in Verruf gebracht. Wie soll man auch verstehen, dass ein Syrer, für den das Abschiebeflugzeug schon bereitstand, trotzdem im Land bleiben darf, ein Jahr lang weiter Sozialleistungen kassiert, sich unbemerkt radikalisiert und dann wahllos feiernde Menschen abschlachtet?
„Mir muss keiner etwas über Integration erzählen“, sagt Neumann mit schnarrendem Akzent. Als Zehnjähriger ist er nach Deutschland gekommen und konnte kein Wort Deutsch. Die harten, kurzen Vokallaute aus dem Polnischen hat er sich bis heute bewahrt. Sie sind sein Markenzeichen geworden. „Die Leute hören mich im Radio und sagen: Das ist ja der Josef.“
Neumann glaubt an die Zuwanderungsgesellschaft und kämpft schon ein ganzes Politiker-Leben lang gegen Ausländerfeindlichkeit. „Ich war immer ein Grenzgänger“, sagt er. Doch ohne die Bereitschaft zur Integration und die Achtung vor den Asylgesetzen gehe es nicht. Er hat schon mal eine von Abschiebung bedrohte Familie aus Georgien, die in seinem Wahlkreisbüro vorsprach, weggeschickt: „Nur weil Euer Kind Deutsch spricht und ihr bleiben wollt, können wir doch nicht unser Recht brechen“, habe er gesagt.
Neumann ist keiner dieser Partei-Apparatschiks, die Fehler immer nur bei der politischen Konkurrenz suchen. Er lobt sogar, wie CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst mehrmals in Solingen gewesen sei und mit dem Kanzler und dem Bundespräsidenten viel Zeit in den Austausch mit den Ersthelfern gesteckt habe. Aber dass es die grüne Flüchtlingsministerin Josefine Paul bis heute nicht fertigbringt, die politische Verantwortung für die schweren Behördenfehler bei der missglückten Abschiebung des Solingen-Attentäters zu übernehmen?
Neumann ist ein höflicher Mensch, doch man merkt, dass er das Wegducken, dieses Klammern an Ämter und Macht nicht nur armselig findet. Er fürchtet, dass in seiner Stadt etwas Grundsätzliches kaputt gehen könnte. „Wir wollen nicht“, sagt er fast flehentlich, „dass Solingen der Grund dafür ist, dass Deutschland nach rechts rückt.“