Dortmund. Bundesgerichtshof muss das Dortmunder Landgerichts-Urteil überprüfen. Warum Staatsanwaltschaft und Nebenklage in die nächste Instanz gehen.

Ein Jahr nach dem Start im Prozess um die tödlichen Polizeischüsse auf einen jungen Flüchtling in Dortmund hat das Landgericht in der vergangenen Woche sein Urteil gefällt: Alle drei Polizisten und zwei Polizistinnen, die im August 2022 beim fatalen Einsatz im Hof einer Jugendwohngruppe beteiligt waren, wurden freigesprochen. Die Kammer um den Vorsitzenden Richter Thomas Kelm folgte damit den Verteidigern der fünf Angeklagten: Sie sah weder beim Schützen noch beim Einsatzleiter eine Straftat. Was diesen 56-Jährigen betrifft, hat die Staatsanwaltschaft am Montag indes Revision gegen das Urteil eingelegt, damit geht der Fall nun zum Bundesgerichtshof. Auch die Nebenklage will das Urteil überprüfen lassen – ihr geht es um alle Beteiligten.

Eine Reaktion lässt sich keiner der fünf anmerken

Zum 31. und letzten Mal kommen die drei Polizisten und zwei Polizistinnen am 12. Dezember durch eine Hintertür in den Gerichtssaal, und mit Aktendeckeln vor dem Gesicht. Grau sind diese Pappen, wie immer, nur der Älteste trägt diesmal eine blaue. Als wolle jemand andeuten, dass dieser Mann im Prozess um den Tod von Mouhamed Dramé anders behandelt wird: Im Plädoyer der Staatsanwaltschaft war einzig für den Dienstgruppenleiter noch eine Freiheitsstrafe gefordert worden. Aber auch der 56-Jährige ist vor dem Schwurgericht am Donnerstag nicht anders als andere, alle werden freigesprochen.

Eine Reaktion lässt sich keiner der fünf anmerken. Einzig der junge Kommissar, der mit einem Taser auf Mouhamed Dramé geschossen haben soll, kämpft einen Moment mit den Tränen. Der frischgebackene Vater hatte in der vergangenen Woche eigentlich ein Schlusswort sprechen wollen, sich selbst aber unterbrochen: „Besser nicht.“

Er hatte Suizidgedanken geäußert

Zum Prozessbeginn vor einem Jahr, räumt der Vorsitzende Richter Thomas Kelm ein, habe eine Verurteilung wegen Totschlags, Körperverletzung und der Beihilfe der Fünf nahegelegen. „Aber die Hauptverhandlung hat etwas anderes ergeben.“ Er zeichnet noch einmal die Minuten, die Sekunden jenes Nachmittags im August 2022 nach, als Mouhamed Dramé, ein Messer gegen seinen nackten Bauch gerichtet, in Innenhof einer Jugendeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt hockte.

Man wisse nicht viel über den „Herrn Dramé“, auch daran, dass der Flüchtling 16 Jahre alt war, gibt es längst Zweifel, nur so viel: „Seine Erwartungen an Deutschland hatten sich nicht erfüllt“, der junge Mann habe unter den Erwartungen seiner Familie im Senegal gelitten, die nach Geld fragte. Am Vorabend hatte sich Mouhamed selbst bei der Polizei gemeldet, war in einer psychiatrischen Klinik untersucht worden: Er hatte Suizidgedanken geäußert.

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Ziel der Polizisten sei die Entwaffnung gewesen

Und nun saß er da, wie alle Zeugen, alle Juristen und nun der Richter es nacherzählen. Die Polizei wurde gerufen, sie sollte die Selbsttötung verhindern, aber Mouhamed in seiner Ecke war „völlig apathisch“, reagierte nicht auf Ansprache. „Der Suizid“, sagt Kelm, „konnte jederzeit erfolgen.“ Man habe annehmen müssen, dass er mit dem Leben abgeschlossen habe. Ziel der Polizisten sei deshalb die Entwaffnung gewesen, eingeleitet durch die verhängnisvolle Anordnung des Dienstgruppenchefs: „Einpfeffern, das volle Programm, die ganze Flasche!“

Aber Dramé ließ das Messer nicht fallen, eine Fluchtmöglichkeit habe er nicht gehabt: Zwei Mauern und ein Zaun versperrten ihm den Weg. Er habe, getroffen von Reizgas und nicht einmal gut gezielten Stromstößen, „eine schnelle Bewegung“ gemacht, ohne Angriffsabsichten, aber doch: Aus Sicht der Polizisten habe es einen „Angriffswillen“ gegeben, sie hätten die Kollegen schützen müssen.

„Man schießt so lange, bis der Angriff beendet ist“

Ein Irrtum. Die Justiz kennt dafür Begriffe und Paragrafen, aber rechtswidrig sei das Handeln deshalb nicht gewesen. Es habe, so Richter Kelm, der immer wieder das Polizeigesetz heranzieht, eine „konkrete gegenwärtige Gefahr“ gegeben. Um 16.46 Uhr und 38 Sekunden schoss der damals 28-Jährige. Sechsmal, aber auch das sei nachvollziehbar: „Man schießt so lange, bis der Angriff beendet ist.“ Der Einsatz der Maschinenpistole sei „unvermeidbar“ gewesen, urteilt das Schwurgericht, die sofortige Reaktion des Polizisten „zwingend“. Alle Polizisten „mussten einschreiten, sie konnten nicht warten“. Es sei keine Zeit gewesen abzuwägen.

Andere Mittel, die der Staatsanwalt aufgezählt hatte, seien laut Kelm „nicht erreichbar“ gewesen. Ein SEK-Einsatz? „Da erfolgt ein Eingriff sicher mit körperlicher Gewalt, die greifen durch.“ Ein Hund? Der hätte gebissen und erhebliche Verletzungen versursacht. Weder Dolmetscher noch Psychologe seien schnell genug greifbar gewesen. Dass die Reaktion der ersten Polizistin, die nur eine Anordnung befolgt habe, eine strafbare gewesen sein könnte? „Auf die Idee kann man wirklich nicht kommen.“

Vor der Urteilsverkündung: Die Brüder Sidy und Lassana Dramé.
Vor der Urteilsverkündung: Die Brüder Sidy und Lassana Dramé. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Zitternd und weinend verfolgen die Brüder die Worte des Vorsitzenden

Beim Einsatzleiter sei die Urteilsfindung „das Schwierigste“ gewesen, gesteht Richter Kelm. Er habe aber mit seiner Planung gewährleistet, „dass Herr Dramé nicht unkontrolliert fliehen konnte“, auch mit einer anderen Aufstellung der Polizei wäre „der Schaden“ vermutlich eingetreten. Auch die Anordnungen des Chefs waren demnach „nicht rechtswidrig“.

Zitternd und weinend, die Köpfe tief gesenkt, so verfolgen die Brüder von Mouhamed, Sidy und Lassana Dramé, die Worte des Vorsitzenden. Es gehe ihnen „extrem schlecht“, sie seien „unter Schock und fassungslos“, sagt ihre Anwältin Lisa Grüter später. Sie kündigt bereits vor dem Saal an, in Revision gehen zu wollen, bestätigt das eine Woche später gegenüber dieser Zeitung. Ernüchternd und traurig sei es, „dass derjenige, der den Einsatz so geplant hat, von jeder Verantwortung freigesprochen wird“. Dennoch geht es der Nebenklage in der nächsten Instanz nicht nur um den Dienstgruppenleiter: „Aus unserer Sicht muss dieser Polizeieinsatz in Gänze und die Rolle jedes einzelnen Beteiligten daran durch eine höhere Instanz überprüft werden.“ 

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Von der Verantwortung aber fühlen sich die fünf Polizisten nicht befreit. Dass er mit der Last, einen Menschen getötet zu haben, leben müsse, hatte der ursprünglich wegen Totschlags angeklagte 31-Jährige immer gesagt, auch im persönlichen Interview mit dieser Zeitung. Nun sagt sein Verteidiger, Christoph Krekeler, genau das wieder: Sein Mandant sei „für den Tod eines Menschen verantwortlich“, aber eben nicht im juristischen Sinne. Das habe ihn, nach einem Jahr der Anspannung, „sehr erleichtert“.

Das Urteil, so Krekeler, sei nicht bloß „das Urteil, das der eine oder andere erwartet hat, das wäre zu einfach“. Er habe sogar die Hoffnung, es könne auch diejenigen zu überzeugen, die Polizeiarbeit negativ sähen.

Protest vor dem Gericht: Eine Solidaritätsgruppe mit Transparent
Protest vor dem Gericht: Eine Solidaritätsgruppe mit Transparent © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Proteste der Zuschauer im Gerichtssaal

Das allerdings sieht am Ende dieses 31. Prozesstages nicht so aus. Als der Richter die Verhandlung schließt, erheben sich im vollbesetzten Saal die hinteren Reihen. „Justice for Mouhamed!“, so beginnen die Zuschauer lautstark zu skandieren, „Gerechtigkeit für Mouhamed!“, minutenlang. Die gerade freigesprochenen Polizisten wenden sich ab, auf dem Flur reagiert der Vizechef der Polizeigewerkschaft GdP Markus Robert „erschüttert, erschrocken und wütend“. Aufhalten lassen sich die Aufgebrachten nicht. Ihre Schreie gipfeln in einem ohrenbetäubenden Schlachtruf: „Das war Mord!“ 

Später am Abend kam es in Dortmund zu lautstarken Protesten gegen das Urteil: Laut Polizeibericht haben sich gegen 18:30 Uhr mehrere hundert Demoinstranten auf dem Mehmet-Kubasik-Platz versammelt und seien durch die nördliche Innenstadt gezogen. Sie sollen Polizeibeamte wüst beschimpft und Pyrotechnik gezündet haben.

>>INFO: DIE REAKTION DER POLIZEI

Nicht erst seit Prozessbeginn hatte der Fall Dramé ein großes Echo, nicht nur in der Politik, auch innerhalb der Polizei. Der Einsatz des Elektroschockers wird seither verstärkt diskutiert, der Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen geschult. Der Vize-Chef der Polizeigewerkschaft GdP Markus Robert sagte kurz nach dem Urteil, der Prozess habe „nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Polizei tief bewegt“. Die Einsatzsituation, „in der es um Leib und Leben ging“, sei dezidiert aufgearbeitet worden. „Wir denken heute an das junge Opfer und dessen Angehörige, aber gleichermaßen an die jungen Kollegen.“ Die seien vorverurteilt worden, erinnert Robert, man habe gegen sie „die Rassismuskeule“ geschwungen. Tatsächlich hatten die Vorwürfe, die Polizisten hätten geschossen, weil ein Schwarzer vor ihnen stand, die Beschuldigten am meisten getroffen.

So berichteten wir über den Prozess