Gelsenkirchen. Angriffe auf Juden in NRW nehmen zu – vor allem an Schulen. Welche schockierenden Erfahrungen eine Jüdin machen musste.
- Für Jüdinnen und Juden ist seit dem Hamas-Angriff auf Israel nichts mehr wie zuvor. Viele von ihnen fühlen sich zunehmend bedroht. Auch in NRW nimmt der Antisemitismus zu.
- Bis zum 4. Dezember sind seitdem schon 320 antisemitische Vorfälle in NRW dokumentiert worden. Das geht aus einer Antwort der Landesregierung auf eine SPD-Anfrage hervor.
- Besonders groß ist der Judenhass an den Schulen in NRW. Was man dagegen tun kann, verrät die Holocaust-Nachfahrin Judith Neuwald-Tasbach im Interview.
Judith Neuwald-Tasbach (64)ist Holocaust-Nachfahrin und war 15 Jahre lang Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen. In dieser Zeit hat sie etliche Schülerinnen und Schüler getroffen – und dabei teilweise schockierende Erfahrungen gemacht. Wie groß das Antisemitismus-Problem an Schulen ist und was Lehrkräfte dagegen tun können, hat sie Sophie Sommer im Interview erklärt.
Mit welchem Gefühl gehen jüdische Kinder zurzeit in die Schule?
Judith Neuwald-Tasbach: Viele haben Angst, ihre Religionszugehörigkeit Preis zu geben. Sie tragen keinen Davidstern mehr. Eine Mutter hat mir erzählt, ihr Kind sagt seinen Mitschülern, es sei evangelisch. Auf einer Schule sind ja in der Regel nur ein, zwei, vielleicht drei jüdische Kinder. Sie haben deshalb das Gefühl, allein dazustehen und Sorge, abgelehnt oder gemobbt zu werden. Deshalb verstecken sie sich. Ich hoffe, dass es nur eine vorübergehende Erscheinung ist. Aber auch lange vor dem 7. Oktober haben unsere Kinder immer mal wieder negative Erfahrungen machen müssen.
Wie groß ist das Antisemitismus-Problem an Schulen?
Aufgrund der Situation im Nahen Osten geht der Antisemitismus gerade vor allem von extremistischen Muslimen aus. Aber wir haben Antisemitismus aus vielen Richtungen – und auch an fast allen Schulen.
>>> In einem Gastbeitrag für die WAZ-Gelsenkirchen hat Judith Neuwald-Tasbach Ihre Geschichte niedergeschrieben. Den Text lesen Sie hier: Gelsenkirchener Juden: Leid und Hoffnung der Familie Neuwald
Wie zeigt sich das im Schulalltag?
Schüler haben mir zum Beispiel erzählt, dass an ihrer Schule der Hitlergruß gezeigt wird oder Hakenkreuze an die Wände gemalt werden. Als ich mal einen Vortrag vor einer Klasse gehalten habe, habe ich gemerkt, dass mich die Schüler, die mir direkt gegenüber saßen, ganz genau angeschaut haben. Da habe ich gefragt, warum sie mich so angucken. Ein Mädchen sagte: „Wir wollten mal fragen, ob Sie Jüdin sind?“ Ich antwortete: „Klar, deshalb sitze ich doch hier. Warum fragst Du?“ Da sagte sie zu mir: „Sie sehen gar nicht so aus.“ Da fragte ich sie: „Was denkst Du denn, wie sollte ein Jude aussehen?“ Ihre Antwort war wirklich erschreckend: „Jedenfalls nicht so normal wie Sie.“ Das hat mir gezeigt: In den Köpfen vieler ist immer noch der Gedanke, dass Juden anders sind. Was mich auch sehr betroffen gemacht hat: Ein Junge, der ungefähr 15 Jahre alt war, hat mich während einer Führung in der Synagoge mal gefragt: „Stimmt es, dass Hitler doch nur zwei Monate länger hätte ,arbeiten‘ müssen, dann gäbe es heute keine Juden mehr?“ Das hatte sein Vater ihm erzählt.
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Haben Lehrkräfte zu lange weggeschaut, wenn es um Antisemitismus in Ihrer Klasse geht?
Das würde ich nicht sagen. Aber sie haben manchmal nicht so genau hingeschaut. Es gibt Schulen, die sensibilisiert sind. Aber oft ist es so, dass Lehrer nach einem antisemitischen Kommentar bloß reagieren mit: „Das darfst Du nicht sagen.“ Und dann geht der Unterricht normal weiter. Dabei sollten Lehrer in so einer Situation eher überlegen: Was mache ich mit diesem Schüler? Wie kann ich ihm und seiner Klasse helfen, Vorurteile abzubauen?
Wie kann das gelingen?
Es darf kein trockener Geschichtsunterricht sein. Im Gegenteil. Man erreicht Kinder und Jugendliche am besten mit Emotionen. Ich war etliche Male zu Gast in Schulen, um Vorträge zu halten und habe mehrere Klassen pro Woche durch unsere Synagoge geführt. Dabei habe ich den Schülern immer sehr plastisch erzählt, was meine Eltern erleben mussten. Zum Beispiel, dass meine Mutter ihren Eltern dabei zusah, wie sie in Auschwitz in die Gaskammer gingen. Ich merke, dass meine Erzählungen die Kinder betroffen machen. Nur so kann man ihnen die Geschichte wirklich nahebringen.
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Das dürfte in Zukunft zu einer immer größeren Herausforderung werden: Viele Holocaust-Überlebende sind mittlerweile verstorben. Wie kann Erinnerungskultur ohne Zeitzeugen oder ihre Nachkommen gelingen?
Es ist sehr wichtig, dass Schüler eine Gedenkstätte besuchen. Da bekommen sie ein Gefühl dafür, was den Menschen damals passiert ist. Und es gibt zum Glück wunderbare Projekte, wie „Zweitzeugen“. Da setzen sich Menschen intensiv mit dem Schicksal eines Zeitzeugen auseinander und erzählen dieses dann in seinem oder ihrem Namen weiter. Man muss aber auch über heutiges jüdisches Leben aufklären. Auch da gibt es tolle Projekte, zum Beispiel „Meet a Jew“ („Triff einen Juden“).
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Dabei besuchen Jüdinnen und Juden Schulklassen und erzählen von ihrem Leben und ihrem Glauben. Das Projekt ist seit dem 7. Oktober allerdings vielerorts ausgesetzt, weil die Angst vor Anfeindungen zu groß ist.
Das kann ich verstehen. Ich habe immer wieder selbst Antisemitismus in meinem Leben erlebt. Aber ich glaube, dass wir momentan in einer Zeit leben, in der der Hass sehr bedenklich wird. In den Sozialen Netzwerken werden Vorurteile und falsche Informationen sehr schnell gestreut. Und gerade für Kinder und Jugendliche ist oft alles, was online gesagt wird, Gesetz. Die Schulen haben viel Arbeit damit, dem entgegenzuwirken.
Einige Politiker fordern daher, dass in NRW eine zentrale Bildungsstätte geschaffen wird, an der sich Schüler, Lehrkräfte und Referendare weiterbilden können. Eine gute Idee?
Auf jeden Fall. Eine bessere Ausbildung ist sehr wichtig. Und so eine Bildungsstätte könnte Lehrer auch entlasten. Sie haben schließlich so viele verschiedene Aufgaben, dass im Schulalltag nicht für alles ausreichend Zeit bleibt. Dabei haben Schulen eine so große Verantwortung im Kampf gegen Antisemitismus.
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