Ruhrgebiet. Nur noch wenige Überlebende des Holocaust können in Schulen ihre Geschichte erzählen. Jetzt tragen junge Leute sie weiter. Über die Zweitzeugen.

Der Raum atmet Geschichtsunterricht. Hinten an der Wand hängt eine politische Karte Europas nach 1945. Links an der Wand stehen große Jahreszahlen, zu denen einem etwas einfallen könnte: 1648, 1871, 1989. Und doch steht nun eine junge Frau vor dem Stuhlkreis der Klasse 10e und fragt in die - Runde: „Habt ihr eine Ahnung, worum es heute gehen wird?“ Weniger um Jahreszahlen. Mehr um Erlebtes. Es wird eine besondere Geschichtslektion. Gegen das Verschwinden.

Denn im weiteren Verlauf der drei Stunden schlüpft Romina Leiding (32) ein bisschen in das Leben von Herta Goldman, geborene Tieberger (95). Die alte Dame lebt heute in Israel, langsam schwinden ihre Kräfte, ihre Überlebensgeschichte aus den Nazi-Jahren zu erzählen. Überhaupt: Die Überlebenden sind wenige geworden, und die Wenigen sind heute sehr alt. Deshalb gibt es ja Zweitzeugen wie Romina Leiding. Das ,w’ ist wichtig und richtig: Auf Zeitzeugen folgen zweite Zeugen.

„Durch ein Gesicht werden die ganzen Zahlen und Fakten plastisch“

Für Schüler und Schülerinnen aus der 10e ist es eine ganz andere Art von Geschichtsunterricht.
Für Schüler und Schülerinnen aus der 10e ist es eine ganz andere Art von Geschichtsunterricht. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Die Bildungsreferentin aus Dortmund wird also diesmal im Gymnasium Lessing-Schule in Bochum Herta Goldmans Geschichte erzählen. Man sieht das Bild der 95-Jährigen groß dahinter, manchmal hört man ihre Stimme auch im Original, das die Zweitzeugen vor wenigen Jahren aufgenommen haben. Zu 1942 etwa: „Die Großmutter, die Mutter und ich haben bekommen eine Karte mit der Post. Wir gehen in ein Arbeitslager, wir brauchen nur wenig mitzunehmen, dort ist alles da.“

Natürlich ist dieser amtliche Deportationsbescheid eine große Lüge: Für Großmutter und Mutter geht es ins Gas, für die damals 11-jährige Herta in die Sklaverei. Zwangsarbeit in einer Weberei. 1943. Die Schüler und Schülerinnen von 2023? Rafael, Louisa, Jill, Keyhan, Joshua, Johannes, Melisa, Marie und mehr? Schockiert, berührt und angefasst. „Intensiv hundertprozentig“, sagt Orges (15).

Die „Zweitzeugen“ sind ein Essener Verein mit etwa 15 Beschäftigten und 135 überwiegend jungen Ehrenamtlichen. Sie gehen bundesweit in Schulen und geben die persönlichen Geschichten von Holocaust-Überlebenden weiter, weil die das selbst kaum noch können. „Es sind die persönlichen Geschichten“, sagt Romina Leiding: „Durch ein Gesicht werden die ganzen großen Zahlen und Fakten plastisch.“

Das hungrige Kind träumt von Kuchen und betet um Brot

Der Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel hatte befürchtet, dass mit den Überlebenden ihre Geschichten verschwinden, vergessen werden - und dass dann die Gefahr besteht, dass sich die Nazi-Zeit wiederholt. „Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden“, so Wiesel - genau das ist das Prinzip Zweitzeuge.

Deshalb erzählt Romina von Herta. Ihre Geschichte beginnt in den 30er-Jahren, einer glücklichen Zeit für das kleine Mädchen: der große Garten mit den Obstbäumen. Die süßen, eingelegten Früchte, die nur am Sabbat auf den Tisch kommen. Herta, wie sie gern zur Schule geht. Kurzum: Sie hatte einen ganz normalen, unbedrohten Alltag - wie die Schüler heute.

Aber das ändert sich ja: Herta im Lager, das hungrige Kind, das um Brot betet und von Kuchen träumt. Fallschirme für die Wehrmacht muss sie weben. 1945 gelingt ihr auf einem Todesmarsch die Flucht. Jetzt erzählt wieder Herta selbst: „Ich bin gelaufen, habe nicht nach hinten geschaut, ob jemand schießt. 35 Mädchen sind damals weggelaufen, und die letzten fünf haben sie bemerkt und haben sie erschossen.“

Ihre Geschichten „haben mir den Boden unter den Füßen weggezogen“

Romina Leiding liegt am Herzen, Ausgrenzung und Diskriminierung zu bekämpfen. Auch in der Gegenwart.
Romina Leiding liegt am Herzen, Ausgrenzung und Diskriminierung zu bekämpfen. Auch in der Gegenwart. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Romina Leiding ist eine der Hauptamtlichen bei den Zweitzeugen. „Mein Herz brennt für dieses Thema“, sagt sie: „Heranwachsende über die Ausgrenzungen und Diskriminierungen von damals zu informieren, und dann aber auch das Heute zu betrachten.“ Die Gründerin und Vorsitzende Ruth-Anne Damm sagt es so: „Wir machen junge Menschen stark, sich für ihre Überzeugungen einzusetzen. Demokratische, offene Gesellschaften dauerhaft mitzugestalten.“

Damm und ihre Helfer haben in den letzten Jahren 37 Überlebende besucht und lange, lange interviewt. In Deutschland, in den Niederlanden, in Israel. Ihre Geschichten „haben mir den Boden unter den Füßen weggezogen“, sagt Damm. Sie haben diese Gespräche und Geschichten aufgeschrieben, aufgenommen, mitgefilmt. Etliche der 37 sind bereits gestorben.

Am Ende schreibt die 10e der Zeitzeugin Briefe

Nach eigener Zählung erreichen die Zweitzeugen im Jahr etwa 6000 junge Menschen. Sie bitten sie dann oft, den Überlebenden etwas zu schreiben. Ein kurzer Film zeigt den Lessing-Schülern eine andere Frau in Israel, die solche Briefe empfängt und die sagt: „Diese Briefe bedeuten mich als Mensch. Niemand hat mich gesehen als Mensch vier Jahre.“

Herta Goldman hat, als sie ihre Geschichte in Schulen in Israel noch selbst erzählte, immer eine Urkunde erbeten. Viele, viele Urkunden sind es geworden. „Wenn sie Briefe aus Deutschland bekommt, versteht sie die auch als Urkunden“, sagt Romina Leiding in der Klasse. Die 10e wird ihr in der Mittagszeit Briefe schreiben. Eine Gruppe von Mädchen malt gar eine - Urkunde. Herta Goldmans Geschichte lebt. Gegen das Verschwinden.