Düsseldorf. Warum man sich auch als Atheist jüdisch fühlen kann, erklärt die Leiterin eines Filmfestivals. Und wie der Krieg das Lebensgefühl verändert.
Was macht eigentlich das jüdische Leben in Deutschland aus? Die Religion ist es jedenfalls nicht, findet Polina Ivanova. Sie leitet das Paul-Spiegel-Filmfestivals in Düsseldorf und ist Chefredakteurin der Gemeindezeitung. „Jüdische Welten“ sind für sie gekennzeichnet durch eine Normalität, die Erwartungen bricht.
Wie erleben Sie den Angriff auf Israel persönlich?
Vorweg: Ich bin keine Israeli, aber ich habe Verwandte und Freunde dort. Der Kriegsausbruch hat mich tief getroffen. Und wenn ich ehrlich bin, auch viel tiefer berührt als der Angriff Russlands auf die Ukraine. Da habe ich auch Scham empfunden, da ich ursprünglich aus Moskau stamme. Hier stand die Angst um die Lieben im Vordergrund. Es ist nicht so, dass ich mich direkt um meine eigene Sicherheit Sorgen machte. Und dennoch stellt man doch diese Verbindung automatisch her und es fühlt sich merkwürdig an. Warum sollte ich mich hier unsicher fühlen, während 3000 Kilometer entfernt ein Krieg wütet? Aber so ist es. Wir alle wissen, dass dies direkte Auswirkungen auf das Leben der Juden in Deutschland haben wird.
Was macht der Krieg mit ihrer jüdischen Gemeinschaft in Düsseldorf?
Am Montagmorgen erreichte mich die WhatsApp einer ausländischen Freundin. Sie fragte, ob wir nun wieder im Homeoffice arbeiteten. Ich verstand das zunächst nicht und fragte nach, ob wir wieder Corona hätten. Natürlich ging es um die Sicherheit in der Gemeinde. Für mich ist es aber genau umgekehrt: Zuhause habe ich keinen Polizeischutz. Jedoch würde ich gerade keine Israelflagge am Auto anbringen.
„Jüdische Welten“ ist das Motto des Paul-Spiegel-Filmfestivals, das Sie kuratieren. Was sind für Sie jüdische Welten im Alltag?
Meine Idee ist, dass wir auch abseits des Holocaust „normale“ Juden sehen sollten. Dabei wird deutlich, dass Juden sich eigentlich gar nicht unterscheiden von Katholiken oder Protestanten. Manchmal organisieren wir auf Journalistenanfragen hin Drehs mit jüdischen Familien, die Feiertage traditionell feiern und sich entsprechend herausputzen. Dies betrifft vielleicht nur 20 Prozent oder weniger der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Das ist mir nicht fremd, aber es ist auch nicht meine eigene Welt. Und dennoch kann niemand behaupten, dass meine Welt nicht jüdisch sei.
Zu welchen Gelegenheiten im deutschen Alltag spielt es eine Rolle, ob man jüdisch ist oder nicht?
Natürlich steht die Frage nach Sicherheit an erster Stelle, was sehr unnatürlich und traurig ist. Wir haben einen großen jüdischen Kindergarten, eine Grundschule und ein Gymnasium in Düsseldorf. Auch bei Konzerten, Begegnungen, beim Filmfest und öffentlichen Führungen spiegelt sich das jüdische Leben. Ansonsten unterscheidet sich das Leben eines säkularen Juden aber nicht von dem der Nachbarn.
Was macht das jüdisch sein aus, jenseits der Religion?
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Ich kenne auch Atheisten, die jüdisch sind. In einigen Sprachen gibt es zwei verschiedene Wörter für jüdisch, eines für die Religionszugehörigkeit, eines für die Volkszugehörigkeit. Aber ich glaube, es ist: ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Auch das ist seltsam, wenn man drüber nachdenkt. Denn jüdische Menschen sind genauso gut oder schlecht wie alle, warum sollte man sich einem dann automatisch zugehörig fühlen? In meiner Kindheit in Russland spielte das Judentum im Alltag keine Rolle und wenn dann nur negative. Man hat es nicht verheimlicht, aber man wollte auch nicht auffallen. Menschen, die im gleichen Jahr in Israel geboren wurden, sind vielleicht eher stolz auf ihre Identität, mir ist dieses Narrativ nicht so mitgegeben worden. Ich kann also nicht genau sagen, wo und wann dieses Gemeinschaftsgefühl entsteht, dennoch gibt es das.
Kann man nur privat jüdisch sein und Israel als politisches Thema ignorieren?
Nein, kann man nicht. Ich glaube, dass es bei allen diesen Hintergedanken gibt: Falls hier, wo ich gerade bin, etwas passieren sollte, dann gibt es dieses Land. In der Not kann Israel mein Fluchtort sein, mein neues Zuhause. Und so behält man Israel quasi im Auge, selbst wenn man jahrelang nicht darüber spricht.
Kennen Sie Menschen, die sich ganz vom Jüdischsein distanzieren?
Bestimmt gibt es die, wir haben ja 7000 Gemeindemitglieder in Düsseldorf. Aber ich kenne keine persönlich, die das so sehen. Jüdisch sein ist eine Gegebenheit, die einen Menschen ausmacht. Aber sie ist nicht die erste Eigenschaft, die ihn ausmacht.
Welche Folgen hätte es, wenn sie einen Israelaufkleber an ihr Auto machen?
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Ich würde morgens meine Räder kontrollieren, ob sie noch fest sitzen. Aber sehen Sie, ich trage einen Davidstern als Schmuck am Arm. Das fällt vielleicht nicht sehr auf, dennoch ist es für mich wichtig. In Düsseldorf fühle ich mich aber grundsätzlich sicher. Ich wurde selbst noch nie auf der Straße beleidigt oder angegriffen.
Welche Rolle spielt der arabische Antisemitismus?
Dazu kenne ich keine Daten. Da müsste man sich Studien anschauen. Es gibt Antisemitismus im rechten Spektrum, im linken Spektrum und es gibt auch islamistischen Antisemitismus. Um darüber zu sprechen, muss man die Statistik kennen, was ich nicht tue.
Weitet die AfD den Raum des Sagbaren aus?
Man muss nicht so weit gehen und kann auch nur auf die etablierten Parteien schauen, die jetzt alle ihre Solidarität mit Israel bekunden. Vor einer Woche haben sie noch Geld an die Hamas geschickt und keiner hat hinterfragt, wofür genau.
Die Grenze zwischen Kritik an Israels Politik und Antisemitismus ist eine feine. Können Sie erklären, wo sie verläuft?
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Ja, bei Google können Sie eine Definition des Wortes „israelkritisch“ finden. Aber gibt es das Wort bulgarienkritisch oder niederlandekritisch? Natürlich kann man Kritik äußern, aber das Wort als Beschreibung einer Haltung ist schon Ausdruck eines bestimmten Narrativs.
In der Corona-Krise haben sich viele Menschen Verschwörungstheorien angeschlossen, die auch antisemitische Bestandteile haben. Man müsse den Impfbefürworter Bill Gates stoppen, man werde schon sehen, woher der sein Geld habe – solche Sachen. Woran liegt es, dass das verfängt?
Die Sozialen Medien bilden nur ab, was die Menschen denken. Ja, der Antisemitismus im Netz hat zugenommen, aber das trifft auch auf Homophobie und Rassismus zu. Ich glaube, es sind keine neuen Gedanken, die man da äußert, die antisemitischen Haltungen sind schon da. Nun werden sie nur von mehr Menschen geäußert. Meine Mama hat immer gesagt, man solle seine Feinde kennen. Und vielleicht ist es in diesem Sinne auch gut, dass man nun das Ausmaß sieht.