Gelsenkirchen. Eingeritzte Hakenkreuze auf der Toilette der Synagoge, Hassdemos, aber auch eine große Solidaritätswelle. Aus dem Leben Gelsenkirchener Juden.
Es ist bedächtig ruhig im Inneren des jüdischen Gemeindezentrums in Gelsenkirchen. Pandemiebedingt sind die Räume immer noch verwaist, in denen sonst Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer hebräisch lernen, Theater spielen, in der hauseigenen Bibliothek stöbern und in der Synagoge singen und beten. Judith Neuwald-Tasbach wünscht sich derzeit nichts mehr, als dass das normale Leben so bald wie möglich wieder zurückkehrt an die Georgstraße.
Doch was bedeutet „normales Leben“ für die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen und andere Juden in der Stadt?
Hassdemo und Welle der Solidarität in Gelsenkirchen
Nach der antisemitischen Demonstration vor der Synagoge Anfang Mai, den hasserfüllten „Scheiß-Juden“-Sprechchören und der anschließenden Welle der Solidarität, ist die Beantwortung dieser Frage für Judith Neuwald-Tasbach noch einmal etwas schwerer geworden, wie sie sagt.
Auch nach mehr als einem Monat ist es fast so, als hallte das Gebrüll von der Straße immer noch mitten hinein in den Garten der Erinnerungen. Dorthin, wo Judith Neuwald-Tasbach jetzt vor der Wand mit den Namen der deportierten und überwiegend getöteten Gelsenkirchener Juden steht, wo die Namen so vieler ihrer Verwandten eingraviert sind.
Die Familie Neuwald und die Schoah
Wie der ihres Vaters Kurt Neuwald, dessen Vorfahren 1880 ein Spezialgeschäft für Bettware an der Arminstraße in Gelsenkirchen gründeten, das sie mehr als 50 Jahre führten, ehe nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten die wirtschaftliche Existenz der Familie sukzessive zerstört wurde.
In der Pogromnacht im November 1938 wurde das Geschäft verwüstet, die Familie musste ihr Haus und ihren Besitz unter Wert verkaufen. Kurt Neuwald wurde am 27. Januar 1942 zusammen mit seiner Familie in das Ghetto Riga deportiert. Nachdem er in verschiedene Arbeitslager verschleppt wurde, wurde Neuwald 1945 aus einem Außenlager des KZ Buchenwald befreit. Zusammen mit seinem Bruder Ernst gelang es ihm, sich in den letzten drei Tagen vor Ankunft der Amerikaner zu verstecken, womit sich beide dem Todesmarsch entzogen, dem viele Mithäftlinge zum Opfer fielen.
Von den 26 verschleppten Familienangehörigen haben 24 nicht überlebt, darunter auch Neuwalds erste Ehefrau. Den Holocaust überlebte außer Kurt Neuwald nur der jüngste Bruder Ernst.
„Wir brauchen mehr Begegnungen“
Auch ihr ansteckendes Lächeln kann die seelischen Narben nicht verstecken, mit denen Judith Neuwald-Tasbach – wie so viele Juden – aufgewachsen ist. Und dennoch hegt die Tochter des Gelsenkirchener Ehrenbürgers Kurt Neuwald keinen Groll. „Wir brauchen noch mehr Begegnungen“, sagt sie, wenn sie an die zumeist jungen Menschen denkt, die wenige Wochen zuvor eine Drohkulisse vor der Synagoge aufgebaut haben. „Wenn wir uns kennenlernen, wenn wir uns austauschen, wenn wir miteinander ins Gespräch kommen, dann können wir diesen Hass besiegen“, sagt die toughe Frau. „Und es muss ein steter Austausch sein“, so Neuwald-Tasbach.
Denn immer wieder erlebe sie auch persönlich, dass es trotz der Aufarbeitung der NS-Barbarei in den Schulen an Verständnis und Unrechtsbewusstsein fehle. So berichtet die 61-Jährige etwa von einem Schüler, der bei einem Ausflug seiner Klasse in die Gelsenkirchener Synagoge auf der Toilette des Gemeindezentrums ein Hakenkreuz in die Toilettenwand geritzt hat, und hinterher ebenso wie seine Eltern gar nicht habe verstehen können, warum das nicht nur eine abscheuliche sondern auch eine Straftat gewesen ist.
Neuwald-Tasbach sagt auch, dass es für Juden in Deutschland seit 2015 schwieriger geworden ist, weil viele Menschen eingewandert seien, die Juden als Feinde betrachten. „Aber ein Gelsenkirchener Jude trägt vor allem deshalb keine Kippa auf der Straße, weil er um die Bedrohung fürchtet, die schon länger da ist. Wegen der Nazis und ihrer geistigen Nachkommen, wegen einer großen schweigenden Mehrheit“, wie Neuwald-Tasbach sagt. „Wegen linksextremer und wegen einer realen Bedrohung muslimisch geprägter Antisemiten, die hier geboren und aufgewachsen sind“.
Dass insbesondere letztere Gruppe zur Bedrohung für ihre Jüdischen Mitbürger in Gelsenkirchen wird, während Teile davon selber Erfahrungen mit Ausgrenzung und Abneigung machen, stimmt Neuwald-Tasbach nachdenklich und traurig.
„Der Schlüssel für eine Veränderung dieser Situation liegt in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Sie sind den Vorurteilen, die sie zuhause, in der Schule und in ihrem Freundeskreis erleben, vollkommen ungeschützt ausgeliefert“, sagt die 61-Jährige.
Junge Gemeindemitglieder machen Hoffnung
Hoffnung macht, was zwei junge Mitglieder der Gemeinde berichten. „Ich fühle mich trotz allem sicher in Gelsenkirchen“, sagt die 20-Jährige Jüdin, die ihren Namen dennoch lieber nicht in der Zeitung veröffentlicht wissen will. „Ich habe mein Jüdischsein nie versteckt, aber ich präsentiere es auch nicht offensiv. Ich gehe Konflikten im Zweifel einfach aus dem Weg.“ Beleidigt oder bedroht worden sei sie wegen ihrer Religion eigentlich nur einmal vor einigen Jahren, als ihr Mitschüler Yusuf T., der spätere Salafist und Tempelbomber von Essen, ihr schwere Gewalt angedroht habe. [Lesen Sie hier: Seit fünf Jahren sitzt Yusuf T. im Knast. Jetzt erzählt er, wie er zum Terroristen wurde.]
„Mich hat das damals kalt gelassen, meine Lehrer haben gleich reagiert und Antisemitismus noch einmal im Unterricht thematisiert“, berichtet die junge Frau. Doch manche ihrer jüdischen Freunde hätten durchaus Angst bekommen.
Keine Kippa in der Öffentlichkeit
Auch der 14-jährige Emil* erzählt, dass er in Gelsenkirchen keine Diskriminierung erfahre, er aber in der Öffentlichkeit dennoch keine Kippa tragen würde. Dafür habe er schon zu oft von brutalen Überfällen auf Kippa-Träger gelesen. Und auch die Gelsenkirchener Gemeinde rät ihren Mitgliedern aus diesem Grund nicht zum Kippatragen auf der Straße. „Ich wurde bisher zwar noch nie blöd angemacht, aber ich will auch keinen Ärger provozieren“, sagt Emil.
Dass es immer noch – auch junge – Menschen in der Stadt gibt, die Juden verachten, kann Emil nicht verstehen. „Das schmerzt“, sagt der Teenager, wenn er an die Bilder von der Demo vor der Synagoge denkt, und fügt resigniert an: „Die kennen uns doch gar nicht“.
Und auch Judith Neuwald-Tasbach sagt mit Trauer in der Stimme, dass es unendlich viel Kraft koste und den festen Glauben an das Gute im Menschen, um immer wieder das Gespräch und die Begegnung zu suchen, damit der Antisemitismus bekämpft werden kann.
Doch schon Sekunden später kehrt das Lächeln schon wieder zurück in ihr Gesicht und sie sagt: „Die zahlreichen berührenden und mutmachenden Solidaritätsschreiben und -Besuche geben uns die Kraft und den Mut weiterzumachen“.
Neuwald-Tasbach streicht sanft über den eingravierten Namen ihres Vaters. „Eines Tages“, hofft sie, wird es nicht mehr nötig sein, dass immer ein Streifenwagen vor der Synagoge Wache hält.
„Mein Haus ist ein Haus der Gebete für alle Völker“ – so steht es außen an der Fassade des Jüdischen Gemeindezentrums. Ein Zitat aus dem Buch Jesaja und der sehnlichste Wunsch der Gemeindevorsitzenden.
*Name geändert