Gelsenkirchen. Kurt Neuwalds Familie wurde von Nazis ermordet. Doch er kehrte nach Gelsenkirchen zurück und ermöglichte jüdisches Leben. Seine Tochter berichtet

Judith Neuwald-Tasbach ist die Tochter des Gelsenkirchener KZ-Überlebenden Kurt Neuwald und Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen. 2023 wird die 62-Jährige nach 15 Jahren im Amt nicht mehr für den Vorsitz der hiesigen Gemeinde kandidieren. Ihr Leben, Wirken und ihre Familiengeschichte ist indes für immer untrennbar mit dem unbeschreiblichen Leid, das den Jüdinnen und Juden in Gelsenkirchen zugefügt wurde, verbunden. Es ist aber auch eine Geschichte der Vergebung, des Friedens, der Liebe und der Hoffnung - eine Inspiration. Ein Gastbeitrag von Judith Neuwald-Tasbach.

Ich hatte dank meiner lieben Eltern eine wundervolle Kindheit und sie haben – ohne dass ich es damals verstanden habe – den Grundstein für meine heutige Arbeit gelegt. Beide haben sie Schreckliches im Dritten Reich durchleiden müssen, ihre Lieben wurden unbarmherzig ermordet, sie haben Entrechtung, Ausgrenzung, Verfolgung und entsetzliche Quälerei erfahren. Es ist wirklich ein Wunder, dass sie und andere Überlebende sich nach der Rückkehr aus den KZ‘s/Arbeitslagern entschieden haben, die bis heute über 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland nicht abrupt enden zu lassen. So hatte Hitler es doch geplant, Deutschland sollte „judenrein“ werden, und genau das durfte doch nicht geschehen!

Mein Vater kam 1906 als Sohn einer alteingesessenen Gelsenkirchener Familie zur Welt. Sein Großvater hatte in der Arminstraße ein Betten-Spezialgeschäft eröffnet, das später an den Sohn, dann an den Enkel ging. Jüdisches Leben war zur Jugendzeit meines Vaters ein selbstverständlicher Teil des städtischen Lebens in Gelsenkirchen.

Ab 1933 änderte sich das rasch und in einem erschreckenden Ausmaß. Das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, ist zum Einen, seinem schrecklichen Schicksal ausgeliefert zu sein und nicht entkommen zu können, und zum Anderen, von allen verlassen zu sein, niemanden zu haben, der helfen würde. Und genau das ist den jüdischen Bürgern dieses Landes damals passiert. Waren sie vorher auch angesehene Kaufleute, Ärzte, Lehrer oder auch Künstler, waren sie ab dem Moment dann Untermenschen, die es erbarmungslos zu vernichten galt.

Das Todesurteil über sie war ja schon gesprochen, es war nur noch die Frage, wann und wie es passieren würde. Und es gab nur sehr selten jemanden, der den verzweifelten Menschen geholfen hat. Diese wenigen Mutigen waren ein Licht in der Dunkelheit, aber die Dunkelheit war stärker als das Licht.

„Von 26 Mitgliedern meiner Familie haben 24 das Dritte Reich nicht überlebt“

Der sogenannte Judenstern war ein vom nationalsozialistischen Regime am 19. September 1941 durch Polizeiverordnung für das Gebiet des Deutschen Reichs und des Protektorats Böhmen und Mähren eingeführtes öffentliches Zwangskennzeichen für Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 als Juden galten.
Der sogenannte Judenstern war ein vom nationalsozialistischen Regime am 19. September 1941 durch Polizeiverordnung für das Gebiet des Deutschen Reichs und des Protektorats Böhmen und Mähren eingeführtes öffentliches Zwangskennzeichen für Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 als Juden galten. © Michael Korte

Während der Pogrome im November 1938 wurde auch das Geschäft meiner Familie verwüstet, nach weiteren Entrechtungen und Ausplünderungen wurden schließlich Vater und Mutter, Onkel und Tanten und Brüder wie auch mein Vater selbst und seine erste Frau Rosa verschleppt. Von 26 Mitgliedern meiner Familie haben 24 das Dritte Reich nicht überlebt.

Nur mein Vater Kurt und sein Bruder Ernst haben überlebt. Aber auch nur durch Zufall. Mein Vater musste Zwangsarbeit in einem Außenlager von Buchenwald in einer Munitionsfabrik in Magdeburg leisten. Da die Amerikaner schon ganz nah waren, wollten die SS-Leute noch schnell alle Zwangsarbeiter erschießen. Bei dem Marsch über die Felder kam ein Bombenangriff und in dem großen Durcheinander konnten sich mein Vater und sein Bruder in einem Erdloch verstecken und entgingen so der Erschießung.

Dann waren die amerikanischen Befreier da und mein Vater ging im April 1945 nach all dem, was er erleiden musste, in seine Heimatstadt Gelsenkirchen zurück. Aus heutiger Sicht kann ich mir das nur sehr schwer vorstellen, was für eine Kraft und Stärke das wohl bedeutet hat. Das treibt mich bis heute an, dieser unbedingte Wille von ihm, trotz alledem oder gerade deshalb jüdisches Leben wieder in Gelsenkirchen heimisch werden zu lassen.

Zurück in die Stadt, die ihm all das angetan hatte - zurück nach Gelsenkirchen

Er ging zurück in die Stadt, die ihm und der ganzen Familie all das angetan hatte – denn die Gelsenkirchener haben ihn ja nicht geschützt, etliche haben sich an der Verfolgung ihrer jüdischen Mitbürger beteiligt, jeder hatte ihre zunehmende Entrechtung mitbekommen, die Deportation geschah ja nicht im Geheimen. Viele haben aktiv mitgemacht und viele haben einfach weggeschaut, und die jüdischen Mitbürger im Stich gelassen.

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Mein Vater kehrte zurück und blieb hier, sein Leben lang. Er kam zurück in seine Heimatstadt, weil er einfach nicht akzeptieren wollte, dass ihm die Nazis und ihre vielen Helfer die Heimat raubten. Er hat Gelsenkirchen nicht den Tätern überlassen wollen. Er eignete sich die Stadt, in der er aufgewachsen ist, wieder an: sich selbst, seiner Familie, den Menschen seines Glaubens, den Menschen, die Achtung vor anderen haben, egal welchen Glauben sie haben oder wo sie herkommen.

Kurt Neuwald mit dem damaligen Ministerpräsidenten von NRW, Johannes Rau, bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Gelsenkirchen.
Kurt Neuwald mit dem damaligen Ministerpräsidenten von NRW, Johannes Rau, bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Gelsenkirchen. © WAZ | Martin Möller

Nach seiner Rückkehr kümmerte sich mein Vater sofort um seine Mitmenschen und half den aus den Lagern zurückkehrenden traumatisierten Menschen. Er kümmerte sich um die Wiederbelebung des jüdischen Lebens, mit anderen Überlebenden gründete er ein Hilfskomitee, aus dem schließlich die Jüdische Kultusgemeinde Gelsenkirchen hervorging. Man kann sagen, dass mein Vater ganz entscheidend die Verbindung herstellte zwischen dem jüdischen Leben vor 1933 und dem nach der Befreiung. Er hat zusammen mit anderen wesentlich für den Fortgang des jüdischen Lebens in Gelsenkirchen gesorgt und allein dadurch Unschätzbares für das Gemeinwesen geleistet. Ohne diesen großen Mut gäbe es heute kein jüdisches Leben hier, keine Synagoge in Gelsenkirchen.

Nach 1944 brach die heile Welt mit Kinderspielen und Geborgenheit auf einmal zusammen

Meine Mutter wuchs in Sighet in einer orthodoxen jüdischen Familie auf, mit ihren Eltern Mindel und Jakob und den drei Schwestern Maria, Adele und Charlotte und den beiden kleinen Brüdern Emmanuel und Moses. Sie lebten ein sehr beschauliches Leben in der kleinen Stadt in Siebenbürgen, wo die Hälfte der Einwohner fromme Juden waren. Das war eine heile Welt und die Kinder der Familie Basch wuchsen sorglos und sehr behütet und geborgen auf. Im Hause Basch wurde viel erzählt, gelacht und viel gespielt, es war eben eine ganz normale Familie mit sechs lebhaften Kindern.

Jeden Freitagabend nach dem Schabbatessen saß die Familie immer noch zusammen am Tisch. Man aß Kürbiskerne und Nüsse und erzählte sich Geschichten. Meine Mutter Cornelia, die Älteste, las oft aus einem Buch und erzählte etwas. Es war immer sehr gemütlich und das Leben war schön. Cornelia, 23 Jahre alt, war schließlich mit dem Hauslehrer, Herschie Fisch, verlobt und alles sollte seinen Gang gehen, der ja irgendwie vorgegeben schien.

Das Torhaus des Konzentrationslagers Auschwitz. Dort kamen mindestens 1,1 Millionen Menschen um ihr Leben, genaue Zahlen sind nicht vorhanden. Auch ein Teil der Familie von Judith Neuwald-Tasbach wurde in dieses KZ verschleppt.
Das Torhaus des Konzentrationslagers Auschwitz. Dort kamen mindestens 1,1 Millionen Menschen um ihr Leben, genaue Zahlen sind nicht vorhanden. Auch ein Teil der Familie von Judith Neuwald-Tasbach wurde in dieses KZ verschleppt. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Robert Michael

Aber dann brach 1944 die heile Welt mit Kinderspielen und Geborgenheit auf einmal zusammen und nichts würde je wieder so sein, wie es gewesen ist. Die deutsche Wehrmacht marschierte in Sighet ein und am Pfingstsonntag begannen die Deportationen nach Auschwitz. Als Mutter Mindel und die sechs Kinder nach Auschwitz kamen, mussten sie sich alle in eine Reihe stellen, wo aussortiert wurde. Wer zu jung, zu alt oder zu krank zum Arbeiten war, musste nach links gehen. Die Mutter mit den beiden Jungen an der Hand musste nach links gehen. Es war der 19. Mai 1944, als die Mutter und die beiden kleinen Jungen, Emmanuel, der nur 14 Jahre alt wurde, und Moses, der nur 11 Jahre alt wurde, in die Gaskammern von Auschwitz getrieben wurden.

Die verängstigten vier Mädchen mussten nach rechts gehen und kamen in das Lager. Cornelia war 23 Jahre, Maria 21, Adele 19 und Sarah war 17 Jahre alt. Ständig hatten die Mädchen Angst, dass die beiden Kleineren, Maria und Sarah, aussortiert werden würden und so haben sie alle sich immer ganz gerade gereckt, um größer zu erscheinen, als sie waren. So ging es sechs Wochen lang. Es half jedoch alles nichts, bei einem der Appelle wurden die vier Mädchen doch getrennt.

Cornelia und Adele kamen in das Zwangsarbeiterlager der Firma Gelsenberg in Gelsenkirchen, und Maria und Sarah einen Tag später zunächst nach Wilhelmshaven, dann für zwei Wochen nach Altona, dann nach Eidelstedt und schließlich, drei Tage vor der Befreiung durch die Alliierten, nach Bergen-Belsen. Am 15. April 1945 wurden Maria und Sarah in Bergen-Belsen von den Engländern befreit. Dort grassierte jedoch Typhus und Sarah lag mit der Krankheit im Krankenhaus. Maria erfuhr zufällig, dass Cornelia und Adele in Gelsenkirchen waren und fuhr mit Sarah im Juni 1945 dorthin.

Cornelia und Adele hatten Schreckliches mitgemacht; sie waren Zwangsarbeiterinnen in einem Werk, das Flugzeugbenzin herstellte und daher häufig von den Alliierten aus der Luft angegriffen wurde. Als das Werk bei einem großen Angriff zerstört wurde, wurden Cornelia und Adele sowie andere schwer verletzt und hätte es nicht den mutigen Chefarzt Dr. Bertram gegeben, der die Frauen im Krankenhaus nicht nur gesund pflegte, sondern sie auch vor der Gestapo versteckte, hätte Cornelia nicht überlebt.

Die neue Liebe, die neue Hoffnung in Gelsenkirchen

Nach Kriegsende haben sich mein Vater und meine Mutter in Gelsenkirchen kennen und lieben gelernt. Sie heirateten, gründeten eine Familie und bekamen zwei Töchter. Beide zusammen bauten das zerstörte elterliche Bettengeschäft an der Arminstraße wieder auf. Leider ist meine Mutter 1969 wahrscheinlich an den Folgen der Arbeitsumstände in der Zwangsarbeit viel zu früh verstorben. Mein Vater, hat das Geschäft nach dem Tod meiner Mutter verpachtet und sich voll für den Aufbau des jüdischen Lebens in Deutschland engagiert. Er war unter anderem Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des Landesverbands der jüdischen Kultusgemeinden Westfalen-Lippe und Mitbegründer des Zentralrates der Juden in Deutschland, und war in zahlreichen anderen Funktionen tätig.

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Die Stadt Gelsenkirchen hat ihn zu ihrem Ehrenbürger ernannt und für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. Als es zur Ordensverleihung kam, schrieb ihm Johannes Rau: „Sie haben wie kaum ein anderer diese Auszeichnung verdient“.

Judith Neuwald-Tasbach: „Ich bin mir sicher, mein Vater würde sich freuen, dass hier am Ort der alten Synagoge wieder neues jüdisches Leben entstanden ist und die alten Traditionen von Generation zu Generation weitergegeben werden.“
Judith Neuwald-Tasbach: „Ich bin mir sicher, mein Vater würde sich freuen, dass hier am Ort der alten Synagoge wieder neues jüdisches Leben entstanden ist und die alten Traditionen von Generation zu Generation weitergegeben werden.“ © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Es ist schade, dass mein Vater Kurt, seligen Angedenkens, den Bau der Neuen Synagoge, die am 1. Februar 2007 eingeweiht wurde, nicht mehr erlebt hat. Hier ist wieder ein „Haus der Gebete für alle Völker“ entstanden, in dem viel jüdisches Leben stattfindet, und das heute ein Haus für jüdische Religion und jüdische Kulturveranstaltungen geworden ist. Im Kurt-Neuwald-Saal finden ganz viele Veranstaltungen zu allen Aspekten der jüdischen Religion und Kultur und auch Gedenkveranstaltungen statt.

Ich bin mir sicher, mein Vater würde sich freuen, dass hier am Ort der alten Synagoge wieder neues jüdisches Leben entstanden ist und die alten Traditionen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sein Leben soll uns alle täglich dazu anspornen, Hass und Unrecht zu bekämpfen, damit sich das Grauen, das er erleben musste, niemals wiederholt.