Essen/Düsseldorf. Weniger Schüler, mehr Lehrer - ist der Mangel ein Märchen? Statt Unterricht geben zu können, müssen sie immer mehr Zusatzaufgaben übernehmen.
Es heißt, in NRW sei der Lehrkräftemangel dramatisch. Aber stimmt das überhaupt? Die WAZ hat das Statistische Landesamt um Prüfung gebeten. Das Ergebnis überrascht: Noch nie gab es in NRW so viele Lehrer und so wenige Schüler.
Schaut man auf die reinen Zahlen, dann könnte sich NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) ihr „Handlungskonzept Unterrichtsversorgung“ sparen. Denn an der Statistik lässt sich ein Lehrermangel nicht ablesen.
Nach Angaben des Amtes IT.NRW besuchten im Schuljahr 2005/06 mehr als 2,3 Millionen Kinder und Jugendliche eine Schule in NRW. Bis zum Jahr 2021/22 sank ihre Zahl auf gut 1,9 Millionen. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Lehrkräfte über alle Schulformen von knapp 160.000 auf 181.000 - ein Plus von mehr als 21.000 . Das Betreuungsverhältnis zwischen Lehrkräften und Schülern hat sich demnach beständig verbessert.
Entlastungsstunden für zusätzliche Aufgaben
Gibt es also keinen Lehrermangel? Kommt darauf an. „Wenn man alle zusätzlichen Aufgaben, die den Schulen von der Politik aufgebürdet wurden, streichen würde, dann hätten wir mehr Lehrer als wir brauchen“, sagt der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm. Dennoch herrsche Lehrermangel. „Der Aufwuchs der Stellen erklärt sich durch zusätzliche Aufgaben, die mit Entlastungsstunden abgegolten werden.“ Etwa für Förderunterricht, Inklusion oder Sprachförderung, was gerade in den Städten des Ruhrgebiets unerlässlich sei.
Auch interessant
Jeder Schule stehen Entlastungs- oder Anrechnungsstunden zur Verfügung. Sie werden für besondere Aufgaben gewährt, im Gegenzug dürfen die Lehrkräfte weniger unterrichten. Das gilt zum Beispiel für Korrekturen, die Betreuung ausländischer Schülerinnen und Schüler, Projekte wie Schüleraustausch. „Das kann man alles wegfallen lassen, dann haben wir keinen Lehrermangel mehr“, sagt Klemm. Aber das wäre „Augenwischerei.“
Tausende Stellen für den Ganztag
„Wenn wir nur auf die Statistik sehen, hätten wir an den Schulen paradiesische Zustände“, sagt auch Ayla Celik, Chefin der Bildungsgewerkschaft GEW in NRW. „Aber so ist es leider nicht.“ Zum Beispiel seien allein 3700 Stellen für die Ganztagsbetreuung notwendig, die 60 Talentschulen würden 370 zusätzliche Stellen binden.
Zudem sei die Teilzeitquote vor allem an Grundschulen gestiegen, und die Aufgaben für Schulleitungen beständig gewachsen, wofür Unterrichtsstunden benötigt würden. „Man kann nicht einfach die Zahl der Lehrkräfte durch die der Schüler teilen, das ist unrealistisch“, so Celik. 40.000 geflüchtete Schulkinder aus der Ukraine seien in der Statistik noch gar nicht enthalten.
Laut dem NRW-Schulministerium ist das Plus bei den Lehrkräften den Herausforderungen geschuldet: „Lehrerinnen und Lehrer unterrichten heute in Klassen, in denen Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Fähigkeiten sitzen.“ Die Anrechnungsstunden seien immer noch geeignet, um Lehrkräfte zu entlasten.