Düsseldorf. Die Politik will mehr Seiteneinsteiger in den Schulen. Andrea S. aus Witten scheiterte aber an den komplizierten Anforderungen.
NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) hat den Kampf gegen den Lehrermangel zur zentralen Aufgabe ihrer Amtszeit erklärt. In NRW sind rund 8000 Lehrerstellen derzeit nicht besetzt. Vor allem an Grundschulen ist die Situation prekär, allein hier fehlen aktuell 3400 Lehrkräfte. Feller kündigte deshalb im WAZ-Videotalk an, den Zugang für Seiteneinsteiger zu erleichtern. Auch eine verbesserte Besoldung stellte sie in Aussicht.
Doch offenbar scheitern manche Interessenten auf ihrem Weg in die Klassen. So wie Andrea S.* (Name geändert) aus Witten. Die studierte Diplom-Kauffrau gab ihre Bemühungen, an einer Grundschule unterrichten zu dürfen, nach zwei Jahren entnervt auf.
Der Plan: Mit 45 noch einmal komplett neu durchstarten
„Lehrerin war schon als Kind mein erster Berufswunsch“, erinnert sich Andrea S. (47). Es kam anders, aus verschiedenen Gründen studierte sie später Betriebswirtschaft und arbeitete als Produktmanagerin. Doch während der Pandemie kam die frühe Leidenschaft zurück als sie bemerkte, welche Freude ihr das Unterrichten ihrer beiden Kinder, die die 8. Klasse und die Oberstufe besuchen, im Homeschooling machte. „Mathe liegt mir.“ In den Medien hörte sie, dass Seiteneinsteiger gesucht werden. „Also habe ich mit 45 Jahren beschlossen, noch einmal komplett neu durchzustarten.“
Doch schnell habe sie gemerkt: „Das ist wahnsinnig schwer. Überall wurden mir Steine in den Weg gelegt.“ Beim Schulamt habe man sie herablassend gefragt, was sie mit ihrem Studium den Kindern überhaupt beibringen wolle. Sie habe sich wie eine Bittstellerin gefühlt. Knapp zwei Dutzend Bewerbungen auf freie Stellen habe sie verschickt, meist kam nicht einmal eine Antwort. Nach einem Vorstellungsgespräch an einer Dortmunder Realschule habe man ihr mit der Begründung abgesagt, sie habe keine Berufserfahrung als Lehrkraft. „Aber das war ja schon vorher klar. Ich habe mich ja als Seiteneinsteigerin beworben“, so die 47-Jährige.
Erst Hoffnung, dann die große Enttäuschung
Nachdem sie schon fast alle Hoffnungen aufgegeben hatte, wurde das Aktionsprogramm „Ankommen und Aufholen“ nach Corona gestartet. Ab Januar 2022 arbeitete sie befristet ein Jahr lang als Vertretungslehrerin an einer Grundschule in einem schwierigen Stadtteil. „Da habe ich auch mal eine ganze Klasse unterrichtet. Ich sehe ja, was an Schulen los ist. Man sollte sich über jeden freuen, der so idealistisch ist, unterrichten zu wollen“, sagt sie. Eine weitere Beschäftigung war nach dem Ende des Programms nicht möglich. Den Traum, Lehrerin zu werden, hat sie endgültig begraben.
Laut Lehrerausbildungsgesetz ist in Grundschulen ein Seiteneinstieg nur für Kunst, Musik, Sport und Englisch möglich. Mathe und Deutsch sind ausgenommen, da in diesen Fächern die pädagogischen Anforderungen besonders hoch seien. „Aber wenn es diese Lehrer doch nicht gibt?“, wirft Andrea S. ein. „Mathe bis zur vierten Klasse zu unterrichten, traue ich mir als Hochschulabsolventin und Mutter von zwei Kindern durchaus zu.“
GEW-Landeschefin Celik: "Seiteneinsteiger werden ins kalte Wasser geworfen"
Ayla Celik, Chefin der Bildungsgewerkschaft GEW in NRW, kennt solche Fälle: „Hier wird eine unsinnige Hürde aufgebaut“, sagt sie. Ein akademischer Abschluss und eine fachdidaktische und pädagogische berufsbegleitende Ausbildung sollten es durchaus ermöglichen, zu unterrichten, meint Celik. Gerade an Grundschulen sei der Lehrermangel eklatant, vor allem in sozial benachteiligten Stadtteilen. Beispiel Duisburg: Von 99 Stellen, die zum Schuljahresanfang ausgeschrieben wurden, konnten nur neun besetzt werden, sagt Celik.
Seiteneinsteiger benötigten zudem Coaching-Programme. Celik: „Derzeit werden sie ins kalte Wasser geworfen.“ So bleibe nicht nur das Recht der Kinder auf guten Unterricht auf der Strecke, „sondern häufig auch die Menschen, die sich auf diesen Weg gemacht haben“. Wie zum Beispiel Andrea S.
Die NRW-Landesregierung weckt aber nun Hoffnungen auf einen unkomplizierteren Seiteneinstig ins Lehramt und hat dabei die Opposition auf ihrer Seite. „Ohne Seiteneinsteiger wird es nicht gehen“, hatte NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) im WAZ-Videotalk gesagt. SPD, FDP sowie Bildungsgewerkschafter halten diesen Weg für richtig und fordern schnelle Erleichterungen für Menschen, die kein „klassisches“ Lehramtsstudium absolviert haben, aber unterrichten möchten.
Etwa jede zehnte Lehrkraft in NRW ist Seiteneinsteigerin oder Seiteneinsteiger
Derzeit ist etwa jede zehnte Lehrkraft in NRW ein Seiteneinsteiger. Im vergangenen Jahr wurden 533 eingestellt, in diesem Jahr bis zum 7. November 627. Der Anteil der Seiteneinsteiger an allen Einstellungen beträgt aktuell 7,9 Prozent. Ministerin Feller stellte im Gespräch mit der WAZ eine bessere Bezahlung in Aussicht: Von der stufenweisen Anhebung der Besoldung für alle Lehrkräfte auf A13 könnten auch Seiteneinsteiger profitieren.
Die NRW-Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Ayla Celik, sagte dieser Redaktion: „Wenn nicht genügend grundständig ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung stehen, könnten Seiteneinsteiger eine Hilfe und Bereicherung sein.“ Sie benötigten aber Perspektiven und eine angemessene Bezahlung.
SPD wirbt für "Ein-Fach-Lehramt" und Einbeziehung der Fachhochschulen
„Um berufs- und lebenserfahrenen Menschen aus Wirtschaft oder Handwerk für den Lehrberuf zu gewinnen, müssen wir den Seiteneinstieg vereinfachen“, sagt auch SPD-Landtagsfraktionsvize Jochen Ott. Das gehe beispielsweise über das „Ein-Fach-Lehramt“ mit der Möglichkeit zur Weiterbildung und durch die Einbeziehung der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (Fachhochschulen). „So können wir gezielt Lehrkräfte für Berufskollegs und „MINT“-Fächer wie Mathematik und Naturwissenschaften gewinnen.“ Seiteneinsteiger benötigten mehr berufsbegleitende Unterstützung, eine umfassende pädagogische Ausbildung, und sie dürften finanziell nicht benachteiligt werden, so Ott.
FDP ist für "unbürokratische Eignungsprüfungen"
„Der Seiteneinstieg muss besser beworben und qualitätsvoll umgesetzt werden“, unterstreicht Andreas Pinkwart, Schul-Experte der FDP im Landtag, gegenüber dieser Redaktion. Im Rahmen ihrer „Lehrerstellenoffensive“ setzt sich die FDP für unbürokratische Eignungsprüfungen vor allem für jene ein, die schon in den Schulen unterstützend tätig sind. „Sie könnten gerade an Grundschulen schneller und flexibler in den Lehrerberuf übernommen werden“, sagte Pinkwart.
Die Liberalen schlagen zudem vor, Praxisanteile bereits während der Lehramtsausbildung und dem Vorbereitungsdienst zu erhöhen und Theorieanteile nach hinten zu verschieben, um die Unterrichtsversorgung zu verbessern. Verbesserungsbedarf sieht die FDP auch beim Einstellungsverfahren, das derzeit zweimal jährlich durchgeführt wird. Pinkwart: „Wir wollen durch unterjährige Einstellungen die Chance erhöhen, dass die Schulen neue Lehrkräfte gewinnen.“
Vier Wege zum Seiteneinstieg
Barrierearm ist der Seiteneinstieg in NRW jedenfalls nicht. Dies sind laut dem Schulministerium die bisherigen Möglichkeiten:
Erstens: Wer ein nicht-lehramtsbezogenes Studium mit sieben Semestern absolviert hat, zwei Jahre Berufserfahrung nachweisen kann und mit einer positiven Prognose über die Ausbildungsfähigkeit in zwei Fächern in den Schuldienst eingestellt wird, absolviert einen zweijährigen berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst und legt eine Staatsprüfung ab. Diese Seiteneinsteiger sind dann den „grundständig“ ausgebildeten Lehrkräften gleichgestellt. Eine Verbeamtung ist unter Umständen möglich.
Zweitens: Seiteneinsteiger mit Hochschulabschluss, die eine der Voraussetzungen für die Teilnahme am berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst nicht erfüllen, absolvieren eine einjährige Pädagogische Einführung und erwerben damit eine Unterrichtserlaubnis für das der Einstellung zu Grunde liegende Fach, jedoch keine echte Lehramtsbefähigung. Nach Abschluss dieser Qualifizierung werden sie ins unbefristete Angestelltenverhältnis übernommen. In Grundschulen ist der Seiteneinstieg nur über die einjährige Pädagogische Einführung möglich. Denn Lehrerinnen und Lehrer an Grundschulen unterrichten in der Regel drei Fächer. Aus einem nicht-lehramtsbezogenen Studium lassen sich meist nicht drei Fächer ableiten.
Drittens: Seiteneinsteiger mit FH-Abschluss, die an Berufskollegs in Maschinenbau-, Elektro-, Fahrzeug- und Chemietechnik eingestellt werden, erwerben in einem Dualen Studiengang den Master of Education. Anschließend absolvieren sie einen 18-monatigen berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst und erwerben mit Bestehen der Staatsprüfung die Lehramtsbefähigung. Verbeamtung möglich.
Viertens: In der Sekundarstufe 1 ist auch der Seiteneinstieg mit einer fachspezifischen Ausbildung möglich, zum Beispiel mit einer Meisterprüfung. Von dieser Möglichkeit machen die Schulen eher selten Gebrauch, so das NRW-Schulministerium. (mk)