Gladbeck. Erschütternde Erfahrungen: Zeitzeugin Eva Weyl teilt ihre Erlebnisse aus der NS-Zeit mit Gladbecker Schülern. Geschichte bekommt ein Gesicht.
Mucksmäuschenstill ist’s in der Aula des Ratsgymnasiums in Gladbeck. Fast 90 Minuten lang. Die 89-jährige Eva Weyl erzählt den Neunt- und Zehntklässlern aus ihrem Leben, von der Flucht der Familie vor den Nationalsozialisten von Kleve nach Arnheim, von ihrer Kindheit im KZ-Sammellager Westerbork und von ihrem Wunsch, dass die Opfer und das Geschehen nicht vergessen werden.
Doch zunächst zollt die Niederländerin den Schülerinnen und Schülern Respekt für einen Videofilm, den die Jugendlichen zu Beginn des Jahres produziert haben und in dem sie Stellung zu Themen wie Gleichberechtigung, Demokratie oder Toleranz beziehen. Sie zeigen ihn zum Einstieg in die Veranstaltung. „Dieses Video ist so fantastisch“, sagt die 89-Jährige, die sich erst vor 16 Jahren dazu entschieden hat, Schulen zu besuchen und aus ihrem Leben zu berichten, um die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten.
Zeitzeugin Eva Weyl teilt ihre Erlebnisse mit jungen Menschen
„Bitte fühlt Euch nicht angegriffen“, stellt Eva Weyl zu Beginn klar. „Ihr seid nicht verantwortlich für die deutsche Vergangenheit. Aber Ihr seid verantwortlich für das, was man mit dem Wissen tut.“ Zur aktuellen politischen Situation will sie nicht Stellung beziehen. „Keine politischen Fragen“, sagt Weyl, die auch schon im vergangenen Jahr Gast an Gladbecker Schulen war. Aber welche Meinung sie zu Ausgrenzung, zu Hass, Intoleranz, Respektlosigkeit und Wegschauen hat, das wird an diesem Mittag im Ratsgymnasium mehr als deutlich.
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Die Eltern von Eva Weyl besaßen in Kleve ein Kaufhaus, flüchteten aber in die Niederlande, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. „Am Anfang“, sagt sie, „ist es nur ein Mobben.“ Mit Schildern wie „Deutsche kauft nicht bei Juden“ sollten die jüdischen Mitbürger aus dem Land vertrieben werden. 1935 kam Eva Weyl in Arnheim zur Welt. Als sie sechs Jahre alt war, musste die Familie ins Durchgangslager nach Westerbork, südlich von Groningen gelegen. Eigentlich sei es als Flüchtlingslager gebaut worden. „Die Nazis grenzten es mit einem Stacheldraht ein, und schon war es ein KZ“, so die 89-Jährige. „Wir durften nur das mitnehmen, was wir tragen konnten“, berichtet die Seniorin. Rollkoffer habe es damals nicht gegeben. Bücher und Spielzeug hätte sie zurücklassen müssen.
„Ihr seid nicht verantwortlich für die deutsche Vergangenheit. Aber Ihr seid verantwortlich für das, was man mit dem Wissen tut“
Der schlimmste Moment sei der Einzug gewesen, erinnert sich Eva Weyl. Es sei so kalt gewesen, den Insassen hätten nur dünne Matratzen zur Verfügung gestanden, überall habe es Ungeziefer gegeben. Für 375 Frauen und Kinder habe es nur drei Tische mit Stühlen gegeben. „Wir haben auf dem Bett gegessen. Es war so scheußlich, es war ganz, ganz schlimm.“ Eva Weyl: „Dass wir das überlebt haben, ist ein Wunder.“
Von Westerbork aus wurden die Juden in die Konzentrationslager im Osten deportiert. Eva Weyl und ihre Eltern konnten der Reise in den Tod mehrfach entgehen – teils durch glückliche Umstände. Ihre Mutter, erzählt sie den Schülerinnen und Schülern in Gladbeck, habe sie über das, was der Familie drohte, im Ungewissen gelassen. „Mach‘ dir keine Sorgen, Evchen“, habe sie gesagt, „wir fahren bald wieder weg.“ Das Lager sei eine Scheinwelt gewesen. Es sei zwar wie ein Dorf gewesen, sogar mit Revuen zur Unterhaltung, aber das Lager habe zu nichts anderem gedient, als die Insassen auf die Reise gen Osten und in den Tod vorzubereiten.
Und dann zeigt sie den Jugendlichen in der Aula im Ratsgymnasium einen Ring, den sie am Finger trägt. Ein ganz besonderer Ring. Ihre Mutter hatte Diamanten, die der Familie gehörten, mit Stoff ummantelt und als Knöpfe an den Mantel genäht. Die Juden mussten, am Lager angekommen, alle Wertsachen abgeben. Die Diamanten allerdings entdeckten die Aufseher nicht…
Später ließ die Mutter aus den wertvollen Steine Ringe fertigen. Sie werde ihren Ring nicht ihren Enkeln vermachen, kündigt Weyl an, sondern der Gedenkstätte Westerbork. Dort soll er die Besucherinnen und Besucher an die Geschichte und das Leben von Eva Weyl erinnern.
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Dass die Schrecken des Nationalsozialismus‘ nicht vergessen werden, das ist der 89-Jährigen ein Herzensanliegen. „Ich hoffe, dass ihr mithelfen wollt, die Opfer nicht zu vergessen“, sagt sie zu den Jugendlichen vom Ratsgymnasium. „Ich bin eine Zeitzeugin“, sagt die Seniorin aus Amsterdam, „aber ihr seid meine Zweitzeugen.“
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Am Freitag ist Eva Weyl zu Gast im Heisenberg-Gymnasium, in der kommenden Woche in der Anne-Frank-Realschule und in der Waldorfschule. Betreut wird sie vom Gladbecker Verein „Denk dran“, der regelmäßig auch Fahrten zum Lager Westerbork anbietet, in dem Eva Weyl mit ihrer Familie inhaftiert war.